SECHS - Vince
"Dreihundertfünfzigmillionen Dollar bitte!", quietscht Toby vergnügt und streckt mir seine kleine Hand entgegen. Ich lache laut auf und nehme dann zwei der Papierscheine von meinem winzigen Haufen vor mir.
"Ich denke, vier Dollar reichen", erwidere ich zwinkernd. Toby sieht die beiden Scheine an, als wären sie ein verloren geglaubter Piratenschatz und legt sie zu den anderen, die sich vor ihm Häufen.
"Ich bin dran!", meint er dann hastig und schnappt sich den Würfel, um den nächsten Zug zu spielen. Stumm betrachte ich ihn, während er seine Figur - den Fußball - über das Monopoly-Feld bewegt und sich die nächste Straße kauft.
Kurz nagt das schlechte Gewissen an mir, weil ich ihn in letzter Zeit kaum mehr besucht habe. Als ich ihn heute Nachmittag mit einem neuen Buch, einer Tafel Schokolade und dem Versprechen, mindestens drei Runden zu spielen überrascht habe, war er ganz außer sich vor Freude.
Im ersten Moment, als ich ihn sah, bin ich erschrocken. Er ist viel dürrer als beim letzten Mal, als ich ihn gesehen habe. Dunkle Schatten liegen unter seinen Augen und es ragen noch mehr Schläuche aus seinem Körper. Das einzig farbenfrohe an ihm ist sein nagelneuer Dino-Schlafanzug, den ihn der Weihnachtsmann gebracht hat, wie er mir stolz erzählt hat.
"Stinki-Stiefel ist dran", quietscht Toby nun vergnügt und reicht mir den Würfel. Ich seufze und lege dem Schicksal meinen nächsten Spielzug in die Hand. Ich bin dabei, haushoch zu verlieren. Gegen einen fünfjährigen Jungen, wohl gemerkt. Dabei habe ich mich anfangs wirklich angestrengt und wollte ihn eigentlich nicht gewinnen lassen.
Allerdings hat Toby ein verrücktes Spieleglück und immer, wenn wir Monopoly spielen, gewinnt er wie aus dem Nichts. So wie auch jetzt.
"Hier, bitte", brumme ich und reiche ihm sämtliche noch übrigen Geldscheine, die vor mir liegen, als ich auf seine teuerste Straße, die Zuckerwatten-Allee, komme.
"Cooool", meint Toby und grinst das Geld in seinen Händen an. "Habe ich jetzt gewonnen?"
Ich muss grinsen und nicke dann. Toby reißt seine Hände in die Höhe und jubelt dann. Sein Pullover rutscht etwas hoch und offenbart die freie Sicht auf hervorstehende Rippen. Ich kenne mich nicht wirklich mit Kleinkindern aus, aber ich denke, es ist nicht normal, dass sie so abgemagert sind.
Seitdem ich Toby kennengelernt habe, sah er noch keinen Tag so schlecht aus wie heute. Ein riesiges Pflaster klebt auf seinem Kopf, offenbar das Überbleibsel einer weiteren Operation.
"Nochmal", meint Toby und beginnt sofort damit, die Geldscheine wieder einzuordnen und alles in die Anfangsposition zu bringen. Fußball und Stiefel zurück auf los, alle Besitzerkarten zurück in die Schachtel und sämtliche Ereigniskarten zurück auf das Spielfeld.
In Windeseile ist er fertig, verteilt das Anfangsgehalt und beginnt mit dem ersten Spielzug. Ich seufze leise und sehe ihm dabei zu, wie er schon die erste Straße kauft.
"Weißt du Vinci", meint er dann, als er mir den Würfel reicht. "Im Zimmer neben mir liegt ein Mädchen, das ganz komisch aussieht."
Ich lupfe meine Augenbraue, als ich würfle und prompt auf der von Toby gerade gekauften Straße lande.
