ZWANZIG - Vince
*** Triggerwarnung: Dieses Kapitel behandelt speziell den Verlust eines geliebten Menschen. Sollte diese Thematik Probleme in dir auslösen, überspringe dieses Kapitel bitte. ***
Es ist mitten in der Nacht, als ich den Anruf von Miranda, Tobys Mutter, erhalte.
Nur halb bei Bewusstsein, noch immer im Rausch der letzten Nacht und mit einer unglaublichen Angst weckte ich Judy, die dann wiederum ihren großen Bruder aus dem Schlaf reißt und uns bittet, zum Krankenhaus zu fahren.
Auf der kurzen Fahrt dorthin sprach ich kein Wort. Mir war übel, mein Kopf dröhnte und gleichzeitig hatte ich Tränen in den Augen, spürte eine unglaubliche Angst und konnte und wollte es gar nicht wahrhaben.
Mirandas Anruf bestand nur aus einem Satz, aber der war mehr als klar und deutlich.
Vince... du solltest kommen, es... es ist so weit.
Der Weg vom Parkplatz zum Krankenhaus war mir noch nie so lange vorgekommen. Ich weiß nicht mehr, ob wir gelaufen oder gegangen sind, weiß auch nicht mehr, wie ich zur Kinderstation kam. Das Erste, an das ich mich wieder erinnern kann war, dass uns gesagt wurde, dass Toby auf der Kinder-Palliativstation liegt.
Palliativ - verdammte Scheiße!
Wäre Judy nicht an meiner Seite gewesen, wäre ich vermutlich zusammengebrochen. Meine Knie bebten, mein Magen fuhr Achterbahn und die Gedanken in meinem Kopf kreisten über dem Unausweichlichem.
Tobi wird sterben. Bald. Sehr bald.
Es macht mir eine Scheißangst und je näher wir den großen, bedrohlichen Türen der Palliativstation kommen, desto dünner wird die Luft.
Kinder-Palliativ. Ein Flur nur mit sterbenden Kindern. Kleine Menschen, für die es keine Hoffnung mehr gibt und Toby ist einer von ihnen. Ist vermutlich der Nächste.
Ich japse nach Luft und klammere mich an einer der Holzstangen fest, die an den Wänden angebracht wurden. Judy sieht mich besorgt an. Ihre Lippen bewegen sich, aber keine Worte dringen zu mir durch. Ich betrachte sie hilflos, möchte mich auf sie konzentrieren, mich von ihr beruhigen lassen.
Versuche an das Gefühl von vor wenigen Stunden zurückzudenken, als wir uns so nahe waren wie noch nie. Aber alles wird verdrängt von Schwärze und Angst.
"Ich... ich...", stammle ich und kneife meine Augen zusammen. Tobys lachendes, lebendiges Gesicht taucht auf. Ich sehe ihn auf dem Krankenhaus-Spielplatz die Rutsche hochklettern, konzentriert über das Monopoly-Spielbrett gebeugt und mit leuchtenden Augen, als ich ihm eine geschmuggelte Packung M&M's hinhalte. Sein lautes Lachen, wann immer er mich in einem Brettspiel geschlagen hat. Höre, wie er mir erklärt, dass er Elefanten-Pfleger werden möchte, wenn es mit seinem ursprünglichen Plan, ein Promi zu werden, nicht klappen sollte.
Tränen brennen in meinen Augen und ein erstes, leises Schluchzen bricht aus mir.
Ich hätte ihn besuchen sollen. Als ich mit Judy im Krankenhaus war und eineinhalb Stunden auf dem Gang saß, ich hätte zu ihm gehen sollen. Ich hätte einen letzten Abend mit ihm verbringen sollen. Ein letztes Mal Monopoly spielen sollen. Ich hätte nicht einfach dasitzen dürfen, ich hätte mich nicht verstecken dürfen.
Er hat mir so sehr durch meine schwerste Zeit geholfen. Er war jeden Tag bei mir, hat mich jeden Tag aufgeheitert und mich die Welt wieder mit unschuldigen Kinder-Augen sehen lassen. Und dann war ich derjenige, der ihn im Stich gelassen hat. Als es mir besser ging, ließ ich ihn zurück. Und als er einen Freund brauchte, war ich nicht da.
Ich werde in eine sanfte Umarmung gezogen. Miranda ist zu uns auf den Flur gekommen. Noch nie habe ich sie so fertig gesehen. Ihr Gesicht ist fleckig, ihre sonst so gepflegten Haare stehen wirr vom Kopf und ihre Bluse ist zerknittert.
