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„Habt ihr alle in der letzten Woche einen eurer Slams ausgewählt?", ist die erste Frage, die ihre Lehrerin den Schülern stellt. Einige nicken eifrig. Rue ist schweigsam. Sie ist sich noch nicht sicher, welchen der beiden sie vorlesen kann. Sie sind beide besonders persönlich.
„Rue, magst du anfangen?", fragt die Lehrerin und reißt sie damit aus ihren Gedanken. Rue beschließt, einfach zufällig auszuwählen und nimmt den oberen in ihrer Mappe. Sie schaut kurz auf das Blatt, welches in ihrer Mappe liegt und atmet erleichtert auf. Erst in diesem Moment denkt sie, dass es die richtige Entscheidung ist, diesen zu wählen.
„Es ist ein Slam über das Fremd werden nach Beziehungen"
„Ein sehr interessantes Thema. Magst du dich vor die Klasse stellen und ihn uns vortragen?", fragt die Lehrerin und lächelt dabei.
„Haben uns tausend Mal gesehen, wie konnte diese Fremdheit nur entstehen?
Wir haben uns in- und auswendig gekannt, haben alles zusammen geplant.
Du kanntest jedes kleine Detail von mir und ich ebenso von dir.
Wir sehen uns an, wir schweigen uns an, können uns kaum in die Augen schauen, waren uns doch Mal so vertraut, hatten so unendlich viel aufgebaut.
Doch heute bist du ein Fremder, damals dachten wir Namensgeber unserer Kinder.
Wir reden nicht mehr miteinander und wissen eigentlich gar nichts voneinander.
Ich sehe dich auf Instagram, das alles ist doch Kinderkram. Die Posts sind das einzige, was man noch voneinander sieht und daraus eben seine Schlüsse zieht.
Doch dann frag ich mich wieder, wer du heute bist, ob du noch die gleichen Dinge gerne isst, ob du mich ebenfalls irgendwie, vielleicht auf die Selbe seltsame Art und Weise vermisst.
Ich frage mich, ob du mich noch kennst, ob du manchmal meinen Namen nennst, ob ich Mal in deinen Gedanken kreise, vielleicht auch nur ganz leise, in der hintersten Schublade deines Kopfes.
Ich sehe alte Chats, sehne mich nach dir und wünschte manchmal, dein altes ich wäre hier.
Ich krame in meinen Erinnerung, bei dir fand ich so viel Bestätigung.
Wenn wir in einem Raum sind, denkt man wir hätten uns nie gekannt. Und ich glaube, unser Problem sind einfach wir, wir haben zu viel zu sagen, ich zu dir und du zu mir. Und doch tun wir das ganze Thema lieber totschweigen. Ich denke einfach, dass keiner von uns die Stille brechen kann, denn keiner will der erste sein, der spricht.
Und anstatt das jemand etwas sagt, bleibt es immer totenstill.
Es ist so lange her und doch suchen wir noch immer nach den richtigen Worten, finden sie nie. Auf der Suche danach haben wir eigentlich schon vergessen, wer wir mal warn.
Und manchmal frage ich mich, ob man gefangen bleibt, in seiner Vergangenheit.
Du bist ständig Gast in meinen Gedanken, fühle mich manchmal wie einen Herzkranken.
Denn du hast es damals so sehr zerrissen, hast mich von meinen Beinen gerissen. Ich ging völlig unter, dafür bin ich heute umso bunter. Vielleicht brauchte ich das, du hast mich zu dem Menschen gemacht, darum verspüre ich keinen Hass. Ich möchte dir eher danken, denn manchmal schwebst du eben noch in meinen Gedanken. Doch das ist nicht verwerflich, denn du warst lange Zeit in meinem Leben, hauptsächlich. Und doch bist du heute ein Fremder, obwohl du Mal warst, im Kreis meiner Gedanken.
Und ich muss zugeben, dass ich mich gerne erinnere und es nicht verhindere, wenn ich dabei lächeln muss.
Ich denk an dich, und unterm Strich, vielleicht öfter, als ich sollte und vor allem öfter als ich wollte.
Nun kennen wir uns kaum, man kann ne Stecknadel fallen hörn, wenn wir sind im selben Raum.
Wir sind uns so verdammt fremd und miteinander so verklemmt.
Alle meinten, wir sollen es lassen, doch ich würde nicht sagen, dass wir uns hassen.
Wir hatten wundervolle Jahre, die ich gerne in Erinnerung bewahre.
Trotzdem würde ich sagen, dass die Vertrautheit zwischen uns ist längst begraben.