"Warum sollte sie komisch aussehen?", möchte ich von ihm wissen und reiche ihm das Geld.
Toby zuckt mit den Schultern und sieht mich mit großen Augen an.
"Sie sieht aus wie Opa. Sie hat nämlich eine Glatze. Aber sie hat mir Gummibärchen gegeben, deshalb mag ich sie." Er grinst und schnappt sich dann wieder den Würfel. Ich schlucke schwer und versuche mich auf das Spiel zu konzentrieren.
Ich weiß, dass Toby nicht wissen kann, dass das Mädchen vermutlich eine schwere Krankheit hat und deshalb keine Haare mehr hat. Gleichzeitig erwärmt es mir irgendwie das Herz, dass ein einfaches Teilen von Süßigkeiten im Kindesalter Freundschaften schließen kann.
Wenn es immer so wäre und ich Judy einfach nur Gummibärchen anbieten müsste, damit alles so ist, wie es vor Silvester war... Noch immer habe ich keine Reaktion auf meine Nachrichten oder Anrufe erhalten. Heute oder morgen müssten sie zurückkomme. Übermorgen beginnt die Schule und spätestens dann werden wir uns wieder sehen.
"Bist du eingeschlafen?", rätselt Toby und fuchtelt mir seinen kleinen Händen vor meinem Gesicht herum. Ich zucke zusammen und sehe den kleinen Jungen an.
"Hier", meint er und legt mir den Würfel in die Hand. "Du bist dran!"
Ich nicke abwesend und setze zum nächsten Zug an. Wie wird das erste Aufeinandertreffen mit Judy aussehen? Was, wenn sie mir alles irgendwie heimzahlen würde? Aber dazu wäre sie nicht fähig, oder? Und außerdem gibt es doch eigentlich gar nichts zu heimzahlen. Wenn man es genau nimmt, habe ich nichts falsch gemacht, oder?
"Mama hat mir versprochen, dass wir ganz bald zu einem ganz großen Rummelplatz gehen. Mit Riesenrad, Zuckerwatte und einer ganz ganz großen Achterbahn!" Tobys Augen leuchten, als er mir davon erzählt. "Möchtest du mitkommen? Aber nicht schreien, wenn wir die Achterbahn fahren!" Er kichert und presst sich seine Hände vor den Mund. Ich muss schmunzeln und schiebe meine Figur über das Spielbrett.
"Wenn ich nicht in die Schule muss, würde ich gerne mitkommen", erwidere ich ehrlich. Ich nehme mir die Karte der Schokoladenstraße und lege das Geld dafür in den Spielkarton.
"Kannst du nicht einfach sagen, dass du keine Lust auf Schule hast und lieber mit mir zum Rummelplatz gehen möchtest?" Toby sieht mich unschuldig an. Ich lache leise auf und schüttle dann den Kopf.
"Das geht leider nicht so einfach", versuche ich zu erklären. "In die Schule muss man gehen. Außer natürlich man ist krank, dann darf man Zuhause bleiben."
"Das ist ja blöd", murrt Toby und schnappt sich den Würfel. "Wenn ich später einmal so groß und alt bin wie du, dann werde ich alles anders machen."
Bei dem Gedanken an Toby in der Highschool und die ersten Auseinandersetzungen mit seinen Lehrern muss ich lachen. So sehr, dass auch Toby anfängt zu kichern.
Mit einem Mal werden seine Augen ganz groß. Und aus seinem Lachen wird viel mehr ein Luftschnappen und Husten.
Der Würfel fällt aus seiner Hand, auf das Spielbrett. Toby keucht laut, fasst sich mit beiden Händen gegen den Hals. Sein Körper krümmt sich in dem Bett, während er immer und immer wieder laut nach Luft schnappt. Sein Keuchen erfüllt den ganzen Raum und geht mir bis ins Mark.
