ZWEIUNDVIERZIG - Vince
Weihnachten bei Judys Familie ist nicht das Weihnachten, das ich kenne. Die Stimmung ist viel eher gedrückt, es wird nicht so viel gelacht und geredet, wie bei mir Zuhause. Kierra hat viel gekocht, der Esstisch biegt sich förmlich unter den vielen Schüsseln. Trotzdem rührt kaum jemand etwas an.
Ab und zu versucht Judys Mutter die Stimmung etwas aufzulockern, schafft es aber kaum. Judy saß neben mir, war blasser als sonst und rührte ebenfalls kaum einen Bissen an. Selbst Miles, der normalerweise für eine ganze Lacrosse-Mannschaft isst, schob seine Kartoffeln nur über den Teller und aß nicht wirklich etwas.
Ich war ehrlich gesagt froh, als das Abendessen vorzeitig beendet wurde und jeder sich zurückzog. Zac war der erste, der wieder nach oben lief, Miles ging mit Judys kleiner Schwester ins Wohnzimmer, während Judy und ich Kierra beim Abwasch halfen.
Anschließend machten wir noch einen Abendspaziergang, den wir aber ebenfalls eher schweigend verbrachten. Ich sah Judy deutlich an, dass sie mit den Gedanken ganz wo anders und nicht bei mir war. Ich würde sie gerne verstehen, aber es ist mehr als offensichtlich, dass ich noch nie in so einer Situation war, wie sie. Weshalb wir die ganze dreiviertel Stunde schweigend Hand in Hand an der frischen Luft verbrachten.
Über Nacht hat es geschneit, der Schnee glitzert im Licht der Laternen in den Vorgärten. Trotzdem ist es schweinekalt und ich sehen mich innerlich nach den warmen Räumen bei Judy Zuhause. Ich lege einen Arm um sie, als ich sehe, dass auch sie leicht bibbert und drücke mich enger an sich. Judy seufzt leise.
Unter einer Laterne bleiben wir stehen. Judy zittert am ganzen Körper. Ich sehe sie an und runzle die Stirn. Sie presst ihre Augen fest zusammen und krümmt sich zusammen. Das kann nicht von der Kälte kommen.
„Alles okay?", frage ich alarmiert und ziehe sie ein kurzes Stück weiter zu einer kleinen Bank. Mit meinem Jackenärmel befreie ich die Sitzfläche von etwas Schnee, setzte mich hin und ziehe Judy auf meinen Schoß, damit ihre Hose nicht nass wird.
„Meine Prothese zwickt", keucht Judy und legt ihren Kopf auf meine Schulter. Ich streichle ihr über den Rücken und halte sie fest. Schweigend sitzen wir auf der Bank, Kälte kriecht in meine Zehen, aber im Moment interessiere ich mich nur für meine Freundin.
Es macht keinen Sinn, sie nach Hause zu schleppen, wenn sie Schmerzen hat. Ob wir nun fünf Minuten länger hier draußen in der Kälte sitzen, macht auch schon keinen Unterschied mehr. Judys Atmung beruhigt sich mit jeder Sekunde. Ich spüre das Plastik ihres Kunstbeines und streichle ihr über ihren Oberschenkel. Bei der Berührung zuckt sie zusammen. Ich stütze mein Kinn auf ihrem Kopf ab und atme dann leise aus.
Eine Rauchwolke steigt aus meinem Mund auf. Ich beobachte den Nebel, bis er sich komplett zerstreut hat. In dem Haus gegenüber von uns sehe ich den Weihnachtsbaum leuchten. Auf den Straßen hier draußen ist es ruhig, vermutlich verbringt jeder den Abend mit seiner Familie.
„Ich hasse Weihnachten, seitdem Colleen nicht mehr hier ist." Judys Stimme ist mehr wie ein Wispern. Ich seufze leise, weil ich ehrlich gesagt nicht weiß, was ich darauf erwidern soll. Stattdessen drücke ich sie mehr an sich.
Ich kannte Judys Zwillingsschwester nicht. Keine Frage. Ich stelle mir oft vor, wie sie vielleicht war. Das Aussehen bereitet mir keine Probleme. Eine zweite Judy. Ich habe mir oft die Bilder angesehen, die im Zimmer meiner Freundin stehen, die beiden sahen eins zu eins gleich aus. Schenkt man den ganzen Kinderfilmen Glauben, dann sind die Charaktere von Zwillingen gerne gegensätzlich. Während ein Zwilling aufgeweckt und abenteuerlustig ist, ist der andere oft eher nachdenklich und zurückhaltend. Ich habe schon oft darüber nachgedacht, welcher von beiden denn nun Judy ist. Vermutlich eher der Denker.
„Colleen machte sich schon immer ein halbes Jahr vor Weihnachten Gedanken darüber, was sie uns schenken könnte", reißt mich Judy aus meinen Gedanken. Ich schlucke schwer. Judy atmet zittrig aus und wischt sich mit ihren Händen schnell über das Gesicht. Sie kuschelt mich noch mehr an sich.
„Weihnachten war das wichtigste Fest für sie. Sie hat es geliebt, dass die ganze Familie zusammenkam, sich Zeit füreinander nahm. Wenn sie sehen würde, wie Weihnachten jetzt abläuft, Papa allein in Alabama, würde sie vermutlich einen Anfall bekommen."
Sie lacht bitter auf und richtet sich dann auf. Traurig sieht sie mich an. Ich nehme ihre Hand in meine und drücke sie fest.
„Deine Eltern sind noch nicht lange getrennt, oder?", frage ich sie. Judy starrt an mir vorbei, presst ihre Lippen aufeinander und schüttelt dann langsam den Kopf. Ihre Fingerspitzen sind eiskalt. Ich schließe meine Hand um sie, um sie etwas zu wärmen.
„Sie trennten sich vor ziemlich genau zwei Jahren. Kurz vor dem Unfall. Mama ist mit Jackie hierhergezogen, während der Rest von uns bei Papa blieb." Sie neigt ihren Kopf zur Seite, den Blick noch immer auf etwas hinter uns gerichtet. Sie verliert sich sichtlich in ihren Gedanken, während sie still auf meinem Schoß sitzt.
Ich seufze leise und starre auf unsere Hände. Sie sind gerötet vor Kälte, trotzdem genieße ich das Gefühl von Judys Hand in meiner.
„Weihnachten war für mich nie etwas Besonderes", sage ich leise. „Für mich war es nur ein weiteres Fest, für das man viel zu viel Geld ausgeben musste und wo dann die Familie zusammenkommt, um einen auf Happy Family zu machen." Judy wendet mir ihren Blick wieder zu und runzelt die Stirn. Ich seufze abermals und zucke mit den Schultern.
„Im Krankenhaus habe ich an meiner Gesundheit gearbeitet, um wenigstens wieder Weihnachten mit meiner Familie verbringen zu kommen. Ich habe mich doch tatsächlich darauf gefreut, dieses Fest daheim zu feiern. Es war plötzlich nicht mehr ein Tag, an dem man gespielt fröhlich ist, sondern ein Tag, an dem man sich gegenseitig ein kleines Stück aufbaut, indem man zusammen feiert."
Judys Augen schimmern verdächtig, während sie wie gebannt an meinen Lippen hängt. Sie nickt leicht und schnieft dann wieder. Ich drücke ihre Hand und lehne meine Stirn gegen ihre Schulter.
„Ich hätte niemals gerechnet, dass dieses Weihnachten das schönste wird", flüstere ich leise. „Und weißt du warum? Weil ich nie gedacht hätte, dass du dabei sein wirst. Du lässt mich verstehen, warum Weihnachten das Fest der Liebe heißt, Judy."
Ich hebe meinen Blick und sehe, wie mich meine Freundin traurig anlächelt. Ich zwinge mich ebenfalls zu lächeln. Judy beugt sich zu mir und in dem Moment, als sich unsere Lippen berühren, steht die Welt für eine Sekunde still.
___
Ich werde am nächsten Morgen von einem Fußtritt geweckt. Gähnend öffne ich meine Augen einen Spalt und sehe, wie Judy fest umschlungen mehr auf als neben mir liegt. Ich lächle selig vor mich hin. Sie hat ihren Kopf auf meiner Brust gebettet und atmet gleichmäßig. Mein Herz pocht bei dem Anblick gleich drei Takte schneller. Und ich bemühe mich, mich nicht zu bewegen, um sie nicht aufzuwecken.
Mein Blick wandert weiter nach unten. Judy hat ihren Stumpf um meinen Rumpf geschlungen. Ich schlucke schwer, als ich mir das, was von ihrem Bein noch übrig ist, genauer ansehe. Dicke, dunkelrote Narben zieren ihre Haut. Unvorstellbar, wie es für sie gewesen sein musste, wenn man plötzlich ohne Bein aufwacht. Ich neige meinen Kopf ein Stückchen zur Seite. Die Narben verlaufen kreuz und quer über den Stumpfen. Es sieht so aus, als hätten die Ärzte einen Flickenteppich zusammengenäht.
Schnell wende ich meinen Blick ab und atme tief durch. Um ehrlich zu sein, es sieht wild aus. Aber es gehört zu Judy dazu. Und ich akzeptiere das. Dieser Stumpfen ist ein Teil von Judy und macht sie zu dem Mädchen, in das ich mich verliebt habe. Ich lausche ihren ruhigen Atemzügen und streiche ihr über ihren Oberarm.
Ich bewundere Judy für ihre Stärke. Sie lebt so weiter, als wäre nichts passiert, als hätte sie nicht ein halbes Bein verloren.
Aber hatte sie denn eine andere Wahl? Was hätte sie deiner Meinung nach tun sollen? Sich in ihrem Zimmer einschließen und hoffen, dass ihr Bein nachwächst? Hoffen, dass die Ärzte doch noch eine Möglichkeit finden, das alte Bein anzuflicken?
Ich wickle eine ihrer dunkelbrauen Haarsträhnen um meine Finger. Der frische Duft ihres Shampoos steigt hoch zu mir und ich schließe die Augen. Ich bin noch immer müde, trotzdem weiß ich, dass ich nicht mehr weiterschlafen kann.
