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Am nächsten Tag hat Rue ihren ersten Schultag an diesem Internat. Sie überhört ihren Wecker, den sie sowieso nicht hatte hören wollen und macht sich eine Stunde zu spät auf den Weg in die Klassenräume.
„Rue Adams, oder?", fragt der Lehrer sie, als Rue ohne zu Klopfen in das Zimmer kommt. Sie hebt ihren Kopf nicht und starrt weiterhin auf ihre Füße, ohne etwas zu sagen.
„Man hat mir schon berichtet, dass du ein bisschen eigen bist", erklärt der Lehrer und zeigt ihr, wo sie sich setzen kann. Wyn. Doch sie hatte nicht vor, einen Aufstand zu machen und die Aufmerksamkeit aller am ersten Tag zu erregen. Obwohl sie die wahrscheinlich durch ihr Zu Spät kommen sowieso schon hatte. Der Tag geht schleichend langsam vorbei und im Unterricht hört Rue gar nicht zu. Alles, was sie im Unterricht haben, hatte Rue schon an ihrer alten Schule. Das meiste konnte sie schon – auch wenn es sie nicht die Bohne interessierte. Sie holt ein Buch aus ihrem Rucksack und beginnt zu lesen. Den Lehrer stört es nicht – immerhin sind sie angeblich alle freiwillig hier. Alle, außer Rue. Sie wäre überall auf der Welt lieber, als auf diesem scheiß Internat.
Nachdem die letzte Stunde endet, nimmt sie ihren Rucksack und schultert ihn. Sie wäre vor allen anderen weg gewesen, wenn Wyn sie nicht am Ärmel ihres Mantels festgehalten hätte.
„Was willst du?", fragt sie genervt.
„Ich habe eine Band. Wir spielen heute Abend und ich wollte dich fragen, ob du vielleicht kommen magst", erklärt er.
„Eine 1 Mann Band, oder was?", fragt Rue und rollt mit den Augen.
„Nein, mit meinem besten Freund. Es würde mich freuen, wenn du kommst"
„Wo spielt ihr denn?", fragt sie. Vielleicht würde dies wenigstens gut werden. Und Rue würde ein wenig von der Gegend kennenlernen. Ob sie hingehen würde, würde sie heute Abend spontan entscheiden. Da sie nicht lange bleiben würde, müsste sie die Gegend hier auch nicht kennenlernen. Und Freunde wollte sie ebenfalls nicht finden.
„Am großen Marktplatz. Ich kann ihn dir gleich zeigen, wenn du möchtest", bietet er an.
„Ich komme schon alleine klar", erwidert sie und verschwindet schnell. Nachdem sie ihre Schulsachen in ihrem Zimmer gelagert hat und sich ihr Skateboard greift, begibt sie sich auf den Ausgang zu.
„Wo wollen Sie denn hin?", fragt Rue jemand, als sie mit ihrem Board unter dem Arm durch die große Eingangshalle des Internates geht
„Sind wir hier im Knast, oder was?", fragt sie die Lehrerin, die Rue nun streng anblickt.
„Wir müssen wissen, wo ihr seid", erwidert sie.
„Ich habe keine Ahnung, wo ich hingehe. Ich kenne hier nichts, bin neu", erklärt sie und verdreht die Augen.
„Soll ich dir die Stadt zeigen?", fragt sie.
„Ich komme alleine klar. Und von dir lasse ich mir bestimmt als letztes die Stadt zeigen", erklärt Rue der Lehrerin.
„Sie", erwidert sie.
„Was?", fragt Rue verdutzt.