Wir waren so verliebt, doch irgendwann hat uns die Liebe besiegt.
Sag mir, wie soll man auch befreundet bleiben, wenn auf einmal alles zerbricht, in tausende von Glasscheiben.
So fremd wie jetzt, waren wir uns noch nie.", trägt sie ihren Slam vor. Nachdem sie den letzten Satz beendet hat, beginnen alle zu klatschen.
„Wow. Rue. Das war toll.", lobt die Lehrerin sie und sie ist ein wenig stolz auf sich.
"Es ist vielleicht etwas persönlich und du musst die Frage nicht beantworten. Hast du den Slam nach einer Trennung geschrieben?" , fragt Frau Dawson sie.
"Nein. Ich hatte noch nie eine Beziehung. Es sind einfach die Erfahrungen anderer, die ich zusammen geschrieben habe"
"Vielen Dank, Rue" , sagt sie.
„Danke. Kann ich mich wieder hinsetzen?", fragt Rue. Die Lehrerin nickt und sie sprechen noch eine Weile über den Slam, bevor jemand anderes einen vorträgt.
„Rue, kannst du noch einen Moment hierbleiben?", fragt die Lehrerin nach der Stunde. Rue verdreht die Augen und fragt sich, was sie nun schon wieder angestellt haben soll. Rue packt schon all ihre Sachen zusammen, bleibt aber an der Tür stehen.
„Mir hat dein Slam heute am besten gefallen. Ich habe hier etwas für dich, was eventuell etwas für dich sein könnte. Du hast großes Talent", lächelt die Lehrerin.
„Danke", bedankt Rue sich bei ihr und schaut auf den Zettel, den die Lehrerin ihr in die Hand gedrückt hat.
„Es ist ein Wettbewerb", erklärt sie.
„Vielleicht magst du mitmachen. Überlege es dir. Du kannst bestimmt gewinnen", fügt sie noch hinzu.
„Danke. Ich überlege es mir", antwortet Rue und verlässt grinsend den Raum. Sie hatte Talent. Vielleicht hatte sie es dadurch wieder gut gemacht. Immerhin hatten die beiden nicht den besten Start.
„Was hast du denn da?", fragt auf einmal jemand in die Stille hinein. Automatisch versteckt Rue den Zettel hinter ihrem Rücken. Niemand sollte wissen, dass sie an einem Wettbewerb teilnehmen wollte.
„Du hast mich erschreckt, Wyn!", gibt sie zurück.
„Hast du etwa Geheimnisse vor mir?", fragt er sie grinsend.
„Ich kann mich nicht daran erinnern, dass wir einen Pakt geschlossen haben, keine Geheimnisse voreinander zu haben, geschweige denn, dass wir Freunde sind", gibt sie zurück. Eigentlich will sie nicht mehr so gemein zu ihm sein, aber er sollte es wirklich nicht wissen. An seinem Gesicht sieht man, dass er nicht mehr mit solch einer Antwort gerechnet hat. Rue lässt ihn stehen und verkriecht sich in ihrem Zimmer und beschließt, nachzudenken. Doch als es ihr dort nicht gelingt, beschließt sie in die Buchhandlung zu fahren. Dort kann sie am besten nachdenken. Es ist inzwischen schon ihr Lieblingsort in dieser Stadt, obwohl sie noch nicht einmal drei Wochen an diesem Ort ist.
„Hallo, Rue", freut sich der Buchhändler. Inzwischen kennt er Rues Namen schon, denn sie hatte in den letzten Wochen einige Bücher gekauft.
„Schön, dich zu sehen", begrüßt Harry sie.
„Schön, dich zu sehen", antwortet sie lächelnd und zeigt auf das Sofa. Er nickt. Sie setzt sich darauf und schaut sich in der Buchhandlung um. Sie liebt diese Atmosphäre einfach.
„Kann ich dir behilflich sein?", fragt der alte Mann mit einem Mal, als Rue schon völlig in ihre Gedanken versunken ist.
„Dieses Mal mit keiner Bücherwahl. Ich muss eine Entscheidung treffen"
„Was für eine denn, wenn ich fragen darf?", lächelt er und seine Augen glänzen dabei. Er kam Rue von der ersten Sekunde an vertraut vor und auch dieses Mal ist es nichts anderes. Sie beschließt, ihm davon zu erzählen.
„Ich habe sozusagen eine Einladung erhalten. Ich gehe doch auf das Internat und bei der Kreativförderung habe ich den Kurs des Kreativen Schreibens belegt. Nun gibt es hier in der Stadt einen Wettbewerb. Meine Lehrerin meinte, ich könnte gewinnen."
