16
Nachdem Rue ihr Gestädnis abgegeben hat, sind ein paar Wochen vergangen. Sie ist dran, den nächsten Ausflug zu planen, wobei man das, was sie geplant hat, wohl eher nicht als Ausflug bezeichnen würde. Sie hat eine Gruppe herausgesucht. Eine Selbsthilfegruppe, wenn man es ganz genau nimmt. Für Menschen, die geliebte Menschen verloren haben. Sie hat sie im Internet gefunden und will nicht alleine hingehen. Sie klopft vorsichtig an Wyns Zimmertür. Sie weiß nicht, wie er die Idee finden wird, aber sie weiß, dass er sie auf jeden Fall unterstützen wird, wenn sie das möchte. Sie weiß nicht, was für eine Herausforderung dies für ihn ist.
"Hey, da bist du ja. Alles okay?", begrüßt er sie.
"Magst du mitkommen?"
"Entführst du mich zu unserem nächsten Ausflug?" , fragt er.
"Kann man vielleicht so nennen"
"Wo geht es denn hin?"
"In ein Krankenhaus"
"Aber du hasst doch Krankenhäuser?" , fragt er verwirrt.
"Deshalb brauche ich dich ja auch"
Nach einer Weile sind sie an dem Krankenhaus angekommen und Rue lügt, noch einmal auf die Toilette zu müssen. Wyn soll schon einmal vorgehen. Sie zündet sich erst einmal eine Zigarette an, findet aber kein Feuer. Sie weiß, dass Wyn dies nachher riechen würde, aber es ist ihr egal. Sie muss es in ihrer anderen Jacke haben, kramt aber dennoch weiter. Sie braucht diese Zigarette.
„Brauchst du Feuer?", fragt auf einmal ein junger Mann neben ihr.
„Ja, danke", sagt Rue.
„Ist alles okay bei dir?", fragt er, als er ihr das Feuerzeug hinhält.
„Meinst du wirklich, wenn ich in einem Krankenhaus warte, sei ich okay?", fragt sie, weil es irgendwie eine bescheuerte Frage ist. Auch wenn bei ihr alles okay ist. Mehr oder weniger zumindest, stellt man diese Frage keinen fremden Meschen, die in einem Krankenhaus sind. Das ist unsensibel.
„Stimmt. War eine blöde Frage. Tut mir Leid", lächelt er.
„Schon okay. Du wolltest wahrscheinlich einfach nur nett sein. Aber ich werde ehrlich gesagt lieber in Ruhe gelassen"
Vor einem Jahr hätte Rue den jungen Mann wahrscheinlich patzig angemacht, doch durch Wyn hatte sie Manieren gelernt und war definitiv nicht mehr so griesgrämig, wie damals.
„Willst du wirklich keine Ablenkung?"
„Woher willst du wissen, dass ich Ablenkung brauche? Aber einfach nur so aus Interesse, aus was besteht denn deine Ablenkung?
„Schach spielen"
„Ich kann kein Schach spielen. Und ich glaube nicht, dass du es mir beibringen kannst"
„Darf ich fragen, was passiert ist? Du siehst nicht so aus, als wenn du hier sein müsstest?"
„Man sieht nicht immer danach aus", sagt sie, denn es passt ihr nicht, dass er solche intimen Fragen stellt.
„Bist du in der Psychiatrie?"
„Vielleicht habe ich ja jemanden umgebracht", sagt Rue und verschwindet wieder im inneren des Krankenhauses, nachdem sie ihre Zigarette auf dem Boden ausgetreten hat. Es waren fünf Minuten Ablenkung, die sie gebrauchen konnte, bevor sie sich auf ihren inneren Zusammenbruch vorbereitet. Sie braucht einen Moment, um den Raum zu finden, in dem klassich ein Stuhlkreis aufgestellt ist. Wyn sieht sie ernst an.
"Wo warst du denn so lange?" , fragt er und im nächsten Moment verzieht er das Gesicht.
"Du warst rauchen"
"Tut mir leid. Stressige Situation und so" , versucht sie sich zu erklären.
"Wollen wir uns setzen?"
"Ich finde es hier irgendwie seltsam"
"Einen Versuch ist es doch wert, oder?" , fragt er.