„Du hast mich geduzt"
„Du mich auch. Am Anfang hast du mich gesiezt und dann geduzt. Kann ich genauso", erwidert Rue und zieht sich ihre Kopfhörer über den Kopf, um zu verschwinden. Als Rue über den Schulhof skatet, sieht sie am Außengelände ein Schild. Es ist eines dieser Schilder, auf dem steht, dass Rauchen hier verboten sei. Sie zündet sich demonstrativ eine Zigarette an und holt eine Spraydose aus ihrem Rucksack. Rue macht sich einen Spaß daraus und fügt zu dem 'No Smoking ' noch etwas hinzu. Sie grinst, als sie mit ihrem Werk zufrieden ist und drückt die Zigarette daran aus. Sie nimmt sich ihr Skateboard und macht sich auf den Weg in die Stadt, welche nicht weit entfernt zu sein scheint.
Das erste Mal fallen Rue die alten Gebäude der Stadt auf und einen Augenblick später steht sie auf einem großen Platz. Sie schlussfolgert, dass dies der Marktplatz sein muss. Sie dreht sich einmal um die eigene Achse und entdeckt Wyn. Der hat ihr gerade noch gefehlt.
„Du scheinst es gefunden zu haben", erklärt er grinsend.
„Offensichtlich", erklärt sie.
„Du musst Rue sein", erklärt ein anderer Junge, der neben Wyn sitzt.
„Ich bin Niv", erklärt dieser und hält Rue die Hand hin. Diese steckt die Hände in ihre Jackentaschen, ohne ihn zu begrüßen. Niv zieht seine Hand zurück. Die Fischermütze auf seinem Kopf und das Mikrofon in seiner Hand sind die ersten beiden Dinge, die Rue an dem Jungen auffallen. An Wyn waren es die schulterlangen Haare und sein blödes Grinsen. Obwohl Rue zugeben muss, dass Wyn ziemlich schöne Zähne hat.
„Und die hast du echt eingeladen?", fragt Niv seinen besten Freund, als wenn Rue nicht mehr daneben stehen würde. Niv gefällt ihr besser, als sein Kumpel. Wenigstens besitzt er ein wenig Schlagfertigkeit. Rue beschließt, Wyn den Gefallen zu tun, heute Abend zu dem Gig zu kommen. Sie sieht sich noch ein wenig in der Stadt um und entdeckt einen alten Bücherladen. Sie beschließt, hineinzugehen, denn ein neues Buch würde zwar ihrem Konto, nicht aber ihrer Büchersammlung schaden. Vielleicht konnte die Zeit in Königsfelde doch erträglich werden - wenigstens ein bisschen. Als Rue im Internat ankommt, zündet sie sich noch eine Zigarette an.
„Hast du das Schild nicht gelesen?", fragt die Lehrerin, die Rue ihre Zigarette hat austreten sehen.
„Welches Schild?", fragt sie scheinheilig.
„Am Zaun vorne. Dass Rauchen verboten ist"
„Das steht da nicht", antwortet Rue und nutzt die Gelegenheit, um im ersten Stock zu verschwinden. Die Lehrerin läuft zum Zaun und Rue sieht sie sich grinsend aus dem Zimmer an. Sie regt sich deutlich darüber auf, denn sie holt den Direktor. Es wäre Rue sogar recht, wenn sie sie erwischen und dafür rausschmeißen würden. Kurz darauf füttert sie Lyron, ihren Raben. Rues Zimmernachbarin kommt herein und sieht sie an.
„Ist was?", fragt Rue, als sie nicht aufhört zu starren.
„Es ist nur – dieses Tier", sagt sie voller Ekel.
„Lyron bleibt hier. Bevor er auszieht, ziehst du aus"
„Wäre mir nur Recht", erklärt sie und verschwindet wieder. Sobald sie aus dem Zimmer ist, packt Rue die Sachen von dem Mädchen, dessen Namen sie immer noch nicht kennt, in die beiden Koffer, die unter dem Bett liegen. Nachdem sie fertig gepackt hat, stellt sie die beiden Koffer vor die Tür und macht sich schließlich auf den Weg auf das Konzert, zu dem sie eingeladen wurden ist. Als Rue dort ankommt, begrüßt Wyn sie stürmisch. Er will sie umarmen, doch sie blockt ab.