"Toby?", frage ich alarmiert und springe vom Bett auf. Ich starre hilflos auf den kleinen Jungen vor mir, der mich ängstlich anblickt. Sein Gesicht ist kahl wie die Wand. Mein Herz trommelt wie verrückt, während das Keuchen immer lauter wird.
Instinktiv und weil ich keine andere Lösung weiß, drücke ich auf den Schwesternknopf, während Toby immer und immer wieder nach Luft schnappt.
Tu etwas Vince, verdammt. Steh nicht herum wie ein Schwachkopf, mach etwas!
"Toby, versuch' mit mir zu atmen", stammle ich verzweifelt und lege eine Hand auf seinen Rücken. "Hörst du mich? Einatmen. Und ausatmen. Ein. Und aus." Toby nickt und versucht das Gesagte umzusetzen, wird aber immer wieder von Hustanfällen überrannt.
Mittlerweile keucht er nur noch. Seine Augen werden blutrot, seine Hand ist eiskalt.
"Was ist los?", höre ich endlich die erlösende Stimme einer Schwester, die in den Raum geeilt kommt. Sie eilt sofort auf Toby zu und legt ebenfalls ihre Hand auf seinen Rücken. Ich weiche einen Schritt zurück und starre angespannt auf die beiden.
Höre einzelne Worte, die die Krankenpflegerin auf Toby einredet. Und sehe ihn, der wie gebannt an ihren Lippen hängt. Das macht, was sie ihm sagt. Und wie das Husten langsam weniger wird und die Atmung wieder kontrollierter.
"Was ist hier los?", ertönt plötzlich die Stimme von Miranda, Tobys Mutter. Ihr Blick wechselt zwischen mir und der Schwester, die nach wie vor auf ihren Sohn einredet und mit einem Stethoskop seine Brust abhört.
"Ein weiterer Anfall, Ma'am", meint diese und nickt dann auf Toby. "Aber unser kleine Kämpfer hier hat es noch besser gemacht als beim letzten Mal." Sie strubbelt ihm über den Kopf. Toby lässt sich in sein überdimensionales Kopfkissen zurücksinken und atmet erschöpft ein und aus.
"Es... es tut mir leid.. Ich wusste... Ich wusste nicht, was...", stammle ich noch immer verwirrt und deute auf Toby. Er hat die Augen mittlerweile geschlossen und atmet ganz ruhig vor sich hin.
"Du hast richtig gehandelt", meint Miranda und lächelt mich sanft an. "Es kam in letzter Zeit leider immer häufiger vor." Sie trifft neben ihren Sohn und nimmt seine Hand. Bei der Berührung zuckt Toby nicht einmal zusammen. Seelenruhig liegt er in seinem Bett. Schläft er?
"Ich würde gerne mit dir reden, Vince." Ihr Lächeln ist schwach, als sie mich ansieht. Ich versteife mich und nicke dann schnell. Möchte sie mich in die Schranken weisen, weil ich Toby nicht wirklich helfen konnte? Weil ich irgendetwas falsch gemacht habe? Möchte sie nicht mehr, dass ich ihn besuche?
"Aber nicht hier", fügt Miranda hinzu. "Am besten gehen wir in den Aufenthaltsraum." Sie schenkt Toby einen liebevollen Kuss auf die Stirn, flüstert ihm einige Worte ins Ohr und deutet mir dann, ihr zu folgen.
Auf dem Flur der Pädiatrie ist wie immer Trubel. Eltern laufen hektisch umher, kleine Kinder wuseln durch die Gänge und spielen hinter Essenswägen verstecken und die Pflegerinnen und Pfleger haben alle Hände voll zu tun, das Treiben unter Kontrolle zu halten.
Miranda schleicht wie ein Schatten allem vorbei und drückt die Tür zum Aufenthaltsraum auf. Hier drin ist es ruhig, da die meisten Besucher die Zimmer der Patienten bevorzugen. Heute sind wir die Einzigen. Der süßliche Duft einer Mischung aus Tee und Kaffee umhüllt uns. Die Wände sind bunt bemalt, große Fenster erhellen den Raum.