„Und dann überlegst du noch?", fragt er grinsend. Rue nickt nachdenklich.
„Du willst doch einmal groß rauskommen, oder?", fragt er und Rue nickt noch einmal.
„Nimm teil. Auf jeden Fall. Ich kann dich doch nicht verpassen", grinst er und zwinkert ihr zu.
„Du würdest kommen?", fragt sie erstaunt.
„Ich bin so oder so da. Ob du kommst, oder nicht", sagt er herzlich lachend und geht schweigend wieder hinter den Tresen, weil ein neuer Kunde den Laden betritt.
Rue schaut sich den Zettel noch einmal genau an und sieht, wo der Slam stattfindet. Es ist hier, in dieser Buchhandlung. In diesem Moment ist ihr klar, dass sie daran teilnimmt. Hier fühlt sie sich am meisten verbunden mit ihrer Mutter. Sie wird daran teilnehmen. Es scheint, wie ein Zeichen zu sein, auf das sie gewartet hat.
„Danke, du hast mir sehr geholfen. Jetzt muss ich nur noch einen Slam auswählen", lächelt sie und verschwindet aus dem Laden, um wieder ins Internat zu fahren.
„Gern geschehen", grinst dieser.
Rue kommt noch einmal zurück, um ein Buch mitzunehmen.
„Ich hab die Verratenen durch. Kann ich den zweiten Teil bekommen?", fragt sie. „Bei der Aufregung hätte ich das fast vergessen", ergänzt sie atemlos.
„Klar, gerne. Ich hab mich schon gewundert, wieso du ohne Buch verschwindest.", grinst er und verkauft ihr den zweiten Band der Reihe. Wenn sie weiterhin so viele Bücher kaufte, würde sie sich bald einen Job suchen müssen. Im Internat angekommen geht sie durch ihre Notizbücher, in den sie die ersten Entwürfe, sowie die fertigen Ergebnisse geschrieben hat.
Am Ende entscheidet sie sich für den Slam, der über den Tod handelt. Sie hat auch einen über ihre Mutter geschrieben, doch die Buchhandlung war in der Nähe des Internates und es musste nicht jeder von dem Verlust wissen. Auch wenn ihre Mutter es verdient hätte. Immerhin fühlt Rue sich an diesem Ort am meisten mit ihr verbunden.
*
Es ist so weit. Heute würde Rue das erste Mal vor einem Publikum, welches nicht ihre Klasse war, welches nicht Hamburg war, einen ihrer Texte vortragen. Sie hatte die ganze Zeit geübt. Sie wollte noch besser sein, als in der Schulstunde. Im Endeffekt hatte sie sich doch noch über den Slam über ihre Mutter entschieden. Sie erwähnte nicht, dass es um ihre Mutter ging. Sie konnte, sie wollte ihn vortragen. Wegen ihrer Mutter. Sie hatte es verdient. Als sie sich auf den Weg zur Buchhandlung macht, steigt ihr Puls immer wieder erneut in die Höhe und die Aufregung wird stärker. Als sie sich der Buchhandlung nähert, greift sie nach ihrem Handy, welches sie inzwischen von der Lehrerin wiederbekommen hatte.
„Soll ich es wirklich tun?", ist das erste, was sie in das Telefon spricht.
„Was für eine blöde Frage!", antwortet ihre beste Freundin am anderen Ende.
„Ich hab verdammt viel Schiss. Was, wenn ich dem ganzen nicht gerecht werde?", fragt Rue sie.
„Du sprichst über deine Mutter, oder?", fragt Lyra vorsichtig. Rue nickt, ohne zu bemerken, dass es am Ende der Leitung nicht sichtbar ist.
„Ja", fügt sie noch schnell hinzu.
„Dann weiß ich, dass du gewinnen wirst. Und jetzt hau ab, sonst kommst du noch zu spät", erklärt sie und legt auf.
Rue schafft es in die Buchhandlung und dort beginnt Harry sie zu beruhigen. Sie ist schon früher gekommen, um die ganze Aufregung ein wenig abklingen zu lassen. Sie stellt sich schon einmal auf die Bühne und beginnt noch einmal den Text zu üben. Nachdem sie sich sicher ist, setzt sie sich auf das Sofa und schließt ihre Augen. Sie stellt sich ihre Mutter vor, wie sie im Publikum sitzt und ihr kommen die Tränen. Als die Tür des Ladens sich öffnet, wischt sie diese schnell weg. Sie blickt auf und sieht ihre beste Freundin.
„Was machst du denn hier?", fragt Rue freudestrahlend.
