FÜNF - Judy
Die letzten vier Tage waren auf ihre eigene Weise wunderschön. Wir haben viel Zeit mit Papa verbracht, uns gegenseitig auf den aktuellsten Stand gebracht und die letzten Jahre in Revue passieren lassen. Val wurde in die Kunst des Schachspielens eingeweiht und hat nicht nur jedes einzelne Spiel verloren, sondern von Papa und Zac einstimmig den Titel des schlechtesten Schachspielers Allerzeiten verleiht bekommen.
Am Tag nach unserer Ankunft haben wir uns zu Fünft aufgemacht und sind zum Zentrum der Stadt gegangen. Dort, wo wir früher unsere Nachmittage verbracht haben, wenn wir uns getraut haben, die Schule zu schwänzen. Komischerweise hat sich in den letzten zwei Jahren kaum etwas verändert. Es fühlte sich ehrlich gesagt ein bisschen komisch an, Val die ganzen vertrauten Gassen, Häuser und Läden zu zeigen. Für mich gab es hier nur Colleen, Miles, Zac und mich. Keine Valery, Aly, Ryan oder sonstige Personen. Dieser Ort hier gehörte nur uns Ross-Geschwistern.
Trotzdem genoss ich es, meiner besten Freundin die ein oder andere lustige Geschichte zu erzählen. Wie zum Beispiel, als Zac von der ganzen Pfarrgemeinde verdächtigt wurde, die Babypuppe aus der Krippe gestohlen zu haben und deshalb das Jesuskind an Weihnachten spielen musste. Oder als Miles dabei erwischt wurde, das Haus unseres früheren Schuldirektors zusammen mit seiner Jahrgangsstufe mit Klopapier zu dekorieren.
Miles ist besonders stolz darauf, dass er seinen Hot Dog Rekord gebrochen hat. Als wir traditionell in dem kleinen und ins Alter gekommene Bistro der Stadt Mittag gegessen haben, hat er sage und schreibe siebzehn Hot Dogs verdrückt und damit sogar Hank, den Besitzer des Bistros staunen lassen.
Mrs. Morrison, unsere alleinlebende achtzigjährige Nachbarin hat sich vor allem gefreut Zac wieder zu sehen und ihm zu erzählen, welche neuen Kuchensorten sie in letzter Zeit gebacken hat. Früher hat mein Bruder es sich zur Aufgabe gemacht, sie mindestens einmal pro Tag zu besuchen, ihr die Zeitung zu bringen und ihr ein bisschen Gesellschaft zu leisten. Mrs. Morrison bestand irgendwann darauf, ihm täglich ein kleines Gebäck zu backen und so wurde aus den beiden ein interessantes Expertenpaar, was verschiedene Aromen und Geschmacksstoffe von Kuchen betrifft. Überflüssig zu erwähnen, dass Zac, seitdem wir weggezogen sind, kaum mehr ein Stückchen Gebäck angefasst hat.
Valery dokumentierte quasi jeden Schritt von uns mit Bildern und Videos, die sie Aly und vor allem Lucas schickte. Anfangs war er überhaupt nicht begeistert, dass sie zusammen mit mir ein paar Tage wegfährt, aber nachdem Val ihm die neusten Ereignisse geschildert hat, wünschte er uns lediglich viel Spaß und bat um viele Fotos.
Ich hätte es mir viel schwieriger und aufwühlender vorgestellt, wieder hier zu sein. Es ist nach wie vor nicht einfach, in dem Bett meiner Zwillingsschwester zu schlafen und aufzuwachen, aber es ist okay. Ich fühle mich ihr beinahe etwas näher, weil mich so viele Dinge an Colleen erinnern. Selbst als wir zu unserer alten Highschool gefahren sind, überfluteten mich nur die guten und schönen Erinnerungen.
Colleen, die lachend unsere Volleyball-Mannschaft anfeuerte. Colleen, die überglücklich die Homecoming-Einladung annahm. Colleen, die mich dazu überredete, zur Halloweenparty als Engelchen und Teufelchen zu gehen. Colleen, die sich über das Amt als Jahrgangssprecher unglaublich gefreut hat.
„Alles okay?", möchte Miles von mir wissen. Ich zucke zusammen und blicke zu meinem Bruder auf. Er sieht mich besorgt an. Schnell nicke ich und richte meine Aufmerksamkeit auf das schwarze Eisentor vor uns. Val drückt meine Hand, während ich das Blumenmuster des Tores betrachte und versuche zu verdrängen, was hinter den hohen, Backsteinmauern liegt.