"Wir können jederzeit gehen und du musst auch nie wieder kommen"
"Okay" , sagt Rue und lässt sich darauf ein. Nach einer weiteren viertel Stunde beginnt der Leiter der Gruppe schließlich zu sprechen. Er beginnt damit seinen Namen zu nennen und zu sagen, wen er verloren hat. Ein paar Minuten zu spät kommt der junge Mann, den Rue beim Rauchen getroffen hat. Sie verdreht die Augen, als er sich neben sie setzt. Der hatte ihr gerade noch gefehlt.
"Setzt sich woanders hin" , zischt sie.
"Und was wenn nicht?" , fragt er.
„Dann prügele ich dich krankenhausreif"
„Dann ist ja gut, dass wir schon in einem Krankenhaus sind"
„Ich würde aufpassen. Rue macht keine Scherze. Sie verprügelt dich wirklich", sagt Wyn grinsend. Der junge Mann steht tatsächlich noch einmal auf und das Schaben der Stuhlbeine zieht alle Aufmersamkeit auf ihn.
"Tut mir Leid, die junge Dame möchte leider nicht neben mir sitzen" , sagt er und setzt sich neben den Gruppenleiter. Nun sitzt er genau gegenüber von Rue, was genauso schlimm oder vielleicht sogar noch schlimmer ist, als vorher.
"Na vielen Dank auch", nuschelt sie vor sich hin.
Der junge Mann stellt sich als Bob vor.
"Hi. Ich bin Bob und ich habe meine Mutter an Krebs verloren. Und wie man vielleicht sieht, blüht mir wohl das gleiche Schicksal, denn Gott hat vor, uns alle zu töten. Mich wohl etwas früher, als andere. Fakt ist aber, dass wir am Ende alle sterben"
"Warum rauchst du?", fragt Rue, nachdem er seinen Satz beendet hat.
"Weil ich schon aufgegeben habe"
„Aber wieso?"
„Weil ich schon viel zu lange hier bin"
„Hattest- Hattest du es öfter?"
„Ja. Und deshalb will ich mir jetzt auch nichts mehr verbieten. Ich weiß nicht, wie lange ich noch zu leben habe"
„So sollten vielleicht alle denken. Wenn auch nicht mit dem Rauchen. Denn Rauchen ist scheiße"
„Aber du rauchst doch?"
„Aber wir alle wissen nicht, wie lange wir noch zu leben haben"
Rue hat in der Stunde nicht über ihre Mutter gesprochen. Dafür braucht sie noch Zeit. Sie weiß nicht, ob sie noch einmal wiederkommen wird. Vielleicht hat das ganze ihr geholfen. Sie hat keinen blassen Schimmer. Als die beiden endlich rauskommen, atmet Rue die frische Luft ein.
"Wie fandest du es?", fragt Wyn.
"Ich kann es ehrlich gesagt nicht einschätzen und du?"
"Ich glaube, es hat mir irgendwie geholfen. Vielleicht gehe ich nochmal hin. Auch wenn du nicht mitkommen willst"
„Ich bin grottenschlecht in Mathe", erklärt Wyn danach. Er brauchte ein wenig Normalität in diesem Gespräch.
„Ich hasse Krankenhäuser"
„Das ist ein Fakt, denn du schon genannt hast"
„Ich habe noch nicht zu Ende gesprochen"
„Ich hasse Krankenhäuser- Doch für dich würde ich jederzeit eines betreten"
Nach einer Woche findet die Selbsthilfegruppe tatsächlich noch einmal statt und Rue hat sich überlegt, dass sie nicht noch einmal hingehen will. Sie hält es in Krankenhäusern einfach nicht aus.
"Möchtest du mitkommen?" , fragt Wyn, bevor er vorhat, aufzubrechen. Sie weiß zwar nicht, was dahinter steckt, weshalb er zu diesem Gruppen geht, aber sie glaubt, dass es mit dem seltsamen Verhalten von vor ein paar Wochen zutun hat. Sie entscheidet, ihm Zeit zu geben. Auch wenn sie beste Freunde waren, hatten sie Geheimnisse voreinander, was völlig okay ist.
"Nein. Aber wenn du Unterstützung brauchst, frag doch Niv"
"Ich komme schon alleine klar" , sagt Wyn traurig lächelnd.
"Wirklich?" , fragt Rue.
"Ja"
Niv und Rue begegnen sich auf dem Flur des Internates.
"Hey" , fragt Rue. "Hat Wyn dich gefragt?"
"Wonach?"
"Ob du mit ihm ins Krankenhaus gehst?" , fragt sie.