„Nur weil ich hier bin, heißt es nicht, dass wir Freunde sind", stellt sie fest und setzt sich auf einen der Stühle.
„Ziemlich trauriges Konzert, was?", fragt Rue die beiden. Wyn und Niv scheinen völlig allein zu sein.
„Wyn wollte dich schon eher her bestellen, was ich für eine dumme Idee halte, aber gut. Nun bist du hier"
„Ich kann euch auch nicht leiden", sagt Rue lächelnd und holt ihre Zigarettenschachtel heraus, die sie sich auf dem Weg noch gekauft hat.
„Wollt ihr auch eine?", frage Rue, weil die beiden sie ansehen, als wäre Rue nicht ganz dicht, ihnen keine anzubieten.
„Nein. Ich rauche nicht", erklärt Wyn.
"Wer raucht, ist blöd" , fügt Niv hinzu.
Auch Niv schüttelt den Kopf. Rue hat das Gefühl, dass Wyn alles dafür tun wird, mit ihr zu reden und Niv alles dafür tun wird, kein einziges Wort mit ihr zu reden. Sie wird sich einen Spaß daraus machen und versuchen, nur Niv Fragen zu stellen.
„Wie alt bist du eigentlich, Niv?", stellt Rue ihre erste Frage.
„Geht dich nichts an"
„Findest du mich deshalb toll?", fragt sie Wyn schließlich nach einer Weile, sie sie ausschließlich versucht hat, mit seinem besten Freund zu reden.
„Was?", fragt dieser verdutzt. Es ist die erste Frage seit einer halben Stunde, die Rue ihm stellt.
„Weil ich das Ebenbild von deinem besten Freund bin."
„Er ist genau wie ich", stelle Rue fest.
„Deshalb mag er dich wahrscheinlich auch nicht", stellt Wyn fest.
„Kann ich verstehen", antwortet Rue und das erste Mal scheint etwas in Nivs Augen zu leuchten. Weiter kommen die drei mit ihrer Unterhaltung jedoch nicht, denn die ersten Gäste tauchen inzwischen auf und das kleine Konzert beginnt. Rue muss zugeben, dass die beiden wirklich gut sind. Die Leute tanzen und Wyn und Niv machen echt Stimmung. Alle lachen. Sogar Rue muss einige Male grinsen. Die beiden tanzen, auch wenn es albern aussieht. Dadurch, dass die beiden solchen Spaß an der Musik haben, ist das ganze schon wieder cool. Wyn spielt Gitarre und die beiden singen. Sie sind komplett aufeinander abgestimmt. Alle anderen tanzen und singen mit. Die beiden müssen in dieser Stadt schon echt erfolgreich sein, denn die Leute kennen alle Texte von ihnen. Die einzige, die am Rand steht und nicht lachend mittanzt, ist Rue. Aber sie hört die Texte und die beiden auch das erste Mal.
Nachdem das Konzert zu Ende ist, kommt Wyn auf sie zu.
„Und, wie findest du es?", fragt er, seine Gitarre noch um.
„Ihr wart okay", gibt Rue zu.
„Nur okay. Warst du auf einem anderen Konzert, als ich?", fragt er und sie muss leider grinsen.
„Ha, ich hab dich zum Lachen gebracht!", ruft er.
„Lachen war das allemal nicht", gibt sie zurück und ist nun wieder ernst. „Ich muss zugeben, dass ihr gut wart. Und ich muss mich für die Einladung bedanken", erklärt sie.
„Jetzt werde aber nicht gleich nett"
„Tut mir Leid", antwortet sie und ihr Gesicht zeigt, wie vorher, keine Regung mehr.
„Ich muss dann auch zurück", erwidert Rue.