"Es tut mir so leid", schluchze ich. Miranda schafft es nicht zu antworten, ihr Körper bebt und wird von der Trauer und Angst um ihren Sohn übermannt. Judy ist zwei Schritte nach hinten getreten und betrachtet uns. Ich kann ihren besorgten Blick erkennen und wünschte mir, sie müsste das hier nicht miterleben.
Es tut mir im Herzen weh, dass es ausgerechnet heute, in dieser Nacht passieren muss und gebe mir dann innerlich eine Ohrfeige. Toby wird sterben. Es ist scheiße. Ganz egal wann und wie es passiert.
Ich habe keine Ahnung wie lange wir hier draußen auf dem Flur stehen. Miranda und ich Arm in Arm, uns gegenseitig stützend. Sie hat niemanden. War von Anfang an alleinerziehend. Ihre Mutter, die Toby und sie sonst immer begleitet hat, verstarb letztes Jahr. Seitdem gab es nur noch die beiden.
Und schon bald ist sie ganz allein.
"Wie... sieht es aus?", möchte ich wissen und löse mich vorsichtig von ihr. Ihr Gesicht ist schmerzverzerrt und die Strapazen der letzten Tage und Wochen kennt man ihr deutlich an. Hektisch wischt sie sich die Tränen aus dem Gesicht und atmet dann zitternd aus.
"Stunden... wenn überhaupt", wispert sie dann und deutet zur Tür. Ich verstehe ihre Aufforderung und blicke mich nach Judy um. Sie erwidert meinen Blick und nimmt meine Hand in ihre. Zaghaft folgen wir Tobys Mutter durch die Flügeltüren. Für mich scheint es immer so, als wäre die Palliativstation eine andere Welt. Die Uhren ticken zu schnell, das Leben ist zu wenig und die Trauer zu groß.
Automatisch ziehe ich meinen Kopf ein, starre strikt auf den langen Gang. Bei dem Gedanken daran, dass hinter jeder dieser Tür ein sterbendes Kind liegt und nur darauf wartet, bis es endlich aufhören darf zu kämpfen, wird mir schlecht. Und gleichzeitig könnte ich wieder losweinen.
Vor der letzten Tür auf der linken Seite bleiben wir stehen. Sie ist gelb. Tobys Lieblingsfarbe war grün. Wie die Schaukel auf dem Spielplatz und der Weihnachtsbaum mit ganz vielen Geschenken darunter.
Seine Lieblingsfarbe ist grün. Nicht war. Noch nicht.
"Er möchte dich sehen", flüstert Miranda und drückt meine Hand. Mein Blick wandert zu Judy, die mich mit großen Augen anblickt. Sie gibt mir Sicherheit, die nötige Stütze, die ich in dieser Situation brauche. Und ich hoffe, sie weiß, wie wichtig sie gerade für mich ist. Meine Hand fühlt sich schwer und taub an, als ich sie auf den kalten und viel zu steril wirkenden Griff der Tür lege.
Es kostet mich einiges an Überwindung, die Klinke nach unten zu drücken. Judy lässt mich los und geht einen Schritt nach hinten. Ich muss hier allein durch und vermutlich ist es auch besser so. Toby jetzt, in seinen letzten Stunden hier auf der Welt, noch eine fremde Person vorzustellen? Vermutlich wäre es für ihn zu viel.
Es ist ruhig im Raum. Dunkel.
Es ist ja auch mitten in der Nacht. Eigentlich solltest du jetzt mit Judy im Arm im Bett liegen und schlafen.
Nur die kleine Nachtleuchte, die einen fetten Elefanten darstellt, leuchtet die Gestalt, die im Bett liegt an. Ja richtig, die Gestalt. Vor mir liegt kein Toby, kein aufgewecktes, kleines Kind, sondern ein Geist. Klapperdürr. Ich halte die Luft an, als ich mich ihm nähere und mein Herz krampft sich schmerzhaft zusammen. Es tut mir in der Seele weh, ihn so zu sehen.
Meine Beine werden steif und alles in mir wehrt sich, noch einen Schritt weiter nach vorne zu gehen. Noch hat er mich nicht bemerkt, sein Blick ist starr an die Decke gerichtet. Schläuche führen an sämtlichen Stellen aus seinem Körper und verbinden ihn mit diversen Maschinen, die um ihn herum aufgebaut sind.