"Nein, warum? Wieso will er ins Krankenhaus und wieso soll ich mitkommen?" , fragt er.
"Zu einer Selbsthilfegruppe, für Menschen, die geliebte Menschen verloren haben" , erklärt sie.
"Hat er es dir erzählt?" , fragt Niv erstaunt.
"Nein, aber ich hasse Krankenhäuser und deshalb dachte ich, er kann dich fragen, falls er seelische Unterstützung braucht. Ist ja doch ganz schön heftig"
"Ich weiß, warum er mich nicht gefragt hat. Ich mag Krankenhäuser auch nicht besonders."
„Das letzte Mal, als ich in einem Krankenhaus war, war als meine Tochter geboren wurde. Und daran habe ich nicht gerade gute Erinnerungen", erklärt er.
Maeryn ist Nivs Ein und Alles. Seine Liebe des Lebens. Der Tag ihrer Geburt war der Schönste seines Lebens, doch er hatte auch schlechte Erinnerungen daran, denn die Mutter von Maeryn wäre dabei fast gestorben.
„Das tut mir Leid"
„Ich habe auch schlechte Erinnerungen an Krankenhäuser. Aber ich war trotzdem da. Also irgendwie war es meine Idee. Es war aber nichts für mich. Aber ist doch schön, dass es einem von uns was gebracht hat"
Nach dem kurzen Gespräch betritt Rue das Zimmer, in dem Raven an ihrem Schreibtisch sitzt.
„Alles okay?", fragt diese, als Rue in das Zimmer kommt.
„Wir haben nicht geredet, seit- du weißt schon"
„Du kannst es ruhig sagen"
„Seit wir so etwas wie Freunde geworden sind?", fragt sie unsicher.
„Meinst du, wir sind Freunde?", fragt Rue ruhig.
„Sind wir es? Ich weiß es nicht", stottert sie.
„Ich glaube, wir sind am Anfang einer Freundschaft. Du hast mir zugehört, als keiner da war"
„Ich kann auch jetzt zuhören. Natürlich nur, wenn du magst" , erklärt Raven.
„Wie ich sehe, hast du es tatsächlich niemanden erzählt"
„Nein, warum sollte ich?"
„Weil einige Gerüchte über dich kursieren"
„Über dich auch" , entgegnet Raven.
„Tut mir Leid, dass ich dich verurteilt habe, obwohl ich dich nicht kenne" , erklärt Rue.
„Schon okay", antwortet sie."Das machen die meisten"
"Ich sollte eigentlich diejenige sein, die am wenigsten andere verurteilt, wegen irgendwelchen bescheuerten Gerüchten"
„Wie geht es Wyn?", fragt Raven nun.
„Warum interessiert dich das?", fragt Rue.
„Weil ich Wyn mag. Irgendwie zumindest. Und ihr eine Menge Zeit zusammen verbringt"
„Wirklich?"
„Ja. Jeder hier mag ihn. Er und Niv sind wohl die Stimmungskanonen auf jeder Party"
„Das wusste ich gar nicht"
„Weil du keine Partys magst", lächelt sie. „Aber ich mag sie auch nicht besonders. Niv überredet mich trotzdem jedes Mal", lacht Raven.
„Stimmt"
„Magst du Wyn vielleicht auch mehr?" , fragt Raven.
„Was soll das denn heißen?"
„Bist du in ihn verliebt?"
„Ich glaube nicht" , antwortet Rue.
„Du glaubst, oder du weißt?"
„Keine Ahnung. Also ich mag ihn. Und ich mache mir auch Sorgen geum ihn und alles. Aber, wenn ich ehrlich bin, war ich noch nie verliebt. Woher weiß man das denn?" , fragt Rue.
„Noch nie?"
„Noch nie" , antwortet Rue.
"Ich war erst einmal verliebt. So richtig doll"
„Wow. Woher kommen diese ganzen Gerüchte über dich?" , fragt Rue.
„Das erkläre ich dir wohl besser ein anderes Mal", sagt sie und dreht sich zur anderen Seite, um zu schlafen. Rue tut es ihr gleich und fällt in einen unruhigen Schlaf. Sie träumt von ihrer Mutter. Sie hatte ganz am Anfang immer und immer wieder den gleichen Traum aus der Nacht, in der ihre Mutter gestorben ist. Auch jetzt wacht sie wieder auf und schreit.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro