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„Danke", bedankt Rue sich bei Wyn, als er ihr den Joghurt reicht, den er aus der Kantine mitgebracht hatte. Die beiden sind Abendessen und zum Nachtisch gab es manchmal eine Kleinigkeit. Rue ist allerdings vorgegangen, weil sie noch einige Hausaufgaben vorbereiten musste.
„Jetzt mach doch erst einmal eine Pause", versucht Wyn es noch einmal.
„Nein. Ich hab eben schon eine Pause gemacht. Abendessen, wenn du dich erinnerst", gibt Rue zurück und löffelt nebenbei den Joghurt immer mal wieder.
„Du bist aber noch nicht fertig mit essen", gibt Wyn zurück.
„Du nervst", sagt Rue und verdreht wieder ihre Augen.
Wyn pikst nun allerdings immer wieder in Rues Seite, sodass sie es nach einer Weile aufgibt und ihn anblickt, während sie gemeinsam essen.
„Wir müssen auch noch das Referat fertig machen"
„Dazu haben wir doch noch ewig Zeit", behauptet Wyn.
„Es ist übermorgen. Und wir haben fast noch gar nichts"
„Eben. Noch jede Menge Zeit"
„Ich meine es ernst, Wyn"
„Bevor du hergekommen bist, waren meine Noten total schlecht", erklärt Wyn.
„Dann essen wir jetzt auf. Ich gebe dir eine Aufgabe und du verschwindest, um diese zu tätigen. Danach kommst du wieder her"
„Ich habe eine bessere Idee. Wir gehen zum Kamin und machen dort gemeinsam unsere Aufgaben", versucht er es.
„Und du lenkst uns nicht ab?", fragt sie misstrauisch.
„Ich verspreche es. Aber erst aufessen", erklärt er und nimmt noch einen Löffel.
Nachdem die beiden aufgegessen und den Müll weggeschmissen haben, bewegen die beiden sich mit einem Haufen Stapel Büchern auf den Kamin zu. Dort sitzt zum Glück noch keiner, also werden sie ihre Ruhe haben. Der Kamin brennt sogar. Sie setzten sich an den Tisch davor und beginnen, ihre Aufgaben zu machen. Nachdem die beiden fertig sind und beschließen, für heute Schluss zu machen, muss Rue ihn sogar loben. Er hatte sich auf seine Aufgaben konzentriert und sich nicht ablenken lassen.
„Vielleicht sollten wir öfter herkommen. Wollen wir noch aufs Dach?", fragt Rue.
„Ja. Das Dach ist mein Lieblingsort", erklärt Wyn und die beiden machen sich auf den Weg dorthin. Als die beiden auf dem Dach ankommen und herausklettern, antwortet Rue auf seinen Kommentar.
„Die Buchhandlung ist mein Rückzugsort", stellt sie fest.
Inzwischen ist es spät geworden und besonders kalt.
„Wollen wir reingehen?", fragt Wyn nach einer Weile, die sie zu zweit auf dem Dach gesessen haben.
„Auf jeden Fall. Ich friere mir den Arsch ab", grinst Rue und die beiden machen sich auf den Weg nach drinnen.
*
„Wyn! Wyn!", ruft Rue am nächsten Morgen aufgeregt und klopft an seiner Tür.
Er öffnet diese verschlafen.
„Was ist denn?", fragt er. Heute hatten sie keine Schule, sodass er eigentlich ausschlafen wollte, doch da macht Rue ihm einen Strich durch die Rechnung.
„Es hat geschneit!", freut sie sich.
„Ja, und?", fragt er.
„Lass uns bitte Schlitten fahren gehen!", freut sie sich. In diesem Moment war Rue wie ausgewechselt. Sie scheint ein anderer Mensch zu sein. Der Schnee macht sie wirklich richtig glücklich. Da kann Wyn es ihr nicht abschlagen.
„Hast du denn einen Schlitten?", fragt er. Nun wirkt sie enttäuscht, als sie den Kopf schüttelt.
„Wir finden bestimmt einen im Keller", erwidert er. „Oder wir nehmen eine Plastiktüte"
„Lass uns in zehn Minuten treffen. Ich zieh mich eben an, okay?", fragt er lächelnd und schließt die Tür, um sich fertig zu machen. Nachdem er wieder bei Rue ist, beschließen sie, den ganzen Keller abzusuchen.