Zac räuspert sich leise und wagt einen zaghaften Schritt nach vorne. Langsam hebt er die Hand und drückt die Klinke nach unten. Mit einem leisen Knarren schwingt das Tor auf und gibt uns den Blick auf die vielen Gräber frei. Mit hängenden Schultern bleibt er stehen und atmet schwer ein und aus.
Miles tritt einen Schritt nach vorne und legt eine Hand auf seinen Rücken, während ich Halt bei Valery suche. Seit dem Unfall war ich kein einziges Mal hier. Als Colleen beerdigt wurde, lag ich im Krankenhaus und seitdem brachten wir es nicht mehr übers Herz, hierher zurückzukommen.
Miles geht langsam durch das Tor. Der Kies knirscht unter seinen Schuhen. Val drückt meine Hand erneut ermutigend und folgt meinem Bruder, zieht mich quasi hinterher. Vorbei an Zac, der wie eine Salzsäure erstarrt dasteht und mit großen Augen Miles hinterherblickt. Mein Herz krampft sich zusammen, als ich die ersten Schritte über den Friedhof gehe.
Ich hasse Orte wie diese. Ich brauche kein Loch in der Erde, um mich an meine Zwillingsschwester erinnern zu können. Keinen Stein, der mir in Erinnerung ruft, wann sie aus unserem Leben gerissen wurde. Und keine Blumen, die vorheucheln, wie sehr wir sie vermissen.
„Ich bin da, alles okay", flüstert meine beste Freundin neben mir leise. Ich nicke nur und merke, wie sich langsam Tränen in meinen Augen sammeln. Ich weiß, wo Colleen begraben wurde, im Grab meiner Großeltern. Miles geht schnurstracks darauf zu und es sind nur noch wenige Meter, bis wir den dunklen Stein erblicken.
Ich mag die Atmosphäre auf Friedhöfen nicht. Es ist zu ruhig, zu kalt, zu steril. Zu traurig und zu einsam. Es ist kein Ort, wo ich sein möchte, wenn ich an meine Angehörigen denken möchte. Viel eher ist dies ein Ort, den ich meiden möchte. So selten wie möglich besuchen möchte.
Ein Stein reiht sich an den anderen. Namen sind in ihnen eingemeißelt. Erinnern an Menschen, die ich nie kennenlernen durfte. Beweisen mit Bildern, dass es diese Personen wirklich gegeben hat und sie mehr sind als ein paar Zeichen. Ein eiskalter Wind weht über uns und lässt mich erschaudern.
Hinter uns höre ich leise Schritte. Zac schleicht mit einigen Metern Abstand hinter uns her. Den Kopf gesenkt, die Schultern hochgezogen scheint er kaum wahrzunehmen, wo er entlanggeht.
Wir haben uns den schwierigsten Part für den letzten Tag unseres Besuchs Zuhause aufgehoben. Ob unbewusst, oder genau geplant, darüber lässt sich streiten. Vermutlich eine Mischung aus beidem. Miles vor uns bleibt stehen.
Ich blicke auf und stocke, als ich die Dekoration des Grabes vor uns sehe. Ich weiß, dass Papa es wichtig ist, dass alles gepflegt und ordentlich ist, weil es immer Colleen war, die unsere Einfahrt mit Blumen bepflanzt und dekoriert hat.
Das weiße, schlichte Herz verschwimmt vor meinen Augen und ich hebe vorsichtig meinen Blick, hoch zur goldenen Inschrift. Lese Colleens Namen. Unseren Geburtstag. Das Datum des Unfalls. Ihr Todestag.
In meinem Brustkorb breitet sich ein Druck aus, als ich das Bild von ihr sehe, das neben ihrem Namen angebracht wurde. Lächelnd, strahlend. Wenige Sekunden bevor dieses Foto entstanden ist, hat Jack Walter sie gefragt, ob sie sein Date zum Homecoming-Ball sein möchte. Sie war den ganzen Tag so unglaublich glücklich und redete von nichts anderem.
Mein Blick wandert zurück zu der dunklen Erde. Es scheint mir unwirklich, dass dort unten Colleen liegt. Eingebettet in einem engen Kasten. Dass dort unter uns die Überreste meiner Zwillingsschwester sind.