"Hey Kumpel", sage ich leise und versuche, das Beben in meiner Stimme zu unterdrücken. Langsam und so unglaublich schwach dreht Toby seinen Kopf zur Seite und sieht mich an. Das Leuchten, Funkeln, das Leben, das seine Augen sonst immer erhellt hat, ist erloschen. Seine Lippen sind nichts weiter als ein weißer Strich.
Sein Mund möchte Worte formen, doch es kommt nur ein leises Keuchen heraus. Eine Gänsehaut überzieht meine Arme und ich räuspere mich schnell.
Das ist nicht Toby. Das ist nicht Toby, das ist nicht Toby, das ist nicht....
"Alles okay, du musst nicht reden", sage ich dann. Ich überwinde den letzten Schritt und setze mich dann ans Fußende seines Bettes. Toby betrachtet mich. Langsam hebt er seine Hand und ich nehme sie in meine. Seine dürren Finger sind eiskalt, die Haut ist rau.
Eine erste Träne rollt über meine Wange und ich wische sie schnell mit dem Handrücken fest. Was soll ich zu ihm sagen? Weiß er, dass er nicht mehr lange hier sein wird? Spürt er, was auf ihn zukommt? Hat er Angst? Hat er....
"Vinci-P...?", keucht er heiser. Ich blicke auf, lächle traurig. Toby deutet auf seinen Nachttisch. Der Stinke-Stiefel, seine Figur aus Monopoly steht darauf. Ganz allein.
"Für dich", flüstert er dann. Ich schlucke schwer, als ich meine Hand danach ausstrecke und das kalte Messing der Spielfigur umgreife. Sie fühlt sich so unglaublich schwer an. Viel schwerer als sonst. Vielleicht, weil viel mehr Erinnerungen als gedacht an ihr hängen. Weil sie das Gewicht eines kleinen, sterbenden Jungen trägt, der nie wieder mit ihr spielen wird, weil...
"Danke", sage ich dann leise. Ich streiche ihm eine Haarsträhne aus seinem Gesicht. Toby schließt seine Augen und atmet dann langsam aus. Jeder Fremde, der ihn noch nie zuvor gesehen hat, würde erkennen, dass das nicht der echte Toby ist. Vor mir liegt nur noch ein Überbleibsel von ihm. Der Rest von ihm hat sich schon auf den Weg gemacht. An einen Ort ohne Leiden. Ohne Krankheit, die ihn sein ganzes Leben lang an Ärzte, Pfleger und Mitpatienten fesselt.
Seine Atemzüge werden ruhiger, gleichmäßiger. Stumm sitze ich neben ihm und betrachte ihn. Halte den Stinkestiefel in der einen Hand, Tobys Hand in der anderen. Streiche über seinen knochigen Handrücken und denke an die vielen Stunden zurück, die wir gemeinsam auf Station verbracht haben.
Anfangs hielt man mich verrückt, weil ich mich mit einem so kleinen Kind anfreundete. Irgendwann belächelten die Mitarbeiter uns aber nicht mehr, weil es kein Geheimnis mehr war, wie gut wir uns gegenseitig taten. Ihm hatte ich einen Großteil meiner schnellen Genesung zu verdanken. Dass ich nicht Tag für Tag durchdrehte, sondern meinen Kopf immer wieder anstrengen musste. Und sei es nur wegen belanglosen Monopoly-Regeln.
Eine Träne kullert über meine Wange, während ich den zarten Körper vor mir betrachte. Die Krankheit verfluche, die das Leben so schnell aus ihm aushaucht. Es sollte ein Naturgesetz sein, dass Kinder nicht sterben können. Nicht sterben dürfen.
"Hab keine Angst", wispere ich. Meine Unterlippe zittert und mir wird kalt. Ich weiß nicht, ob er mich hören kann. Ob er eingeschlafen ist. Ob er jemals wieder aufwachen wird. Aber ich möchte es ihm zumindest gesagt haben. Es fühlt sich richtig an. Wenn ich ihn nur irgendwie auf seiner letzten Reise unterstützen kann, dann möchte ich es tun.
"Wir werden uns wieder sehen", fahre ich fort. "An einem viel besseren Ort. Mit Elefanten, Menschen, die dir zujubeln, ganz vielen Spielplätzen, Freunden und Schokoeis. Und natürlich Monopoly." Ein trauriges Lächeln schleicht sich in mein Gesicht und ich schließe die Faust um den Stiefel fester. Es tut weh und gleichzeitig gibt es mir so viel Kraft zu wissen, dass ich immer noch etwas von ihm habe.
Toby reagiert nicht. Sein Gesicht zeigt keine Regung. Er sieht friedlich aus und gleichzeitig macht er mir eine Scheiß-Angst.
