28
Die ganzen Informationen von gestern hat Rue erst einmal sacken lassen und eine Nacht darüber geschlafen, bevor sie nun früh morgens ihren Vater anruft.
"Dad, ich muss am nächsten Wochenende zu dir kommen! Ich muss dich unbedingt etwas fragen! Aber das geht nicht am Telefon!" , erklärt Rue.
"In ein paar Tagen ist doch eh Heiligabend. Da bist du sowieso hier. Kann es nicht bis dahin warten?" , fragt er.
"Nein. Ich muss das vor Heilig Abend wissen. Kann ich vorbei kommen? Oder magst du herkommen?" , fragt Rue.
"Ich kann auch zu dir kommen, wenn dir das lieber ist"
"Kannst du so schnell wie möglich kommen, bitte?"
"Meine Güte, Rue. Was ist denn passiert?" , fragt er.
"Das kann ich dir nicht am Telefon erzählen!" , beharrt sie.
"Okay, ich bin in ein paar Stunden bei dir!"
"Rue, was machst du da?" , fragt Raven von der anderen Bettseite aus.
"Ich telefoniere mit meinem Vater, er kommt her" , erklärt sie.
"Wieso kommt er her? Du wolltest doch zu dem Vorstellungsgespräch gehen"
"Was für ein Vorstellungsgespräch?"
"Sag Mal, ist das da?" , fragt Raven und zeigt auf Rues Kopf. "Ein Sieb?"
"Wir waren gestern auf dem Reiterhof und du wolltest einen Job. Heute hat sie dir ein Vorstellungsgespräch angeboten"
"Oh scheiße, um wie viel Uhr?" , fragt sie.
"Gleich nach der Schule"
"Scheiße, da kommt auch mein Dad" , stellt sie fest.
"Sag ihm ab"
"Das kann ich nicht. Ich muss etwas wichtiges mit ihm besprechen"
"Ist dir das wichtiger als der Job?" , fragt Raven.
"Um ehrlich zu sein, ja"
"Soll ich das Vorstellungsgespräch absagen?" , fragt sie.
"Nein. Ich geh hin! Ich brauche den Job!"
"Und wer kümmert sich so lange um deinen Vater?"
"Du?" , fragt Rue.
"Nein, ich muss zu meinem Pferd"
"Dann frage ich Wyn"
*
Nach der Schule beeilt sich Rue total, dass sie pünktlich zu dem Gespräch kommt, doch vor der Schule kommt ihr ihr Vater gerade entgegen.
"Rue, wo willst du denn jetzt hin?"
"Ich hab jetzt ein Vorstellungsgespräch. Kannst du auf mich warten?" , fragt sie.
"Rue, wirklich jetzt? Ich habe mir heute extra Urlaub deswegen genommen!"
"Tut mir wirklich Leid, Dad. Aber das ist wichtig. Sollte ich nicht immer Verantwortung übernehmen?" , fragt sie.
"Aber doch nicht so: Das ist eher das Gegenteil!" , ruft er ihr noch hinterher, doch sie ist schon um die Ecke gebogen. Rues Vater ärgert sich immer noch über seine Tochter, als er in ihrem Zimmer ankommt und die ganzen Bücher in dem Regal anschaut, die in der einen Seite des Zimmers stehen.
"Hallo Mister" , begrüßt Wyn ihn.
"Du hast mich jetzt aber erschreckt" , erklärt er Wyn lachend und die beiden setzten sich in die Cafeteria, um auf Rue zu warten.
"Weißt du, was meine Tochter von mir will?" , fragt er.
"Nein, ich weiß nur, dass es ganz dringend ist und ich sie auf keinen Fall gehen lassen darf. Und wenn ich sie festketten muss, hat Rue gesagt"
"Du tust echt alles für sie, was?" , lacht Rues Vater und Wyn nickt.
*
Nach ein paar Minuten ist Rue schon wieder völlig außer Atem bei dem Reitstall angekommen.
"Bist du immer fast zu spät?" , fragt die Frau.
"Die Hauptsache ist doch, dass ich nicht zu spät bin" , antwortet Rue schlagfertig.
"Da haben Sie recht"
"Kommen Sie bitte mit in mein Büro. Ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen"
Nachdem Rue wieder aus dem Büro heraus ist, ist sie völlig verschwitzt. Sie hatte noch nie ein Vorstellungsgespräch und hat es sich auch nicht so anstrengend vorgestellt. Die Frau war einfach nur eine blöde Ziege. Eigentlich wollte Rue schon gar nicht mehr hier arbeiten, aber sie hatte die Stelle tatsächlich bekommen. Auf dem Rückweg geht sie noch einmal ihre Pro- und Contra-Liste durch. Absagen würde sie immer noch können. Pros waren, dass der Stall nicht weit entfernt war, sie das Geld brauchte und Raven so gut wie immer in ihrer Nähe sein würde. Contras waren die blöde Ziege. Aber Rue ist sich noch nicht einmal sicher, ob die blöde Ziege in ihrer Nähe sein würde, wenn sie arbeiten würde. Ihre Aufgaben würden ihr an ihrem ersten Tag erklärt werden. Nun musste sie allerdings schnellstens zurück, denn länger konnte sie ihrem Vater nicht warten zu lassen und sie wollte ihm auch endlich von ihren neusten Entdeckungen erzählen. Dazu, es Harry zu sagen, war sie bisher noch gar nicht gekommen.
"Hey, Dad!" , sagt sie und umarmt ihn zur Begrüßung.