Eine Gänsehaut breitet sich auf meinen Armen aus und ich blicke auf zu Miles. Mit versteinerter Miene starrt er auf das Grab. Er hat die Hände ineinander gefaltet und seine Kiefer fest aufeinandergepresst. Vorsichtig strecke ich meine linke Hand aus und lege sie auf seinen Unterarm. Er wirft mir einen fragenden Blick zu und nimmt dann meine Hand in seine. Val zu meiner rechten streicht mir über den Rücken und legt ihren Kopf auf meiner Schulter ab.
Ich bin unglaublich froh, dass sie dabei ist. Auch wenn sie Colleen nie kennengelernt hat. Vielleicht gerade darum. Weil sie alles gerade etwas ... erträglicher macht. Weniger traurig. Weil sie der Beweis ist, dass es irgendwie weitergeht.
Ich schniefe leise und betrachte wieder den riesigen Stein vor uns. Drei Namen stehen darauf. Der von Oma. Opa. Und Colleen.
Ich merke, wie sich alles in mir sträubt zu glauben, dass das der Ort ist, an dem ich meiner Zwillingsschwester so nah sein soll, wie nirgendswo anders. Anders als erwartet merke ich jetzt, dass dieses Grab, dieser Friedhof nur ein Symbol, ein Ort ohne wirkliche Bedeutung ist.
Immer und immer wieder lese ich das Todesdatum. Erinnere mich an die letzten kostbaren Minuten, die wir gemeinsam verbracht haben. Als wir zusammen im Auto gealbert haben. Zac geflucht hat, als die Ampel so lange auf Rot war. Als wir losrollten. Und Colleen plötzlich aufgeschrien hat, als sie die Lichter des anderen Autos gesehen hat. Als für einen Moment lang die Zeit stillstand.
Ich ziehe scharf nach Luft ein und versuche den Kloß in meinem Hals zu ignorieren. Zwei Wochen lang wollte ich es nicht glauben, dass Colleen wirklich tot ist. In meinem tiefsten Inneren wusste ich, dass Mama mich nicht anlügen würde, dass Miles Tränen nicht gespielt waren. Und trotzdem wartete ich jeden Tag darauf, dass meine Schwester fröhlich grinsend in das Zimmer spazieren würde.
Erst als ich dann Zac sah, bleich, mit Schrammen im Gesicht und kaum fähig ein Wort zu sprechen war mir klar, dass sie wirklich nicht mehr da ist. Dass sie einfach weg ist. Wie ausradiert.
Eine heiße Träne kullert über mein Gesicht als ich an die schlimme Zeit zurückdenken muss. Was uns einerseits alle näher hat zusammenrücken lassen, hat auch bis zu einem gewissen Grad die Familie zerstört. Uns alle ein kleines bisschen kaputt gemacht. Manche mehr und manche weniger.
Valery bückt sich und legt einen Strauß von vier Rosen auf dem Grab ab. Eine Rose von jedem von uns. Mein Blick bleibt an den Blumen haften. Jede einzelne von ihnen ist wunderschön. Es waren zwar nie die Lieblingsblumen von Colleen, aber ich weiß, dass sie sie gemocht hat.
Neben mir ertönt ein leises Schluchzen. Ich blicke auf und sehe, wie Zac sich seine Hand vor den Mund presst. Tränen strömen über sein blasses Gesicht.
„Tut mir leid", bringt er mit erstickender Stimme hervor, wendet sich dann hastig ab und eilt mit schnellen Schritten in die Richtung des Ausgangs. Ich sehe Miles an, der besorgt unserem Bruder hinterherblickt. Dann nickt er knapp und lässt Valery und mich alleine zurück und joggt Zac hinterher.
Ich umklammere die Hand von Val fester und schließe für einen Moment die Augen. Jeder einzelne Herzschlag fühlt sich an wie ein Messerstich. Jeder einzelne Herzschlag fleht darum, Colleen wieder sehen zu dürfen. Mit ihr wieder zu lachen und Streiche für Miles und Zac zu planen. Jeder einzelne Herzschlag möchte es nicht wahrhaben, dass hier wirklich die Stelle ist, wo sie für immer bleiben soll.
„Es fühlt sich so unwirklich an", flüstere ich schließlich leise, als ich die Augen wieder öffne und wieder die vier Rosen ansehe. „Jeden Tag hoffe ich, dass sie zurückkommt."
„Kann ich mir vorstellen", murmelt Valery und seufzt dann leise.