___
Toby atmet ein letztes Mal aus, als die ersten Sonnenstrahlen hinter dem Horizont auftauchen.
Anders als in vielen Filmen schrie Miranda nicht vor Schmerz auf. Die Ärzte umkreisten uns nicht und wollten uns versichern, dass sie alles mögliche getan hatten. Wir wussten alle, dass es dazu kommen würde und trotzdem hätten wir nie damit gerechnet, dass es so schnell gehen würde.
Als ich bei Toby im Zimmer war verständigte Judy wohl meine Eltern. Mama saß neben ihr, als ich meinen kleinen Freund zum letzten Mal sah. Sie umarmte mich und schirmte mich von den traurigen Blicken der Ärzte und Pfleger ab, als sie uns die traurige Nachricht übermittelten. Sie hielt Miranda fest und bewahrte sie davor, noch härter auf dem Boden der Tatsachen aufzuschlagen.
Judy versuchte, für mich da zu sein. Und gleichzeitig sah ich, dass auch sie mit ihren Dämonen zu kämpfen hatte. Natürlich. Wie sehr musste sie diese Situation an ihre tote Zwillingsschwester erinnern?
Wie in Trance bemerkte ich, wie mich die beiden aus dem Krankenhaus führten. Judy links, Mama rechts von mir. Ich konnte nicht weinen, mein Herz tat nicht weh, ich fühlte mich einfach nur taub. Fast so, als wollte alles in mir nicht verstehen, dass Toby wirklich gestorben ist. Tot. Nicht mehr am Leben.
Ich merkte nicht, wie wir losfuhren, Judy bei sich Zuhause absetzten und schließlich bei uns ankamen. Meine Freundin sagte noch etwas zu mir, aber ich hörte nicht was. Die ganze Zeit musste ich nur an Toby denken. An sein Lachen, an seine leuchtenden Augen, seinen Eifer beim Spielen. Den Stinkestiefel hielt ich dabei die ganze Zeit fest umklammert.
Erst als wir Zuhause ankommen, Mama mich in unseren Flur führte und die Tür hinter uns schloss, brach alles über mich ein. Ich betrachte die Figur in meinen Händen und mit einem Mal spielt sich ein Film mit all den Erinnerungen, die ich von Toby habe, ab. Ich denke zurück an unser erstes Aufeinandertreffen, an die zaghaften Annäherungsversuche und schließlich daran, wie es immer selbstverständlicher wurde, dass wir uns trafen.
Mama legt eine Hand auf meine Schulter. Heiße Tränen bahnen sich ihren Weg an die Oberfläche und ich schlucke schwer. Ein dicker Kloß hat sich in meinem Hals gebildet und erst jetzt scheine ich zu realisieren, dass er nicht mehr da ist.
"Toby ist... tot", flüstere ich. Mir wird eiskalt, als ich es wirklich ausspreche. Toby ist tot, Toby ist tot, Toby ist tot.
"Es tut mir so leid", murmelt Mama und zieht mich in eine feste Umarmung. Ich klammere mich an sie und erlaube es mir endlich, wirklich zu weinen. Sie hält mich fest, streicht über meinen Rücken und redet mir leise gut zu. Auch ihre Stimme zittert und ich höre sie mehrere Male schniefen.
Kein Wunder. Schließlich kannte auch sie Toby. Wenn du so viel Zeit im Krankenhaus verbringst, wie sie es in diesem einen Jahr getan hat, sprichst du gezwungenermaßen irgendwann mit Eltern, die auch ihre kranken Kinder besuchen. Nur dass Mirandas Sohn eben tot-krank war.
Mama gibt mir die Zeit, die ich brauche. Lässt mich weinen. Sie redet auf mich ein und schweigt, als sie merkt, dass sie nicht zu mir durchkommt. Es fühlt sich so an, als würde ich mich in einem dunklen Strudel befinden. Abgeschirmt von der Außenwelt. Und um mich rum Stimmen. Erinnerungen. Und alle flüstern 'weißt du noch?'.
Schwärze zieht mich immer weiter nach unten. Dorthin, wo es am meisten weh tut. Und je tiefer ich in den Abgrund sinke, desto klarer und schmerzhafter werden die Erinnerungen. Desto lebhafter werden sie und umso deutlicher zeigen mir sie, welchen Sonnenschein die Welt heute verloren hat.
Toby lernte das Leben nie so richtig kennen. Aber er zeigte mir umso mehr, wie verdammt glücklich ich für jede Sekunde, die ich auf dieser Erde verbringen darf, sein kann.
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