„Ich war noch nie hier", stellt Rue fest.
„Ist auch kein besonders schöner Ort", erklärt Wyn.
Nach einer viertel Stunde geben sie es auf, denn sie finden keinen Schlitten.
„Lass uns wieder nach oben gehen. Das alles hier hat doch keinen Sinn", erwidert Rue.
„Aber du hast dich doch so gefreut"
„Ist schon okay", sagt sie, doch er erkennt in ihrer Stimme, dass es sie mehr mitnimmt, als sie zugeben möchte.
„Lass uns in einer halben Stunde vor dem Internat treffen, okay?", fragt er. Sie nickt und verschwindet. Wyn macht sich währenddessen auf den Weg zur Buchhandlung und Harry hat tatsächlich noch einen alten Schlitten aus der Zeit, als seine Tochter ein Kind war.
Als Wyn wieder am Internat ankommt, steht Rue schon davor und wartet auf ihn. Sie hat eine Zigarette in der Hand, die sie schnell ausdrückt und in den Mülleimer wirft, als sie Wyn in der Ferne sieht.
„Woher hast du den Schlitten denn?", fragt sie mit leuchtenden Augen.
„Harry", lächelt er.
„Harry ist echt der Beste. Du bist echt der Beste", sagt sie und umarmt ihn stürmisch.
„Setz dich", grinst Wyn und Rue setzt sich auf den Schlitten, um von Wyn durch die Straßen gezogen zu werden, die das erste Mal seit Jahren wieder voller Schnee sind, sodass man rodeln gehen kann.
„Du bist großartig!", freut Rue sich.
„Komm, jetzt kann ich dich auch mal ziehen", sagt sie und die beiden tauschen die Plätze.
„Da entlang", lotst Wyn sie, denn er kennt einen guten Berg, von dem die beiden rodeln könnten.
„Wow. Wyn", gibt Rue wieder, als die beiden angekommen sind.
„Ich kann es nur wiederholen. Du bist großartig!", erklärt sie. Die beiden schieben den Schlitten auf den großen Berg, setzten sich zusammen auf den Schlitten und rodeln bestimmt hundert Mal herunter.
„Jetzt wird mir langsam aber echt kalt", sagt Wyn.
„Echt? Du meintest doch noch zu mir, dass ich mich dick anziehen soll", grinst Rue.
„Ja, meine Füße sind eiskalt. Aber wir sind bestimmt auch schon eine Stunde draußen"
„Okay, dann lass uns langsam zurück. Du kannst mich ja ziehen. Dann wird dir wieder warm", lächelt Rue.
„Komm, setz dich", sagt er und die beiden rodeln noch ein letztes Mal den Berg hinunter, bevor Wyn sie den Weg zum Internat zieht.
„Harry hat gesagt, wir können den Schlitten später zurück bringen", sagt Wyn, als die beiden wieder im Internat sind und er den Schlitten vor seine Zimmertür stellt.
„Soll ich dir einen Tee machen?", fragt Rue und die beiden gehen gemeinsam in die Kantine, um sich ein wenig aufzuwärmen.
„Ja, bitte", sagt er und setzt sich hin, um seine dicke Jacke auszuziehen.
Nach einer Weile kommt Rue mit zwei verschiedenen Tassen zurück und die beiden setzten sich wieder vor den Kamin, um sich ein wenig aufzuwärmen.
„Wieso magst du den Schnee eigentlich so gerne?", fragt Wyn nach einer Weile.
„Rodeln macht doch einfach Spaß", erwidert sie.
„Stimmt. Ich hatte heute jedenfalls eine Menge Spaß", erklärt er.
„Viel besser, als deine seltsame Party", neckt sie ihn.
„Ja, ich weiß, dass du keine Partys magst. Aber du magst eine Menge nicht. Erstaunlich, dass du den Schnee magst", erwidert er.
„Was magst du denn noch, außer den Schnee?", fragt Wyn sie.
„Ich mag Hamburg. Ich mag Zigaretten. Ich mag meine beste Freundin. Ich mag skaten. Ich mag meinen Raben. Ich mag Regen. Ich mag Poesie. Ich mag Kinder. Ich mag Musik. Ich mag Bücher. Ich mag dich"
„Du magst Musik?", fragt er.