"Kaffee?", bietet mir Miranda an. Ich schüttle den Kopf und lasse mich dann auf einen der vielen kunterbunten Holzstühle sinken. Ich seufze schwer und vergrabe mein Gesicht in meinen Händen.
"Es tut mir wirklich leid, dass ich wie ein Idiot dagestanden habe, als..."
"Sieh dich an Vince", flüstert Miranda und streckt ihre Hand nach mir aus. "Du siehst so gesund aus. So stark." Sie umfasst meinen Unterarm und lächelt mich an. Dunkle Schatten liegen unter ihren Augen. Ihre Wangen sind eingefallen.
"Alles okay?", möchte ich leise wissen. Sie scheint es nicht zu hören. Mit einem Male beginnen ihre Augen zu glitzern. Sie atmet mehrere Male ruckartig ein, bevor die erste Träne über ihre Wangen kullert. Sie presst ihre Hände vor ihren Mund, um die Schluchzer zu ersticken.
"Toby wird... er wird nie so aussehen", presst sie hervor und krümmt sich dann zusammen. Stirnrunzelnd sehe ich sie an. Tobys Mutter schnieft laut, bevor ihr Körper von einem Beben eingenommen wird.
Ich kann mir vorstellen, dass es hart sein muss für Mütter, wenn sie sieht, wie andere Kinder entlassen werden, zurück ins Leben finden. Und das eigenen Kind nach wie vor an das Krankenhausbett gefesselt ist. Oder wie in Tobys Fall, nie wirklich leben konnten, sondern nur von einem Krankenhaus ins nächste weitergereicht wurden.
Ich stelle mich neben sie und lege meine Hand auf ihren Rücken. Mirandas Gesicht ist feuerrot, so sehr versucht sie das Weinen zu unterdrücken.
"Er wird gesund werden", versuche ich ihr gut zuzureden. "Er ist ein Kämpfer. Er wird..."
"Nein, Vince", unterbricht mich Miranda heiser. "Das... wird er nicht." Sie blickt auf. Tränenbahnen zieren ihre Wangen. Ihre Hände zittern, als sie sich feuchte Strähnen aus dem Gesicht wischt.
"Die... Die Ärzte haben bemerkt, dass... dass... dass der Tumor gewachsen ist. Ihm... kann nicht mehr... geholfen werden." Erneut wird sie von Schluchzern übermannt. Ich öffne meinen Mund, um etwas zu sagen, bringe aber kein Wort heraus. Ich weiß, was Miranda mir damit sagen möchte. Möchte es aber nicht wahrhaben. Möchte es nicht glauben. Nicht Toby. Bitte, bitte nur nicht Toby.
"Er wird sterben. Toby wird sterben."
_____
"Ich schwöre dir, wenn du jetzt furzt, dann beende ich unsere Freundschaft." East zerrt an meinem Bein und versucht eine neue Übung von Sam auszuführen, während ich auf dem Boden liege. Und an nichts anderes denken kann als an Toby. Seit einer halben Stunde quasselt mein bester Freund auf mich ein, knetet meinen Körper durch, zerrt an meinen Gliedmaßen und ich liege stumm auf der Matte. Mit dem Kopf ganz wo anders.
Ich konnte nicht mehr zu ihm zurück ins Zimmer gehen. Konnte ihm nicht mehr in die Augen sehen, mit dem Wissen, dass er nicht mehr lange leben darf. Konnte nicht mehr mit ihm Monopoly spielen und dabei so tun, als wäre nichts passiert. Ich weiß, dass es verdammt schwach von mir ist und ich gerade jetzt so viel Zeit wie nur möglich mit ihm verbringen sollte. Aber ich konnte nicht.
