Kapitel 38
Shane sah mich einfach nur an. Wir mussten es beide nicht aussprechen, es stand einfach zwischen uns. Mit einem mulmigen Gefühl ging ich nun weiter. Meine größte Sorge war, dass das Blut noch frisch war. Jemand war vor kurzem hier gewesen.
Shane sah nun zur Tür. Sie war schwarz, wie ein schwarzes Loch.
"Man könnte meinen, wenn man hinein geht, käme man nie wieder heraus...", murmelte er.
Ich nickte.
"Ja, aber wir müssen es hinter uns bringen. Es hilft ja alles nichts."
Ich sah in Shanes Augen. Sie waren wunderschön. Doch ich erkannte etwas in ihnen, was mir Sorgen bereitete. Es war eine Emotion, eine unendlich tiefe Trauer. Ich wusste nicht, was sie auslöste, aber ich war überzeugt, sie zu heilen. Shane wird lebend hier heraus kommen, dafür werde ich sorgen.
Nun mit neuer Entschlossenheit ging ich auf die Tür zu. Ich suchte nach einem Griff, fand aber keinen. Also drückte ich mich mit meinem Gewicht dagegen. Ohne große Mühe flog die Tür auf. Ich flog schwungvoll hinterher, da ich mich verschätzt hatte. Hart landete ich auf dem staubigen Boden. Shane sprang sofort zu meiner Seite und half mir hoch.
"Geht es dir gut?", fragte er besorgt.
Mehr als ein Nicken brachte ich nicht zustande. Der Aufprall hatte mir die Luft aus den Lungen gequetscht. Ich musste husten. Nachdem ich wieder vernünftig Luft bekam, sah ich mich um. Wir standen in einer Art Eingangshalle. Direkt vor uns führte eine Treppe nach oben, links und rechts konnte man im schummrigen Licht Türen erkennen.
Doch es war etwas anderes, was meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Über der Treppe war ein riesiges Fenster. Darin war aus vielen bunten Mosaikteilchen ein riesiger Wolf gepuzzlet. Er war eine anmutige Schönheit. Wachend stand er auf einem großen Felsen, unter ihm, sanft in eine Höhle eingebettet, das restliche Rudel. Hinter ihm leuchtete der Mond in voller Fülle.
Doch nicht die Schönheit dieses Bildes war es, sondern das eine Detail, wohlverarbeitet, kaum sichtbar, wenn man nicht weiß, was man sucht.
"Die Fahne", rief ich und Shane sah mich verwundert an.
Sein Blick war auch von dem Fenster gefangen gewesen.
"Wo? Ich sehe sie nicht."
Ich musste grinsen.
"Wir sind hier richtig. Hier werden wir finden, wonach wir suchen.", prophezeite ich.
Shane runzelte die Stirn, aber als er das Bild betrachtete, wurde es ihm auch klar.
"Ja, ich sehe sie auch. Leicht zu übersehen, aber dennoch da."
Die Fahne war ebenfalls weiß, wie der Wolf selbst. Während er auf dem Felsen stand, konnte man sie nur leicht hinter ihm im Dickicht des Waldes erkennen. Die Fahne zeigte nach links.
Ich riss meinen Blick vom Fenster los.
"Komm Shane, wir haben es fast geschafft!"
Ich ging schnurstracks auf die Tür links von uns zu. Als ich ihr näher kam, bemerkte ich, dass auf ihr etwas eingraviert war.
"Bist du schnell, so lauf geschwind - denn der Schnellste nur gewinnt"
"Shane schau mal - hier ist eine Botschaft oder eine Art Hinweis, das solltest du dir auch mal ansehen!" Er kam näher und sah über meine Schulter. Ich sah, wie sich seine Augen bewegten und seine Lippen lautlos lasen. Und dann das Stirnrunzeln. Ich spürte, das etwas nicht stimmte, hatte aber keine Zeit zu fragen, weil er sich schon abgewandt hatte.
"Hier sind wir also am Ende - denke ich mal. Die Fahne hat auf die linke Tür gezeigt, also werden wir jetzt auch hier durch gehen. Ich weiß nicht, was uns da drüben erwartet..."
Ich wollte schon los und den Türgriff hinunter drücken, da hielt er meinen ausgestreckten Arm fest.
"Ich liebe dich."
Er sah mir intensiv in die Augen. Es hatte so eine durchdringende Intensität, dass es fast schon bedrohlich war.
"Ich liebe dich auch."
Kurz verharrte ich in seinem Blick, dann wendete ich mich ab und drückte mit einem krätigen Ruck die Klinke hinunter. Knarrend öffnete sich die Tür. Ich war überrascht, denn ich hatte nicht damit gerechnet, so etwas zu sehen. Es war wie eine graue Wand aus Nebel, die die Tür in ihrem Gesamtbild komplett ausfüllte. Man konnte nicht hindurch sehen, also wusste ich nicht, was dahinter lag.
Shane ging vorsichtig darauf zu und streckte seine Hand durch den Nebel. Wäre dieser ätzend gewesen, hätte er es jetzt gemerkt. Aber alles blieb normal. Er strich mich noch einmal mit seinem Blick und dann ging er durch die Nebelwand hindurch.
Der Nebel verschluckte ihn komplett. Einzelne Fäden quollen an der Stelle über, an der er eingetreten war.
Beinahe ängstlich blickte ich auf die Wand. Sie hatte sich nicht verändert und ich konnte Shane nicht mehr sehen.
"Shane?", riefen Lumina und ich fast zeitgleich.
Es kam keine Antwort. Lumina drängte darauf, hinterher zu gehen. Aber ich brauchte noch einen Moment, um mir eine Art Plan zurecht zu legen. Ich werde Shane retten. Koste es, was es wolle. Er wird nicht sterben. Irgendwie werden wir es schon schaffen, hier beide lebendig raus zu kommen.
Mit diesen letzten Gedanken trat ich auch in die undurchdringlich scheinende Masse. Der Nebel war kalt. Kalte Finger streichelten meine Arme und mein Gesicht, winzige Wassertröpfchen lagerten sich auf meiner Haut an und flossen dann in Tränen auf ihr herunter.
Ich sah nichts mehr. Zum Test hob ich meine Hand. Sie müsste jetzt weniger als zehn Zentimeter von meinem Gesicht entfernt sein, aber ich konnte sie wirklich nicht erblicken. Ein Schauer lief mir über den Rücken, aber ich weiß nicht ob vor Angst oder vor Kälte.
Mutig schritt ich einfach weiter. Es war theoretisch egal, wo mich das hinführte. Nur Shane war wichtig.
Ich rief noch einmal seinen Namen. Wieder keine Antwort.
Plötzlich sah ich einen Lichtkleks. Er war nicht größer als ein Glühwürmchen. Mein Gefühl sagte mir, ich sollte ihm folgen. Nur aus Interesse versuchte ich danach zu greifen, bekam aber nichts zu fassen.
'Das ist ja schließlich auch Licht', machte sich Lumina über mich lustig. Über meine eigene Dummheit überrascht lachte ich sogar noch darüber.
Eine Frage fing an, in meinen Gedanken Raum zu finden. Wo war Shane? Theoretisch sollte er mich hören können, wenn ich nach ihm rufe. Aber irgendwie ist er wie vom Erdboden verschluckt...
Dass das im Moment eigentlich mein geringstes Problem sein sollte, wurde mir erst dann klar, als ich plötzlich aus dem Nebel hinaustrat. Das war so überraschend, dass mich das Licht blendete und ich für einen kurzen Moment die Augen schloss.
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