ZWÖLF - Vince
Mein Kopf fühlt sich leer an, als ich auf das Display starre. Ich setze an, um ihr zu antworten, aber meine Finger zittern zu sehr.
Sie möchte mit dir reden. Du hast endlich die Möglichkeit, ihr alles zu erklären.
"Vince", zischt East und wirft mir einen warnenden Blick zu. Ich lasse mein Handy unter meinen Unterlagen verschwinden und beuge mich über mein Arbeitsheft, um keine Aufmerksamkeit zu wecken.
"Sie möchte sich treffen", wispere ich und starre auf die Zahlen und Buchstaben vor mir. Die Parabeln sind mir im Moment herzlich egal. Ich spiele mit meinem Bleistift und taste nach meinem Handy. Das Display leuchtet noch immer, die Nachricht von Judy nach wie vor da.
Also war es keine Einbildung. Sie hat wirklich geschrieben.
"Judy?", flüstert mein bester Freund. Ich nicke aufgeregt und kann nicht anders, als zu lächeln. Mein Herz hüpft aufgeregt in meinem Brustkorb umher und ich spüre ein nervöses Kribbeln in meinen Fingern.
Der Tag gestern, der Besuch bei Toby, die katastrophale Physio bei Sam - all das scheint mit einem Male wie weggeblasen.
East schenkt mir ein halbherziges Lächeln und beugt sich dann wieder über seine Gleichung. Und tut einfach so, als wäre nichts passiert. Als hätte ich nicht seit Anfang des Jahres auf diese Nachricht gewartet. Als bestehe nicht die Möglichkeit, dass....
"Vincent, vom Herumstarren lassen sich keine Aufgaben lösen", ermahnt mich mein Mathelehrer. Ich zucke zusammen und beuge mich schnell über meine Blätter.
Eine Aufgabe habe ich am Ende der Stunde trotzdem nicht gelöst.
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Ich verlagere mein Gewicht vom linken auf den rechten Fuß und atme langsam aus. Kleine Wölkchen steigen hinauf zum Himmel, während ich wie gebannt die breite Eingangstür unserer Schule betrachte. Kleine Grüppchen tummeln sich auf den Treppen davor, vereinzelt kommen noch Schüler heraus. Aber keine Judy.
In der Zwischenstunde habe ich es geschafft, ihr zu antworten. Wir haben vereinbart, uns nach der Schule zu treffen und zu reden. Eigentlich endete ihre letzte Stunde bereits vor zehn Minuten, aber nach wie vor sehe ich keine Spur von ihr.
Ich fische mein Handy aus der Hosentasche, lese eine Nachricht von East, in der er mir versichert, dass mein Schwänzen der letzten Stunde gar nicht auffällt und schiebe es dann mit einem lauten Seufzen zurück in meine Jackentasche.
Was, wenn sie sich im letzten Moment anders entschieden hat? Was, wenn sie doch nicht mit mir reden möchte? War es vielleicht doch nur Einbildung?
"Tut mir leid, mein Kurs ging länger." Judys Stimme lässt mich zusammenzucken. Ich drehe mich um und verziehe mein Gesicht zu einem Lächeln, als ich ihr blasses Gesicht sehe. Sie hält ihren Blick gesenkt, sieht mir nicht in die Augen. Sie krallt sich an den Trägern ihres Rucksackes fest und bleibt zwei Schritte vor mir stehen.
Mein Herz macht einen nervösen Hüpfer und mit einem Mal sind all die Worte, die ich mir über den Tag verteilt zurechtgelegt habe, wie weggefegt. Ich sehe nur dieses Mädchen, mein Mädchen vor mir stehen und denke an die vielen unausgesprochenen Dinge, die zwischen uns stehen.
"Kein Problem", krächze ich und stopfe meine Hände in meine Jackentaschen. "Möchtest du zu einem bestimmten Ort? Hast du Hunger? Oder.."
"Können wir einfach nur reden?", unterbricht mich Judy. Sie hebt ihren Blick. Glasige, geschwollene Augen blicken mir entgegen. Ich schlucke schwer und nicke dann. Judy nickt ebenfalls und wendet sich von mir ab und geht über den Schulhof. Ihr linkes Bein zieht sie hinter sich her, heute ist es auffälliger als an anderen Tagen.
Sie wirft mir einen Blick über die Schulter zu, eine stumme Aufforderung, ihr zu folgen. Ich atme tief durch, straffe meine Schultern und folge ihr dann, um hoffentlich all das zu klären, was nie hätte passieren dürfen.