"In drei Wochen steht das Heimspiel gegen die East Lafayette Bulls an. Das wird der Shit. Amber hat heute Morgen bereits in der Aula verkündet, dass die Choreo der Cheerleaderinnen bei diesem Spiel die Atemberaubendste sein wird. Möchte ich auch hoffen. Derby hat man nur zweimal pro Saison."
East wechselt die Seite und zieht an meinem linken Bein. Ich vergrabe mein Gesicht hinter meinen Unterarmen und gebe vor, die Übung zu anstrengend zu finden, um mit ihm zu reden.
Dabei ist das Letzte, worüber ich jetzt gerade sprechen möchte, ein dummes Lacrosse-Spiel.
Toby wird nie in seinem Leben die Farben seiner Highschool tragen können. Er wird niemals eine Cheerleaderin nach dem gewonnenen Spiel küssen können, oder mit den Jungs in der Umkleide feiern können. Er wird niemals die schweißtreibenden Trainings nach der Schule durchhalten müssen, oder,...
"Das wird ein erstes Spiel sein, bei dem zu zurück bist in der Mannschaft. Ich wette, der Coach lässt dich spielen", fährt East fort. "Aufsetzen bitte." Ich stöhne innerlich auf und tu so, wie mir geheißen wurde. East streicht sich eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht und greift dann nach meinem linken Arm.
"Wir wurden schon alle darauf gedrillt, es nicht zu übertreiben, wenn du dein erstes Training hast. Co-Coach Dawson hat wohl schon einige Pläne für dich gemacht. Gott sei Dank, weil so vergisst er wenigstens immer die Hälfte beim Zirkeltraining. Wusstest du, dass er..."
East redet weiter, während meine Gedanken wieder abdriften zu Toby. Daran, wie glücklich er heute war, als ich ihn besucht habe. Wie sehr er sich über das neue Bilderbuch gefreut hat. Über seine Euphorie, als er gewonnen hat. Das riesige Pflaster, das auf seinem Kopf klebte. All die Untersuchungen, Therapien und Behandlungen, die er schon über sich ergehen lassen musste. All das für nichts?
All das dafür, dass er sterben wird? Ich beiße mir auf meine Unterlippe, als ich merke, wie sich Tränen in meinen Augen sammeln. East zerrt indessen an meinem rechten Arm.
"Beim letzten Spiel gegen Lafayette vergaß O'Malley seine Schuhe. Wusstest du das? Er musste die vom Coach tragen, die ihn ungefähr drei Nummern zu groß waren. Es sah aus, als würde er die Schuhe eines Clowns tragen und viel mehrere Male über seine eigenen Füße. Hat sich bei den Anderen natürlich total lächerlich gemacht." Mein bester Freund lacht laut bei den Erinnerungen und lässt meinen Arm sinken. Dann nimmt er hinter mir Platz und beginnt mit der Massage meiner Schultern.
"Oder als Houston das Shampoo seiner Schwester mitgenommen hat und es in der ganzen Umkleide nach Pfirsich gestunken hat. Wenigstens hat es dann im Bus nach Hause nicht so sehr gemufft wie normalerweise."
Ich schließe meine Augen und atme ruhig aus. Toby wird niemals in den Genuss von lange Busfahrten mit seinem Team kommen. Er wird niemals heimlich einen Kasten Bier an seinem Coach vorbeischmuggeln und sich über einen viel zu fettigen Burger auf der Heimfahrt freuen. Niemals mitten in der Nacht sturzbesoffen von seinen Eltern abgeholt werden müssen und lallend von den einzelnen Spielzügen erzählen können.
"Hat Judy sich noch immer nicht gemeldet?" East seufzt und knetet wie verrückt an meinen Schultern herum. Es zieht höllisch, aber der Schmerz ist auszuhalten. Ein guter Kontrast zu dem in meiner Brust.
"Sie kriegt sich schon wieder ein. Spätestens wenn ihr zwei geredet habt. Wie war das Gespräch mit Hayden?"