Ich kann nicht genau sagen, wie lange wir noch hier stehen bleiben. Keiner von uns beiden sagt etwas. Meine Finger sind mittlerweile eiskalt und es fühlt sich so an, als würde für eine Zeit lang die Welt um uns herum stillgestanden sein. Ich habe wirklich das Gefühl, als wäre ich Colleen nahe. Und gleichzeitig habe ich das Gefühl, als wäre ich so weit weg von ihr wie ich es noch niemals war.
Irgendwann atme ich tief ein und aus. Lasse Valerys Hand los und drehe mich um. Ich blicke nicht mehr zurück, als ich zum Auto gehe und das Grab meiner Schwester hinter mir lasse.
__
Die Verabschiedung von Papa fiel uns allen leichter als gedacht. Zac sagte kaum ein Wort, ich war mit einem Mal viel zu aufgewühlt, weil es nach Hause ging und so übernahm vor allem Miles den Part des Redens. Val nahm den prall gefüllten Proviantkorb entgegen und musste sich einen letzten Spaß über ihre nicht vorhandenen Schachkünste anhören.
Es ist bereits fast Mitternacht, als wir uns alle ins Auto setzen und Zac den Wagen startet. Leise Musik dudelt aus den Lautsprechern. Miles macht sich über die erste Packung Snickers her, während ich stumm aus dem Fenster schaue. Helle und bunt erleuchtete Häuser ziehen an uns vorbei. Wir lassen die vertrauten Straßen, die vielen Erinnerungen an Zuhause hinter uns und biegen schon bald auf den Highway ein.
Die Auszeit vom Alltag ist vorbei. Übermorgen wird die Schule wieder beginnen. Ich werde meine Freunde wieder sehen. Und... Vince.
Mein Herz krampft sich zusammen, als ich an ihn denke. Und an die Silvesternacht. An Hayden. Den Kuss. Und das geschockte Gesicht von ihm, als ich sein Geheimnis herausgefunden habe. Tränen sammeln sich in meinen Augen und die Nacht draußen verschwimmt langsam.
Nicht jetzt. Nicht heute und auch nicht wegen ihm. Er ist es nicht wert, auch nur noch eine weitere Träne zu opfern.
Ich kuschle mich tiefer in meine Decke und konzentriere mich auf die sanften Klänge der Musik. Und schließe die Augen.
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Der Motor brummt nicht mehr, als ich langsam die Augen öffne. Von draußen blenden mich helle Reklameschilder. Ächzend stütze ich mich etwas auf und erkenne, dass wir wohl an einer Tankstelle stehen müssen. Valery neben mir schnarcht leise.
Ich gähne geräuschlos und massiere meinen steifen Nacken. Mein rechtes Knie knackt leise, als ich versuche, mich etwas zu strecken.
Während der Fahrt muss ich wohl eingeschlafen sein. Müde reibe ich mir etwas Schlaf aus den Augen und merke, dass auch das Radio verstummt ist. Im Wageninneren ist es stickig. Ein Zeichen dafür, dass seit der Abfahrt von Papa wohl schon einige Zeit vergangen ist.
Auch der Fahrersitz vor mir ist leer, nur Zac sitzt auf dem Beifahrersitz.
„Wo sind wir?", frage ich müde und versuche irgendwo eine Ortsangabe zu erkennen.
„Im Nirgendwo", brummt mein Bruder und dreht sich dann um zu mir. Seine Augen sind vor Müdigkeit ganz winzig. „Wir standen die Hälfte der Fahrt über im Stau und sind vielleicht effektiv zwei Stunden gefahren. Miles und ich machen jetzt einen Fahrerwechsel." Er deutet über seine Schulter zu dem kleinen Tankstellenhäuschen, in dem sich wohl mein anderer Bruder befindet. Ich nicke nur und lasse mich in meinem Sitz zurücksinken.
Zwei Stunden bedeuten, dass wir noch nicht einmal ansatzweise in der Nähe der Grenze sind. Unser Plan, dass wir morgen Vormittag Zuhause sein werden, ist dann wohl somit geplatzt. Valery neben mir grunzt leise und verändert ihre Schlafposition.
„Alles okay bei dir?", möchte Zac leise wissen. Ich nicke nur und werde von einem weiteren Gähnen übermahnt. Mein Blick wandert zu dem großen blinkenden Reklameschild, das direkt neben unserem Auto steht und die Spritpreise anzeigt.