___
"Wenn es dir zu kalt ist..."
"Es ist okay so", sagt Judy und schiebt ihre Hände unter ihre Oberschenkel. Ich betrachte sie stumm von der Seite, während sie auf den Fluss hinausschaut. Auf dem Weg hierher haben wir nicht gesprochen. Kein einziges Wort. Wir gingen nur nebeneinander her, jeder hing seinen eigenen Gedanken nach.
Während ich verzweifelt nach den richtigen Worten, der richtigen Erklärung suchte, kam es mir fast so vor, als wäre Judy gar nicht wirklich da. Als würde sie in einem anderen Paralleluniversum festhängen.
"Es tut mir leid", flüstere ich und mein Herz zieht sich krampfhaft zusammen. "Alles. Es tut mir leid, dass du von mir denken musst, dass ich mit dir nur gespielt habe. Es tut mir leid, dass es den Anschein hatte, dass der Kuss an Silvester echt war. Es tut mir leid, dass.."
Judy dreht sich zu mir. Eine einsame Träne kullert über ihre Wange. Sie presst ihre Lippen zu einer dünnen Linie zusammen und mustert mich intensiv. Ich nehme das Schluchzen kaum war, doch ihre Schultern beben verdächtig.
Vorsichtig lege ich meine Hand auf ihren Unterarm und streichle mit meinem Daumen kleine Kreise über den Stoff ihrer Jacke. Es fühlt sich so richtig an. Sie wieder zu berühren, sie bei mir zu haben. Sie anschauen zu können, ihren Geruch wahrnehmen zu dürfen.
"Es tut mir leid", wiederhole ich leise und straffe meine Schultern. Judy wendet ihren Blick von mir ab. Sie betrachtet meine Hand auf ihrem Unterarm. Lang. Und ruhig.
"Warum?", wispert sie. Ihre Stimme zittert verdächtig. Sie klingt verletzt. Gebrochen. Und ich bin Schuld daran. Ich atme tief durch, ziehe meine Hand zurück. Bilder der Silvesternacht spielen sich wie ein Film vor mir ab. Und immer wieder schiebt sich der geschockte Gesichtsausdruck von Judy vor die einzelnen Szenen. Immer und immer wieder habe ich das Gefühl zu fallen, das Gefühl alles zu verlieren, was mir wichtig ist.
"Du musst mir glauben", beginne ich vorsichtig, "dass ich dich niemals hätte betrügen können. Niemals. Ich will nur dich, Judy. Keine Andere. Du musst mir glauben. Okay?"
Sie sieht mich an. Tränen kullern über ihre Wangen. Das Leuchten und Funkeln aus ihren Augen wurde durch einen trüben Schleier ersetzt. Ihr Gesicht zeigt keine Regung, während ich sie flehend anstarre. Ich räuspere mich und merke, wie sich Panik in mir ausbreitet.
Weil es vielleicht sein kann, dass dieses Gespräch nicht alles heilt, was vorgefallen ist. Weil es sein kann, dass ich sie schon längst verloren habe und das heute nur der endgültige Abschied sein wird.
"Ich... war auf dem Weg, uns etwas zu trinken zu holen", beginne ich und wende meinen Blick von Judy ab. Ich kann sie nicht ansehen dabei. Obwohl ich nichts Falsches gemacht habe. Und trotzdem schäme ich mich dafür. Dass ich so dumm war, um auf Hayden reinzufallen. So dumm war, mich von ihr küssen zu lassen.
"Und als ich zurückkam warst du nicht mehr da." Ich atme leise aus. Judy neben mir zuckt zusammen. Dann nickt sie.
"Ich war bei Dean", erwidert sie dann und weicht meinem Blick aus. "Wir haben... geredet." Ich nicke langsam.
"Also habe ich dich gesucht", setze ich meine Erzählung fort. "Und dabei hat mir ein Trottel sein Getränk übergeschüttet. Ich habe mich umgezogen und wollte dich weitersuchen." Bilder von Hayden auf dem Balkon blitzen auf. Wie sie dort am Geländer hing, unverständliche Dinge brabbelte und sich schließlich auf den Boden sinken lies. Weinte. Und mich küsste.
Ich kneife meine Augen zusammen bei der Erinnerung und schüttle angewidert den Kopf. Unser Kuss, der eigentlich gar kein wirklicher Kuss war.
"Und dann hast du Hayden geküsst", schlussfolgert Judy leise. Sie blickt sieht mich an. Und ihr Blick ist so traurig, so verzweifelt, dass sich mein Herz verkrampft. Ich möchte sie berühren, sie umarmen, ihr versichern, dass es eben nicht so war.