„Wir dürfen heute alle länger draußen bleiben. Wegen dem Konzert"
„Die Ausgangsspeere interessiert mich einen Dreck", ruft Rue noch und macht sich auf den Weg ins Internat. Als sie in ihrem Zimmer ankommt, denkt sie an den Abend zurück. Wenn es solche Events öfter gibt, ist es hier wohl doch auszuhalten. Vielleicht würde es auch Veranstaltungen geben, wo sie ihre Slams vortragen könnte. Wie damals in Hamburg. Sie muss an ihren Vater denken und wie es ihm in diesem Moment wohl gerade geht. In diesem Moment wird sie angerufen.
„Wenn man vom Teufel spricht", begrüßt Rue ihren Vater.
„Ich hab dich auch lieb, Süße. Wie ist es im Internat?", fragt er.
„Könnte besser sein"
„Oh"
„Könnte aber auch schlimmer sein"
„Das freut mich", erwidert er. Die beiden reden noch eine Weile, bevor es an Rues Tür klopft.
„Mach verdammt noch Mal die Tür auf und lass mich rein", ruft jemand hysterisch.
„Sorry, Dad. Ich muss Schluss machen", erwidert Rue und legt auf, bevor er noch weitere Fragen stellen kann.
„Ich dachte, du wolltest hier nicht mehr wohnen", schmeißt Rue dem Mädchen entgegen.
„Es war keine Einladung, mich rauszuschmeißen!", kreischt sie.
„Ich dachte, du willst keine Sekunde mehr hier mit mir und meinem Raben verbringen"
„Lass mich sofort wieder rein. Und wieso hast du überhaupt meine Sachen mit deinen dreckigen Fingern angefasst?", fragt sie Rue.
„Ich weiß nicht, wovon du redest", stellt sie sich dumm. Sie schaut sich ihre Hände an, die tatsächlich noch voller Sprayfarbe sind.
„Ich gehe jetzt zum Direktor", motzt sie und auf einmal ist es wieder totenstill. Nachdem sie wieder ankommt, redet sie vor Rues und ihrer Tür mit dem Direktor. Eigentlich wäre es noch ein weiterer Grund, weshalb man Rue bald rausschmeißen könnte, aber es macht zu viel Spaß, diese blöde Ziege zu ärgern.
„Sie will mich nicht mehr reinlassen. Sie hat meine Koffer gepackt und mich rausgeschmissen", erklärt sie dem Direktor.
„Und wo sind deine Koffer?", fragt er.
„Eben standen sie noch hier", sagt sie.
„Ich sehe keine gepackten Koffer", erklärt dieser und öffnet die Zimmertür. Ohne Schwierigkeiten.
„Siehst du. Ist doch alles an Ort und Stelle", erklärt dieser, als er sich umsieht. Rue liegt auf ihrem Bett und liest ein Buch.
„Du Schlampe!", ruft sie und will auf Rue losgehen.
„Ruhig, Solche Ausdrücke wollen wir hier nicht hören. Du darfst morgen nachsitzen", erklärt dieser ruhig , als er sie zurückhält, damit sie nicht auf Rue losgeht. Rue hat all ihre Sachen wieder an Ort und Stelle gepackt. Zumindest so, damit es so aussieht, als wenn alles wie immer wäre. Nachdem der Direktor gegangen ist, beschimpft sie Rue noch eine Weile, aber diese ist schon wieder in ihrem Buch vertieft, sodass sie gar nicht mehr hinhört. Rue hatte eine Menge Spaß, dieser blöden Tusse eine Lektion zu erteilen. Nun wusste sie, dass Rue sich nichts gefallen lässt. Als sie nach einer Weile immer noch tobt, als wenn Rue ihr ein Bein ausgerissen hätte, nimmt sie sich die Kopfhörer und lässt Musik abspielen. Danach ruft sie ihre beste Freundin an und berichtet ihr von ihrem neuem Leben und der Zimmernachbarin.
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