Auch vom Beifahrersitz höre ich ein lautes Gähnen. Mein Bruder ächzt leise, als er sich versucht zu strecken. Durch die Dunkelheit im Wagen kann ich kaum etwas erkennen, allerdings bin ich mir ziemlich sicher, dass er von der Fahrt tot müde sein muss.
„Wollen wir Plätze tauschen?", frage ich deshalb und schiebe meine Decke zur Seite. „Ich kann für Miles das Navi spielen und du kannst etwas schlafen."
„Aber wirklich nur, wenn das okay ist für dich." Zac dreht sich zu mir nach hinten und gähnt wie zur Bestätigung meiner Vermutung erneut.
Ich öffne die Wagentür als Antwort und steige aus. Kalte Nachtluft umhüllt mich und lässt mich frösteln. Ich schlinge meine Arme um meinen Oberkörper und humple um das Auto herum, auf die andere Seite, wo sich gerade mein Bruder aus dem Beifahrersitz schält.
„Hier", meint er und drückt mir zwei Pappbecher in die Hände. „Kaffee. Mein Handy liegt im Handschuhfach. Die nächsten drei Stunden sollte der Akku noch herhalten." Er gähnt erneut. Eine schwache Laterne über uns erhellt sein Gesicht und offenbart, wie rot seine Augen sind. Zac streicht sich eine zerzauste Haarsträhne aus dem Gesicht und nimmt dann meinen Platz auf der Rückbank ein.
Ich bleibe noch einen Moment draußen stehen und atme die kalte, aber frische Nachtluft ein. Der Sauerstoff strömt in meine Lungen und vertreibt auch das letzte bisschen Müdigkeit. Die beiden Kaffeebecher in meinen Händen sind angenehm warm. Über uns funkeln die Sterne und offenbaren den wolkenfreien, nachtschwarzen Himmel. Früher habe ich Roadtrips wie diese geliebt. Lange Fahrten mit dem Auto, mitten in der Nacht. Die Aufregung, wenn man seinem Ziel nahekommt. Die Insider, die während der Fahrt entstanden.
Seufzend steige ich schließlich wieder ins Auto ein. Von der Rückbank höre ich regelmäßige Atemzüge. Zac hat sich in die Decke eingekuschelt. Er sieht beinahe friedlich aus. Ein Lächeln schleicht sich auf meine Lippen, während ich meinen großen Bruder so entspannt schlafen sehe.
In dem Moment kommt Miles zurück aus der Tankstelle. Als er mich auf dem Beifahrersitz sitzen sieht runzelt er die Stirn, sagt aber nichts. Wortlos steigt er ein und startet den Motor. Mit einem Blick in den Rückspiegel versichert er sich, dass alles in Ordnung ist. Auch er muss beim Anblick des schlafenden Zacs lächeln und fährt dann los in die Richtung des Highways.
Wir sind das einzige Auto, das unterwegs ist. Um uns herum reine Finsternis, lediglich die Sterne am Himmel funkeln auf uns herab. Bis auf das leise Schnarchen von meiner besten Freundin und den sanften Gitarrenklängen im Radio ist es still.
Wie schön es erst wäre, wenn Vince jetzt hier wäre...
„Es war ziemlich hart heute, oder?", sagt Miles und reißt mich so aus meinen Gedanken.
„Ja", brumme ich zustimmend und denke an die Minuten zurück, die wir am Grab unserer Schwester standen. Eine unerwartete Schwere legt sich auf meine Schultern, die ich auch die nächsten beiden Stunden der Fahrt nicht mehr abschütteln kann.
Das Navigieren erweist sich als unnötig, da wir den Highway kein einziges Mal verlassen. Miles und ich reden kein Wort, sondern lauschen der Musik im Radio. Mein Bruder leert die beiden Kaffeebecher in Rekordzeit und trommelt mit den Fingern ungeduldig auf dem Lenkrad herum.
Zac und Valery schlafen nach wie vor. Ich lehne meinen Kopf gegen die eiskalte Fensterscheibe und merke, wie auch meine Augenlider langsam schwer werden. Wir kommen gut voran, bis nach Hause sind es aber noch mindestens vier, wenn nicht sogar fünf Stunden.
Übermorgen wird die Schule beginnen. Der Alltag wird wieder einkehren. Die Pause wird vorbei sein. Vielleicht ist auch das der Grund, warum ich die Zeit zwischen Weihnachten und dem neuen Jahr so mag. Weil alles friedlich zu sein scheint. Keine Probleme. Keine...