Ich schüttle den Kopf.
"Du verstehst nicht..."
"Dann sag es mir! Sag es mir einfach, wie es war, anstatt ewige Ausschweifungen zu machen!", unterbricht mich Judy verzweifelt. Sie ballt ihre Hände zu Fäuste und atmet mehrere Male tief durch. Dann wischt sie sich mit ihrem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht.
"Hast du eine Ahnung, wie es sich anfühlt, wenn das eintritt, wovor man die ganze Zeit Angst hat?", fragt sie dann leise. Sie schüttelt stumm den Kopf. Mit jedem Wort, das sie zu mir sagt, merke ich mehr, wie sehr ich ihr weh getan haben muss. Wie sehr dieser eine Kuss unsere Welt ins Wanken gebracht hat.
"Ich habe Hayden nicht geküsst", presse ich hervor. Judy lacht bitter auf und wirft mir einen vernichtenden Seitenblick zu.
"Ihr Mund auf deinem. Dein Mund auf ihrem. Versteh mich nicht falsch, aber das ist der Inbegriff von dem, was ich unter küssen verstehe."
Sie streicht sich eine lose Haarsträhne hinters Ohr und schnieft dann laut. Ihre Nasenspitze ist rot, ob vor Kälte, Wut oder Traurigkeit. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich sie jetzt am liebsten im Arm halten und nie wieder hergeben würde.
"Du verstehst nicht", erwidere ich stattdessen und hole tief Luft. "Der Kuss ging nicht von mir aus. Nur von Hayden. Ich wollte das alles nicht. Ich wollte ihr nur helfen und danach zu dir. Ich wollte mit dir zusammen sein, wenn wir den Countdown rufen. Ich wollte von dir einen Neujahrskuss bekommen und mit dir am nächsten Morgen aufwachen. Ich wollte nicht Hay. Ich wollte und will immer nur dich!"
Judy öffnet ihren Mund um etwas zu sagen, bleibt aber dann doch stumm. Mein Brustkorb hebt und senkt sich heftig.
"Gott!" Ich vergrabe mein Gesicht in meinen Händen, raufe mir die Haare. Presse meine Augen zusammen und versuche die vielen Bilder aus der Silvesternacht zu verdrängen.
Eiskalte Finger schließen sich um mein Handgelenk. Judys Berührung löst ein Prickeln auf meiner Haut aus. An den Stellen, wo sie mich berührt, kribbelt es angenehm warm. Ich blicke vorsichtig auf. Sehe in ihr blasses Gesicht. Tränenschlieren überziehen ihre Wangen. Ihre Augen sind dunkelrot, geschwollen und ihre Lippen blass. Sie sieht aus wie ein Geist.
"Ich wusste nicht...", flüstert sie dann. Ihre Stimme erstickt und das einzige was bleibt, ist ein lautes Schluchzen, das sie Stille um uns erfüllt. Ich überbrücke die Distanz zwischen uns ohne zu überlegen und schließe sie in meine Arme. Halte sie fest, drücke sie an mich, während das Schluchzen immer lauter und heftiger wird.
Ich lege meine Hand an ihren Hinterkopf, drücke ihren Kopf an meine Schulter. Spüre, wie auch sie ihre Arme um mich legt, sich an mich presst und ihr Gesicht im Stoff meiner Jacke versteckt. Mein Herz pocht wie verrückt und ich bin mir sicher, dass sie es spüren muss.
Mein Körper ist eine Hülle, die vor Emotionen platzen muss. Ich halte Judy in meinen Armen. Ich habe sie noch nicht ganz verloren.
Es fühlt sich an wie eine Ewigkeit, die wir hier auf dem kleinen Bänkchen sitzen. Und doch könnten es auch nur Sekunden sein. Die kleine Straßenlaterne über uns flackert, der Fluss vor uns rauscht leise. Und wir zwei. Judy und ich. Arm in Arm.
"Die letzten Tage waren die schlimmsten meines Lebens", raune ich leise. Ich lege mein Kinn auf ihren Kopf und drücke sie noch etwas fester an sich. Noch immer schluchzt sie leise. Hält sich an mir fest.
"Ich hatte solche Angst, dass ich dich verloren habe. Ich war wütend auf Hayden. Und auf mich selbst. Ich hatte Angst, dass diese eine Nacht alles kaputt gemacht hat. Weil ich verrückt nach dir bin. Nach deinem Lächeln, deinen Berührungen, deinen Nachrichten, nach allem. Ich bin verrückt nach dir, Judy Ross. Und du musst mir wirklich glauben, dass ich dich niemals verletzten könnte. Dafür bist du mir viel zu wichtig."