„Ich kann doch nicht den ersten Auftritt in Königsfelde meiner besten Freundin verpassen", grinst sie.
Die beiden umarmen sich herzlich und reden noch eine Weile, bis die ersten Gäste in den Laden strömen und der erste Slamer beginnt, seinen Text zu lesen.
„Scheiße, er ist verdammt gut", bekommt Rue wieder Schiss.
„Du bist besser", lächelt sie Rue an.
„Und das beweist du jetzt", sagt sie und stößt Rue an, damit diese sich auf die Bühne begibt. Sie ist als nächstes dran. Sie stellt sich auf die Bühne und atmet noch einmal tief durch.
„In diesem Gedicht, geht es um einen geliebten Menschen", erklärt sie, als sie die Leute anschaut. Man kann sie eigentlich kaum erkennen, dadurch dass das Licht Rue so sehr blendet.
„Erinnerungen sind, wie eine Kunstaustellung,
und unsere würd ich gerne einrahmen.
Ich erinnere mich gern,
auch wenn sie so fern,
sind, die Momente mit dir.
An die guten und die Schlechten,
mehr so an die Echten.
Erst wollte ich es nicht wahrhaben,
dachte, dein Körper kann doch nicht von der einen auf die andere Sekunde versagen.
Ich hielt noch deine warmen Hände,
begriff nicht, es war das Ende.
Du warst schon lange krank,
und ich wünschte mir in diesem Moment,
jeden einzelnen Zank,
von uns weg.
War so voller Wut,
all mein Mut,
von dir aufgebaut, zerbrochen.
Doch dann habe ich gelernt,
du bist für immer fort.
Und habe eine Mauer gebaut,
aus dieser tiefen Trauer heraus.
Irgendwann hab ich gelernt es zu akzeptieren,
nachdem ich gelernt hab, es nicht mehr zu ignorieren.
Trotzdem hab ich jeden Tag Angst, dein Gesicht zu vergessen, den Klang deiner Stimme zu vergessen
habe schon immer ein Foto von dir in meinem Geldbeutel besessen,
nun trage ich es immer an mir.
Ich vermisse alles an dir, dein Essen,
all deine Delikatessen.
Deine Haut war so weich,
dafür habe ich noch nicht einmal einen Vergleich.
Du hast alles für mich gemacht,
auf dich war immer Verlass,
hast stark auf mich Acht gegeben.
Du hast damals meine Welt erhellt,
mit deinen Geschichten, mit deinem Lachen, deinen Blumen in deinem Garten.
Du bist die, die ich jeden Tag vermiss.
Ich vergesse dich nicht,
nie dein Gesicht,
habe immer noch gespeichert, jede einzelne Nachricht.
Lese sie immer wieder durch,
Höre nachts all deine Sprachnachrichten,
Du warst mein größter Held,
auf der großen weiten Welt.
Doch in dieser Nacht
hattest du einfach
keine Kraft
mehr.
Ich fühlte mich zerbrochen, wie in einem Puppenhaus,
kam aus meiner Trauer nicht mehr heraus.
Ich fühle mich so oft allein,
komm doch bitte herein,
in meinem Herzen ist immer Platz für dich.
Ich gebe auch jedes Glück der Welt,
zurück, um dich zu sehen. Nur ein einziges Mal noch.
Ich hab dich immer lieb. Ich liebe dich, und ich weiß,
du mich ebenfalls.
Du warst so stark, als ich neben dir lag.
Ich werde dich immer vermissen.", trägt Rue ihren Slam mit lauter Aufregung und Schmetterlingen im Bauch vor. Nachdem sie zu Ende gesprochen hat, beginnen alle zu klatschen und Rue verbeugt sich. Sie verlässt die Bühne mit einem Lachen. Sie hat ihre Mutter gespürt. So nah, wie schon lange nicht mehr. Sie hat das Gefühl, dass sie zugehört hat.
„Du warst klasse", erwidert ihre beste Freundin und umarmt sie.
„Ich fand dich auch Klasse", erwidert eine tiefe Stimme, und als Rue sich danach umdreht, steht Wyn vor ihr.
„Hast du mich eben etwa gehört?", fragt Rue nun voller Verzweiflung.
„Ja, und das war wirklich toll. Du hast Talent", will er sagen, doch bevor er zu Ende sprechen kann, ist sie aus der Buchhandlung verschwunden. Er würde eins und ein zusammen zählen und ihr ganzes Inneres kennen. Sie war noch nicht so weit. Sie wollte ihre Vergangenheit mit keinem Menschen aus ihrer Zukunft teilen.
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