Fast automatisch wandern meine Gedanken zurück zu Vince. Mein Brustkorb wird eng. Noch immer habe ich mich nicht getraut, mein Handy einzuschalten. Es liegt gut verstaut ganz unten in meiner Reisetasche. Ich glaube nicht, dass ich es schaffen würde, seine Nachrichten zu lesen. Falls er mir überhaupt welche geschrieben hat. Vielleicht ist er gerade bei Hay. Und lachen beide über meine Dummheit, ihm zu vertrauen. Vielleicht...
„Du denkst an ihn." Es ist keine Frage, eher wie eine Feststellung. Miles wirft mir einen kurzen Seitenblick zu. Ich seufze nur leise und wische mir mit den Händen über das Gesicht. Meine Augen brennen verdächtig und mein Pulsschlag geht mit einem Mal doppelt so schnell als noch vor wenigen Augenblicken.
„Er hat dich nicht verdient", fährt Miles fort. Ich schlucke und nicke dann. Weil ich weiß, dass er recht hat. Es hat keinen Sinn, einem Jungen hinterher zu weinen, der so einen Mist gebaut hat, wie Vince es getan hat. Der eine Person mit gutem Gewissen so hintergehen kann. Der so sehr mit Gefühlen spielen kann, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.
„Ich kann nicht glauben, dass er das wirklich getan hat. Ich dachte, ich würde ihn kennen", erwidere ich mit heiserer Stimme. Noch immer scheint es mir unwirklich, dass ich mich so sehr in ihm getäuscht habe. Damals, als wir uns die ersten Male gesehen haben, ich ihn abgeblockt habe, weil Hayden so stinksauer war, als wir uns zum ersten Mal geküsst haben, wir Weihnachten zusammen verbracht haben... All die Zeit, war ich mir sicher, dass er ehrlich handeln würde. Dass er es ernst meint mit uns beiden und genau das Gleiche fühlt wie ich.
„Kann ich mir vorstellen." Miles seufzt leise. „Hat er sich wenigstens schon bei dir gemeldet?"
„Weiß ich nicht", erwidere ich ehrlich. „Ich habe das Handy noch nicht eingeschaltet, seitdem du es mir wieder gegeben hast."
„Vielleicht besser so", meint mein Bruder knapp. „Du kannst dir nie sicher sein, ob das Lügennetz vielleicht nicht noch mehr gesponnen wird." Ich runzle die Stirn und öffne meinen Mund, um Vince zu verteidigen. Allerdings... hat Miles irgendwie recht. Vince hat mich schon einmal hintergangen. Er ist mit Hayden zusammen, deshalb ist ihnen alles zuzutrauen. Oder? Ich stöhne frustriert auf und vergrabe mein Gesicht in meinen Händen.
„Ich dachte immer, du und er seid gut klargekommen", brumme ich dann. Neben mir höre ich Miles laut ausatmen.
„Ich mochte ihn am Anfang nicht wirklich. Und genau dann, als ich ihn langsam akzeptiert habe, verletzt er meine Schwester. Das schießt ihn automatisch ins Abseits."
Er beschleunigt den Wagen. Instinktiv versteife ich mich und kralle mich am Stoff des Sitzes fest. Obwohl ich eigentlich schon längst selbst Autofahren dürfte, traue ich mich nicht hinter das Steuer. Zu groß ist die Angst, dass sich die Ereignisse der einen Nacht wiederholen könnten. Mit mir als Fahrer. Mama hat schon oft versucht mich überreden, zumindest eine kurze Strecke zu fahren. Aber ich kann nicht. Es ist, als würde man in meinem Gehirn einen Hebel umlegen, sobald ich nur ans Fahren denke. Und mit einem Mal funktioniert gar nichts mehr.
Ich starre nach draußen. Hinauf, zu den Sternen. Dort, wo hoffentlich meine Zwillingsschwester ist. Ob sie uns zusieht? Ob sie auf uns aufpasst, damit wir gut Zuhause ankommen?
Zuhause.
„Verdammte Scheiße", flucht Miles leise, als ein Auto uns entgegenkommt und nicht abblendet. Er drückt auf die Hupe und beschleunigt den Wagen erneut. Ich merke, wie meine Augen langsam immer schwerer werden. Irgendwann genehmige ich mir mehrere Sekunden, in denen ich sie komplett schließe.
Ich denke wieder an Zuhause. An Mama.
Und vor allem an Vince.
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