Meine Stimme nimmt einen flehenden Ton an. Judy richtet sich auf. Betrachtet mich stumm. Wischt sich Tränen aus ihrem Augenwinkel. Dann atmet sie mehrere Male tief durch.
"Hast du eine Ahnung, wie schlimm die letzten Tage für mich waren?", flüstert sie. Und dann lacht sie. Es ist ein kurzes, trauriges Lachen. Aber es war da. Eindeutig. Ich hänge förmlich an ihren Lippen, während es mir vorkommt, als wäre all das hier nur ein Traum. Eine Einbildung, der verzweifelte Ruf meines Herzens nach ihrer Nähe.
"Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich mich dafür hasse", antworte ich. Judy nimmt meine Hand in ihre. Ihre Finger schieben sich zwischen meine. Dort, wo sie schon immer hingehört haben. Ich betrachte unsere Hände. Kann es nicht glauben. Und doch ist es Wirklichkeit. Sie ist hier, neben mir. Und sie hält meine Hand. Schreit mich nicht an. Sondern hört mir zu. Und gibt mir die Chance, alles wieder gut zu machen.
"Hayden hat heute mit mir gesprochen. Und mir ihre Version der Geschichte erzählt", sagt Judy leise. Sie lächelt mich sanft von der Seite an, während ich die Stirn runzle.
"Was hat sie gesagt?", frage ich skeptisch und rutsche ein kleines Stückchen näher an sie ran. Zwar habe ich mich mit ihr vertragen, aber... Was ist, wenn es nur wieder eines ihrer Spielchen war? Was ist, wenn sie die Kluft zwischen Judy und mir nur noch mehr vergrößern möchte.
Andererseits kann ich es mir nicht vorstellen. Haben wir uns nicht versprochen füreinander da zu sein? Haben wir nicht..
"Die Wahrheit", unterbricht Judy mein Gedankenkarussell. "Nach all dem, was du mir gerade erzählt hast, hat sie mir die Wahrheit gesagt. Und ich bin ihr irgendwie dankbar dafür, weil sie letztendlich der Auslöser für meine Nachricht war."
Mein Mund klappt nach unten, während sich in Judys Gesicht ein schüchternes Lächeln schleicht. Mein Gott, sie sieht so wunderschön aus. Ich suche nach den richtigen Worten, finde sie aber nicht. Vielleicht ist es Dankbarkeit, die ich für Hayden empfinde. Und gleichzeitig ist es nur fair von ihr, dass sie versucht, das, was sie so perfekt vermasselt hat, wieder gerade zu biegen.
"Dann glaubst du mir also?", frage ich vorsichtig und senke meinen Blick. Judy lässt sich drei Atemzüge Zeit zu antworten. Drei Atemzüge, in denen mein Herz wie verrückt pocht. In dem mein gesamter Körper angespannt ist. Alles in mir nach einer Antwort schreit. Jegliche Hoffnung von Zweifel verdrängt wird.
"Ja", erwidert Judy schließlich. "Ich glaube dir."
Ich blicke auf. Judy sieht mich an. Schenkt mir ihr warmherziges Lächeln. Das Lächeln, das mein Herz drei Oktaven höher schlagen lässt. Das mich von Anfang an verrückt nach ihr gemacht hat. Ich realisiere es kaum, was sie gesagt hat. Ich blinzle perplex, während Judy zur Bestätigung mit dem Kopf nickt.
Dann rutscht sie zu mir. Umfasst mein Gesicht mit ihren eiskalten Händen. Streckt sich und presst ihren Mund auf meinen. Ich stöhne leise, als ich ihre sanften Lippen spüre. Sie schmecke. Sie fühle. Ich schlinge meine Arme um sie und drücke sie an mich.
Judy lacht leise und intensiviert unseren Kuss. Sie vergräbt ihre Finger in meinen Haaren. Zieht an ihnen, während ich mich an ihr festhalte. Es nicht glauben kann, was gerade passiert. Der Kuss ist sanft und gleichzeitig hungrig. Voller Liebe, Verzweiflung und mit Sicherheit auch Wut. Ich gebe mich ihr hin. Versuche ihr zu zeigen, sie fühlen zu lassen, dass es für mich immer nur sie geben wird.
Immer nur Judy.
Judy.
Judy.
Judy.
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