"Jetzt brauchst du aber wirklich eine große Ausrede, um wieder gut zu machen, dass du mich mindestens eine Stunde hast warten lassen"
"Aber du hattest doch gute Gesellschaft" , sagt sie und lächelt Wyn an.
"Ja, gut. Das stimmt. Wyn und ich verstehen uns" , grinst ihr Vater.
"Das ist gut. Wyn und ich sind jetzt nämlich zusammen"
"Glückwunsch" , erwidert ihr Vater. "Aber dafür hast du mich jetzt nicht so dringender Weise herbestellt, oder?" , fragt ihr Vater.
"Nein, wegen etwas anderem" , sagt sie und setzt sich neben ihren Vater. Aus ihrem Rucksack holt sie das Fotoalbum, welches die alte Dame ihr freundlicherweise geliehen hat.
"Erkennst du die Frau auf dem Fotos, Dad?" , fragt sie ihren Vater.
"Das Kind sieht aus, wie du. Aber das kannst du nicht sein. Wer ist der fremde Mann?" , fragt er.
"Das Kind, das ist Mum!", erklärt Rue. Als sie den Namen ihrer Mutter genannt hatte, ist der alten Dame wieder sehr viel eingefallen.
"Woher hast du das Album?", fragt ihr Vater nun, mit Tränen in den Augen.
"Von der alten Dame aus dem Cafe" , erklärt sie.
"Das auf dem Bild ist ihr Vater, Dad"
"Harry" , erwidert ihr Vater.
"Ja, genau. Er hat hier den kleinen Buchladen"
"Du kennst ihn?"
"Ja, aber er weißt noch nicht, dass ich sein Enkelkind bin, welches er so gerne kennen lernen würde"
"Dabei warst du es doch, weshalb deine Mutter und er sich zerstritten haben. Ich fand das immer furchtbar, obwohl ich ja eigentlich der Grund war und er mich nicht ausstehen konnte"
"Vielleicht sieht er das ja heute anders" , erklärt Rue voller Hoffnung. Sie wollte Harry noch immer überraschen.
"Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist, Rue.." , zweifelt ihr Vater nun.
"Aber du fandest es doch doof, dass Mum und er zerstritten waren?" , fragt Rue.
"Ja, aber Mum ist nicht mehr da"
"Und wir kennen deinen Opa doch überhaupt nicht mehr"
"Ich kenne ihn schon. Er hat sich verändert, Dad"
"Okay, ich treffe ihn. Aber erst einmal, ohne dass wir sagen, dass du meine Tochter bist"
"Einverstanden" , freut Rue sich.
Rues Vater, Rue und Wyn machen sich gemeinsam auf den Weg in die Buchhandlung. Ihr Vater hatte sich so sehr verändert, dass Harry ihn noch nicht einmal wiedererkennt. Die drei gehen getrennt in den Buchladen hinein. Erst kommen Wyn und Rue hinein, so wie sie es immer tun und ein paar Minuten später kommt ihr Vater schließlich hinein, um sich von Harry beraten zu lassen.
Rue und Wyn flüstern in einer Ecke.
"Ich kann es immer noch nicht fassen, dass Harry dein Opa ist"
"Ich auch nicht, vor allem, dass es so lange nicht herausgekommen ist. Ich dachte immer, mein Opa wäre tot"
"Kann ich euch helfen?" , fragt auf einmal eine tiefe Stimme. Es ist Harry. Sie beiden erschrecken sich total.
"Nein, wir müssen auch schon wieder" , sagen die beiden und verschwinden, als sie merken, dass auch Rues Vater inzwischen den Laden wieder verlassen hat. Sie setzten sich in das kleine Cafe und bringen der Dame das Fotoalbum zurück.
"Und, was machen wir? Was hältst du von ihm?" , fragt Rue.
"Ich habe ihn ja jetzt nur als Kunde kennengelernt. Aber er scheint sich wirklich verändert zu haben. Ich habe auch gesehen, wie er mit euch umgeht. Von mir aus können wir ihn kennenlernen."
"Ist es okay, wenn wir ihn zu Weihnachten einladen?" , fragt Rue.
"Rue!" , ermahnt ihr Vater sie.
"Ich weiß, was für ein schrecklicher Tag das ist!" Und gerade deshalb will ich ihn bei mir haben. Für ihn ist es auch ein schrecklicher Tag. Und er ist ganz alleine"
"Okay, okay. Überredet" , sagt ihr Vater nach einer Weile und Rue schreibt in ihrer schönsten Schrift eine Einladung an Harry. Immerhin ist in ein paar Tagen Weihnachten.
*
"Schau Mal, Rue. Was ich gefunden habe!" , freut sich Harry. Es ist der Brief, den Rue ihm geschrieben hat.
"Was ist das?" , fragt sie, als würde sie von nichts wissen.
"Ein Brief. Von meinem Enkelkind, eine Enkeltochter habe ich. Ich soll mit ihnen Weihnachten feiern!" , sagt er.
"Und gehst du hin?"
"Ich habe schon ein bisschen Angst"
"Aber warum denn?"
"Weil ich sie doch gar nicht kenne. Und dem Vater konnte ich doch auch nicht ausstehen. Sie wissen doch nicht, dass ich mich verändert habe. Warum kommt dieser Brief gerade jetzt?" , fragt Harry sich und denkt laut nach. All seine Gedanken scheinen um ihn herum zu schwirren.
"Das wird bestimmt toll" , erklärt Rue ihm. Die Tage rücken immer näher, bis Rue schließlich an Heiligabend aufwacht und sich das erste Mal seit sie sich erinnern kann, wieder auf diesen Tag freut.
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