Kapitel 40
Jedes Haar stellte sich mir auf, meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Ist er real oder nur eine Projektion, die unsere größten Ängste darstellt?
Ich wagte einen schnellen Blick zu Shane. Seine Augen waren schwarz. Also hatte er Nero überlassen.
Ich hörte ihn knurren. Das bedeutete, er konnte ihn auch in dieser Gestalt sehen. Unmöglich.
Ich wandte meinem Blick wieder zurück zu dem Neuankömmling. Diese kalten grauen Augen jagten mir eine Gänsehaut über meinen gesamten Körper. Ich hatte sie nicht vermisst. Ich wusste nicht, wie es möglich war, aber vor uns stand in seiner vollen Wolfsgestalt mein Vater. Er war ein riesiger brauner Wolf mit schwarzen und grauen Abzeichen.
Zu meiner Überraschung bewegte er sich nicht. Er stand einfach nur da und tat nichts. Vielleicht war er doch nur eine Projektion und nicht echt? Gerade in diesem Moment setzte er sich in Bewegung. Seine Zähne fletschten sich und er rannte auf uns zu. Ich wollte weg rennen, mich verstecken, denn in seinen Augen sah ich keine Gnade. Er würde mich in Stücke reißen und töten. Und das schien auch sein Ziel zu sein. Nero komplett ignorierend rannte er direkt auf mich zu. Seine grauen Augen fixierten seine Beute. Sie hatten mich fest im Blick.
Alle meine Instinkte versagten. Ich stand dort wie gelähmt. Irgendwo in meinem Hinterkopf schrie Lumina mich an, aber es war zwecklos. Ich stand dort wie erstarrt. Ich fühlte mich nicht mehr groß. Ich war wieder das 10-jährige kleine Mädchen, was alles für ihren Vater tun würde, damit er sie doch endlich liebte. Damit die Schmerzen auch aufhörten.
Ich hatte irgendwie die Kontrolle über meinen Körper wiedererlangt. Und ich tat das einzig logische, was mir in den Sinn kam. Flüchten. Gegen meinen Vater hatte ich keine Chance und das wusste ich auch. Ich drehte mich blitzschnell um und ergriff die Flucht. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Nero es mir gleich tat.
'Amy, was soll das? Diesen alten Knacker können wir doch leicht besiegen!', rief er mir in Gedanken zu. Ich schüttelte nur den Kopf und rannte weiter, als wäre der Teufel hinter mir her. Denn das war er auch. Ich hörte, dass er aufholte. Aber noch schneller rennen konnte ich nicht.
Lumina zitierte wieder die Inschrift der Tür. 'Bist du schnell, so lauf geschwind - denn der Schnellste nur gewinnt. Sehr gut Amy, hättet ihr gegen ihn gekämpft, hättet ihr verloren, aber das ist bestimmt der richtige Weg!', rief sie mir ermutigend zu.
Ich fasste neue Hoffnung, denn vor mir kam ein roter Punkt in mein Blickfeld. Die Fahne! Und wir liefen direkt auf sie zu! Ich hatte mich und Shane gerettet, so wie es mein Ziel war. Innerlich fing ich schon an zu jubeln. Ich stellte mir vor, wie ich wieder nach Hause kam und alles gut werden würde.
Ich war nur einen kleinen Moment unkonzentriert. Doch das reichte aus, um mich stolpern zu lassen. Ich spürte, wie ich hinfiel und wusste, dass ich verloren hatte. Aber das war in Ordnung, denn Shane würde es schaffen. Er würde die Fahne erreichen und dann als Sieger nach Hause heim kehren. Ich rappelte mich sofort wieder hoch, aber mein Vater war schon bei mir. Und er fing an, mich zu umkreisen. Es gab keinen Ausweg mehr. Denn er stand nun direkt vor mir und versperrte mir die Sicht auf die Fahne.