Ich seufze leise. Obwohl noch keine vierundzwanzig Stunden vergangen sind, seitdem ich mich mit Hay getroffen habe, kommt es mir so vor, als lägen zwischen gestern und heute Jahre. Ich schlucke den Kloß in meinem Hals hinunter.
"Gut", erwidere ich knapp. "Wir... haben uns ausgesprochen."
"Das klingt doch gut", meint East optimistisch und macht sich nun an meinem Rücken zu schaffen. "Vielleicht ist das der erste Schritt um den ganzen Mist wieder geradezubiegen."
Ich zucke nur mit den Schultern.
Toby wird sich niemals verlieben. Er wird niemals so etwas wie Liebeskummer haben. Niemals ein Mädchen küssen. Niemals eine feste Freundin haben, heiraten, Kinder bekommen, eine Zukunft haben. Er wird einfach so aus dem Leben gerissen. Und kaum etwas erlebt haben. Er wird..
"Vince, ich höre deinen Kopf bis hierher rattern. Was ist los?"
Ich schüttle nur den Kopf und atme tief durch. East lässt von mir los und krabbelt um mich herum, sodass er sich mir gegenüber auf die Matte setzen kann. Dann sieht er mir tief in die Augen und hebt die Augenbrauen.
"Was ist passiert?", möchte er wissen. Er neigt seinen Kopf zur Seite und sieht mich besorgt an.
Die erste Träne kullert aus meinen Augen und ich presse meine Hand vor meinen Mund. Atme scharf ein. Wieder blitzt das unschuldige Kinderlächeln von Toby vor meinem inneren Auge auf. Seine Freude beim Monopolyspielen. Als er mir von dem geplanten Rummelplatzbesuch erzählt hat.
Ich atme tief ein.
"Toby... der Junge von der Pädiatrie mit dem Tumor, er wird sterben. Ich habe es heute erfahren." Die Worte schmecken bitter. Ich balle meine Hand zu einer Faust. Grabe meine Fingernägel in meine Handfläche. East presst seine Lippen aufeinander.
"Das tut mir leid", brummt er und sieht mich mitleidig an. Ich zucke nur mit den Schultern. Das Mitleid meines besten Freundes wird auch kein Wundermittel erfinden, um Toby weiterleben zu lassen, oder ihn auf mysteriöse Art zu heilen.
"Es ist einfach nur so verdammt unfair", presse ich hervor, "warum trifft es immer die Unschuldigen? Die, die überhaupt nichts gemacht haben und trotzdem so einen hohen Preis bezahlen müssen?"
East nickt zustimmen und senkt seinen Blick. Es scheint so, als wäre seine gute Laune mit einem Male verflogen. Stattdessen faltet er seine Hände ineinander und seufzt dann.
"Nicht jeder bekommt die Chance alt zu werden. Deshalb sollten wir jeden Tag dankbar sein, den wir hier sein dürfen." East seufzt und zuckt mit den Schultern. "Ich weiß, dass Toby dir viel bedeutet und dass er dir auch durch die Zeit im Krankenhaus geholfen hat. Deshalb denke ich, dass es jetzt wichtig ist, dass du für ihn da ist. Auch wenn es schwer ist."
Ich nicke. Und verdrehe die Augen. Weil East schon wieder Recht hat. Wie ungefähr immer. Ich presse meine Lippen noch fester aufeinander und versuche den aufkommenden Schmerz in meinem Brustkorb zu ignorieren.
Mein bester Freund hat Recht. Ich muss für ihn da sein. So oft Monopoly mit ihm spielen, wie nur möglich. Mit ihm so viele Wimmelbücher durchsuchen, bis uns die Augen weh tun. Schokolade und Gummibärchen ins Krankenhaus schmuggeln, bis mich doch irgendwann eine Krankenschwester erwischt.
Weil wir nicht mehr oft die Chance dazu haben werden.
Und scheiße, das ist so verdammt unfair.
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