„Ja, vor allem deine", erklärt sie.
„Dann komm mit", sagt er und zieht sie an einer Hand in sein Zimmer. Den Tee haben sie inzwischen ausgetrunken und stellen die leeren Tassen nun auf seinen Schreibtisch. Sie legen sich in sein Bett, unter die warme Bettdecke und er holt sein Handy heraus. Einer der beiden Kopfhörer gibt er Rue und die beiden lauschen der Musik, die daraus ertönt.
Rue muss lächeln, als Lieblingsmensch von Namika ertönt. Sie dreht sich auf die Seite und schaut ihm in die Augen.
„Dich mag ich besonders", sagt sie lächelnd. Danach kommen ein paar der Songs, die Rue schon von Wyn und Niv kennt. Sie schließt die Augen und lauscht der Musik. Danach kommt ein Song, den Rue noch nie gehört hat.
„Ist das ein neuer Song von euch?", fragt sie.
„Ja", grinst er und sieht ein bisschen stolz aus.
„Der ist absolut der Hammer!", erklärt sie.
„Danke", sagt Wyn und wirkt auf einmal schüchtern.
„Was magst du denn?", fragt Wyn.
„Ich mag dich. Ich mag Musik. Ich mag Katzen. Ich mag Niv. Ich mag Königsfelde. Ich mag die Buchhandlung. Ich mag Bücher. Ich mag Kinder. Ich mag Regen. Ich mag das Dach.", antwortet er.
„Ich mag eine Sache mehr als du. Na, wer ist jetzt die Negativität in Person?", grinst Rue.
„Du hast wirklich mitgezählt?", fragt er grinsend und sie nickt.
„Okay. Gegenfrage. Was magst du nicht?", fragt er.
„Willst du etwa vom Thema ablenken?", fragt sie.
„Vielleicht", erwidert er.
„Ich mag keine Partys. Ich mag keine Nachrichten. Ich mag das Gefühl von Labello nicht. Ich mag keinen Alkohol. Ich mag keine Achterbahn fahren. Ich mag keine Krankenhäuser. Was magst du nicht?", fragt sie.
„Ich mag kein Mathe. Ich mag meine Nase nicht. Ich mag kein Fleisch. Ich mag keine Tabletten. Ich mag keine Flugzeuge. Ich mag das Meer nicht", erwidert er.
„Siehst du. Wir sind ungefähr gleich Negativ. Ich glaube, wir sind uns ähnlicher, als du zugeben willst", erklärt sie.
„Aber warum magst du deine Nase nicht?", fragt sie.
„Sie ist viel zu groß"
„Ich mag deine Nase. Sie passt perfekt in dein Gesicht!", erwidert sie und schaut sich sein Gesicht an. Dabei streicht sie über seine Nase.
„Wieso magst du keine Nachrichten?", fragt Wyn.
„Ich hasse es, Nachrichten zu schauen, weil nur grausame Dinge passieren", erklärt sie.
„Stimmt. Magst du denn WhatsApp-Nachrichten?", fragt er.
„Kommt drauf an, von wem sie sind", grinst sie.
„Und ich habe eine Idee, was wir im Sommer machen", grinst er.
„Du bekommst mich in keine Achterbahn!"
„Und wenn du mich zwingen solltest, dann zwinge ich dich zu drei Stunden Mathe am Stück!", lacht sie.
„Weißt du was?", flüstert Wyn nach einer Weile, die die beiden sich einfach nur ansehen und die Musik ihrer gemeinsamen Playlist noch im Hintergrund leise auf ihren Ohren zu hören ist.
„Nein, was denn?", fragt Rue.
„Ich bin froh, dich zu haben", flüstert er.
„Ich bin auch froh, dich zu haben", flüstert sie zurück.
„Wollen wir heute Abend noch einmal aufs Dach, oder frierst du dir dann den Arsch ab?", fragt Wyn.
„Du hast dir deinen Arsch abgefroren.", lacht sie. Immerhin war Wyn es, der nach Hause wollte, weil ihm zu kalt war.