Dann fing er an zu reden. Seine Stimme rief unzählige schlechte Gefühle in mir hoch, die ich aber sofort verdrängte. "Na Amy, hast du mich vermisst?", fragte er mich teuflisch. Ich schluckte. Ich wusste schon immer, dass er mich hasste, aber ich habe mir das immer schön geredet. "Ich hatte gehofft, du würdest schon früher sterben. Leider hast du mir diesen Gefallen nicht getan. Wie immer. Jetzt muss ich das auch noch selber machen... Kann man sich denn gar nicht auf dich verlassen?" Er seufzte gespielt erschöpft. "Aber das macht mir nichts aus. Du warst mir sowieso immer nur eine Last. Es wird mir eine Freude sein, dich zu töten. Doch warum überlassen wir das nicht Shane? Es macht mir noch mehr Spaß, dich leiden zu sehen..."
Hinter ihm trat Shane hervor. Doch etwas stimme nicht mit seinen Augen - sie waren nicht normal rot sondern...
Entsetzt schnappte ich nach Luft. Das konnte nicht sein. Mein Vater hatte Shane unter seinen Alpha-Bann gesetzt. Wie war das möglich?
'Er ist zu stark für einen Alpha!', rief Lumina panisch. Sie hatte Recht. Normalerweise konnte man keine fremden Wölfe unter seinen Bann nehmen. Es sei denn...
"Verräter!", schrie ich meinem Vater entgegen. Wenn er überhaupt mein richtiger Vater war.
"Ah, wie ich sehe, hast du es auch endlich mal verstanden!", höhnte er. Ich schluckte. Der Mann der vor mir stand, konnte nicht mein Vater sein. Denn es fiel mir auf einmal alles wieder ein.
Mein richtiger Vater war tot. Umgebracht von dem Anführer des Dark-Moon-Rudels. Diese Bestie hatte dann den Platz meines Vater in unserem Rudel eingenommen. Aber ich war noch ein Kind, ich konnte das nicht verstehen. Meine Mutter hatte sich ihm unterworfen, um weitere Tote zu verhindern. In dem anderen Rudel übernahm sein Bruder die Führung. Es fing alles an, Sinn zu ergeben. Die Schlacht, aus der Shane mich gerettet hatte. Warum ich meinen Alpha hasste und er mich. Warum er mich jetzt umbringen wird. Er wird seinen Alpha Posten nicht abgeben, nur sein Bruder. Denn Shane wird der neue Alpha. Und ich werde sterben.
"Ich bin nicht dein Vater. Ich war es auch noch nie. Ich bin Varin, der Alpha des Dark-Moon-Rudels und des Moonlight-Rudels. Und das werde ich auch bleiben."
Mit diesen Worten stürzte sich Shane auf mich. Ich hatte kaum eine Chance, auszuweichen und entging daher nur knapp seinen scharfen Reißzähnen.
"Shane!", schrie ich verzweifelt. Doch er konnte mich nicht hören. Er war gefangen unter dem Alpha-Bann.
Varin sah belustigt aus. "Hm, einmal hat er dich verfehlt, das nächste Mal hast du keine Chance gegen meinen Sohn. Ich bin mir sicher, er würde dich auch umbringen, wenn er nicht unter dem Alpha-Bann stehen würde... So etwas wie dich kann man nicht lieben. Du bist schwach und hilflos."
Seine Worte taten mehr weh als ich zugeben wollte. Shane setzte schon für den nächsten Angriff an. Ich hatte ihn kämpfen sehen und gemeinsam mit ihm gekämpft. Ich wusste, dass ich keine Chance hatte. Aber Aufgeben war noch nie eine Option für mich. Shane sprang ab und flog geradewegs auf mich zu. Ich rollte mich nach rechts zur Seite und schaffte es, ihn von mir weg zu drücken. Ich hörte, wie er wütend fauchte.