„Wenn wir eine Decke mitnehmen, werde ich mir meinen schönen Arsch nicht abfrieren", lacht Wyn und schnappt sich eine der Decken. Rue nimmt sich ebenfalls eine und die beiden machen sich auf den Weg, um das Dach des Internates wieder unsicher zu machen. Die beiden passten immer unheimlich auf, dass niemand die beiden dabei sah, wie sie auf das Dach kletterten, denn es war ihr einsamer, ihr gemeinsamer Ort, denn sie nicht mit anderen teilen wollten. Die beiden hatten ihn gemeinsam entdeckt und durch diesen Ort war ihre Freundschaft erst entstanden.
„Lass uns ein Spiel spielen", sagt Rue nach einer Weile, als die beiden in die Decken eingehüllt auf dem Dach sitzen und in den Sternenhimmel schauen.
„Was für eines denn?", fragt Wyn.
„Das ist das Frage-Spiel."
„Und wie geht das?", fragt Wyn.
„Ich stelle dir eine Frage, diese musst du dann beantworten und anschließend darfst du mir eine Frage stellen, okay?", fragt sie. Wyn nickt.
„Soll ich anfangen?", fragt Wyn. Rue nickt.
„Welchen falschen Eindruck haben Fremde oft von dir?", fragt er.
„Okay. Ich habe beschlossen, dass ich es mag, dieses Spiel mit dir zu spielen. Du stellst wenigstens kreative Fragen."
„Wieso, was haben die anderen denn gefragt?", fragt er.
„Naja, so typische Fragen, die man auch bei Wahrheit oder Pflicht oder so stellt", erklärt sie.
„Andere denken oft, ich wäre unnahbar. Dass ich total unfreundlich bin. Dass ich niemals mit ihnen reden würde. Dass ich seltsam bin.", versucht sie es ihm zu erklären.
„Naja, mein erster Eindruck von dir war auch nicht der Beste", grinst er. „Du tust auch eine Menge dafür, dass die Leute das von dir denken. Aber jetzt bist du dran, mir eine Frage zu stellen"
„Wenn du drei Pillen hättest, welche von diesen würdest du nehmen? Wenn du die blaue nimmst, dann könntest du fliegen. Wenn du die orangene nimmst, dann bekommst du eine Million Euro. Wenn du die rote Pille nimmst, triffst du die Liebe deines Lebens.", fragt Rue ihn nun und er muss einen Augenblick schlucken.
„Die Blaue", antwortet er entschlossen.
„Warum?", fragt sie.
„Weil ich gerne fliegen können würde"
„Warum nicht die orangene oder die rote?", fragt sie.
„Das sind jetzt aber schon drei Fragen", stellt er fest.
„Ich beantworte dir die Frage danach auch", erwidert sie.
„Okay, weil ich fest daran glaube, dass ich die Liebe meines Lebens eines Tages treffen werde", sagt er. „Und die orangene – Naja, dann habe ich einmal eine Million Euro, aber wenn diese aufgebraucht sind, habe ich nichts mehr. Und fliegen kann ich für immer."
„Da hast du recht", stellt sie fest. „Ich würde auch die blaue nehmen. Am Ende hat diese die meisten Vorteile. Wie du schon meintest, das Geld ist irgendwann aufgebraucht. Und bei der roten hätte ich immer das Gefühl, dass es irgendwie erzwungen ist. Beziehungsweise, woher weißt du, dass es die Person ist. Und du weißt nicht, ob es auch hält. Es verspricht dir nichts."
„Okay, nun bin ich wieder dran", sagt er.
„Was macht dich wirklich glücklich?", fragt Wyn sie.
„Du. Schlitten fahren. Meine Gedichte. Meine beste Freundin."
„Wann hast du Mal so richtig Glück gehabt?", fragt sie nun.
„Das möchte ich nicht beantworten", sagt er, als ihm sofort ein Ereignis in den Kopf schießt, an das er denken muss.
„Warum denn nicht?", fragt sie.
In diesem Moment steht er auf und geht, ohne sich zu verabschieden. Er nimmt seine Decke und steigt aus dem Fenster. Er verschwindet. Rue sitzt noch eine Weile auf dem Dach, um darüber nachzudenken, warum er so schnell verschwunden ist.
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