"Shane! Ich werde nicht gegen dich kämpfen!", schrie ich den rasenden Wolf an. Doch er ignorierte mich. Ich spürte, wie Tränen in meine Augen stiegen. So wird es also enden. Verzweiflung machte sich in mir breit. Doch zum Glück war Lumina da, um mich aufzubauen.
'Gib niemals auf Amy! Wir werden ihn lange genug hinhalten, bis uns etwas einfällt!'
'Danke Lumina!' Ich schöpfte dadurch neue Kraft und wich Shane wieder aus. Doch Varin hatte es sich anders überlegt. Er kam auch von der Seite angesprungen und schubste mich mit aller Kraft gegen Shane. Ich verlor fast das Gleichgewicht. Shane nutzte diesen Moment um mich auf den Boden zu werfen. Ich hatte keine Möglichkeit, mich zu befreien. Varin hielt mich nach unten gedrückt und Shane stand drohend über mir.
"Los, töte sie!", schrie Varin Shane an. Shane bleckte seine weißen Zähne. Ich sah noch ein letztes Mal in seine Augen. Einst waren sie voller Liebe zu mir, jetzt voller Hass. Aber ich war ihm nicht böse, er konnte ja schließlich nichts dafür. Es war alles die Schuld von Varin.
Mit letzter Kraft hob ich meine Pfote und ließ sie zischend über sein Gesicht schnellen. Ich spürte, wie etwas warmes zwischen meinen ausgefahrenen Krallen hinunterlief und war stolz. Auf dem Gesicht von Varin waren vier rote Spuren zu erkennen. Aus ihnen quoll Blut. Das würde bestimmt Narben geben. Blut lief in sein rechtes Auge. Er schrie vor Schmerz auf. Der Schmerz machte ihn rasend. Mit aller Kraft biss er mir in mein Nackenfell und zog mich hoch. Heißes Blut lief mir über den Rücken. Ich jankte. Es waren Höllenqualen.
Varin bohrte seine Zähne in mein Fleisch. Ich spürte, wie Shane mich fixierte. Meine Kehle war teilweise entblößt, ich war gänzlich ungeschützt. Ein Biss würde reichen, um mich zu töten.
"Töte das Miststück!", knurrte Varin. Seine Zähne bereiteten mir immer noch schlimme Schmerzen, aber ich gewöhnte mich langsam dran. Shane war mein größeres Problem. Er hatte mich fest im Blick. Und dann schnappte er zu. Ich schloss die Augen. Ich wollte einfach nichts mehr sehen. Ich wollte nicht sehen, wie er mich tötet.
Ich erinnerte mich an zu Hause. An meine Freunde, mein Rudel, meine Mutter und Jackob. Ihnen allen hatte ich versprochen zurück zu kehren. Aber das schaffe ich nicht.
Ich spürte, wie sich seine Zähne um meine Kehle schlossen. Ihre Ecken berührten schon leicht mein Fell. Die Zeit verging wie in Zeitlupe. Der Druck der Zähne wurde größer und sie bohrten sich in meine Kehle. Jeden Zahn konnte ich fühlen. Ich schrie auf. Doch bevor sie meine Kehle ganzdurchbohrt hätten, hörte der Druck plötzlich auf. Und dann fiel ich. Varin hatte mich los gelassen.
Ich öffnete meine Augen wieder und sah Shanes Zähne im Hals von Varin. Blot quoll aus allen Seiten daraus hervor. Varin fing an zu röcheln, aber Shane ließ noch nicht los. Er packte noch fester zu und ich sah, dass Varin kurz vor dem Ersticken war. Sein Röcheln wurde panischer und lauter und aus seinem Maul quoll literweise Blut. Dann fiel er auf die Seite und blieb dort liegen. Nach ein paar Sekunden wurde seine Atmung schwächer und die Blutlache dafür immer größer.
Ungläubig sah ich wieder zu Shane. Dieser hatte seine normale schwarze Augenfarbe wiedererlangt.
"Shane...", flüsterte ich.
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