Mit Hayden konnte ich nie so lange liegen bleiben. Sie stand jeden Tag pünktlich um sechs Uhr auf, um um halb sieben ihren täglichen fünf Kilometer Morgenlauf zu absolvieren. Es war für sie kein Geheimnis, dass ich dieses Ritual hasste und trotzdem schleppte ich mich immer mit nach draußen, wann immer wir die Nacht zusammen verbrachten.
Ich höre lautes Getrampel und ein leises Quietschen, das eindeutig von Jackie stammt. Das Trampeln wird lauter, bis plötzlich die Tür von Judys Zimmer aufgerissen wird. Meine Freundin zuckt in meinem Arm zusammen und reibt sich verschlafen die Augen, während ein aufgeregtes Kleinkind im Zimmer auf und ab hüpft.
„Judy, Judy! Geschenke!", brüllt sie aufgeregt. Sie klatscht in ihre Hände. Ich muss grinsen. Jackies Haare sind zerrauft und sie steckt in einem ziemlich niedlichen Pyjama, auf dem lauter kleine Weihnachtsmänner aufgedruckt sind.
„Aufstehen!", quietscht sie und läuft dann hinaus auf den Flur. Sie ruft laut nach Miles, der wohl das nächste Opfer ihrer Weckaktion ist. Judy vergräbt ihren Kopf in meinem T-Shirt und grummelt etwas Unverständliches. Ich lache leise und streiche ihr über ihren Hinterkopf.
„Guten Morgen", flüstere ich leise und blicke in das verschlafene Gesicht meiner Freundin. Judy gähnt leise und schenkt mir einen Guten-Morgen-Kuss auf die Wange. Ich helfe ihr, aus dem Bett zu kriechen und möchte ihr ihre Prothese reichen, doch meine Freundin schüttelt den Kopf.
„Heute nicht", murmelt sie heiser und gähnt erneut. „Feiertag."
Sie sucht nach meiner Hand und zusammen bezwingen wir die Treppe nach unten ins Wohnzimmer. Jackie tanzt aufgeregt um den Weihnachtsbaum herum. Judys Mutter sitzt mit einer Tasse Kaffee auf dem Sofa und sieht ihrer kleinen Tochter zufrieden zu.
Judy seufzt leise und lässt sich auf die Kante des Sofas sinken, während wir den geschmückten Baum ansehen. Kleine Päckchen tummeln sich darunter und die Socken über dem Kamin sind ebenfalls reichlich gestopft.
„Morgen", brummelt Miles, als er in den Raum kommt. Er trägt ebenfalls noch seine dunkelrot karierte Schlafanzughose und die sonst so perfekt frisierten Haare stehen wild von seinem Kopf ab. Er lacht, als er seine Schwester sieht, die ihn sofort an den Händen nimmt, um zusammen mit ihm ihren Weihnachtstanz fortzusetzen.
Als letztes kommt Zac nach unten. Er nickt uns nur knapp zu, bevor er sich auf den Beistellsessel sitzt und seine Beine dicht an seinen Oberkörper zieht.
Man sieht Jackie richtig an, wie sehr sie sich freut, als sie das erste Päckchen an Miles weiterreicht. Die beiden sitzen zusammen vor dem Baum. Miles liest die Namen vor, die auf dem Geschenkpapier verteilt sind und Jackie verteilt die Geschenke eifrig. Auch ich bekomme ein kleines Päckchen. Judy lächelt mich an und drückt meine Hand fest.
Vorsichtig löse ich das Papier und halte daraufhin ein Buch mit den Grundlagen der Medizin in meinen Händen. Andächtig streiche ich über das Stethoskop, das auf dem Cover abgebildet ist und lächle Judy dankbar an. Judy erinnert sich. Ich erinnere mich zurück an eines unserer ersten Gespräche, in denen ich ihr offenbart habe, dass ich später Medizin studieren möchte. Dass sie sich immer noch daran erinnert, wundert mich ein kleines bisschen, andererseits freut es mich natürlich umso mehr.
Judy wird ihr Geschenk heute Abend bei mir Zuhause bekommen. Mein Herz pocht schnell bei den Gedanken daran und ich hoffe wirklich, dass es ihr gefallen wird.
Jackie quietscht bei ihren Geschenken jedes Mal zufrieden auf und zeigt es uns allen ganz genau. Zusammen mit Miles baut sie eine Kugelbahn auf und spielt eifrig damit. Ich ziehe Judy in meinen Schoß. Sie lehnt ihren Kopf zurück an meinen Brustkorb und verschränkt ihre Finger mit meinen.
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Am späten Nachmittag fahren wir zu meinen Eltern. Wir wollen die Nacht zusammen bei mir verbringen und morgen zusammen mit meiner Familie feiern. An der Haustür wird Judy herzlich von Mama begrüßt. Meine Eltern haben ein wahnsinnig leckeres Abendessen vorbereitet. Zu viert sitzen wir im Esszimmer. Im Hintergrund dudelt leise Weihnachtsmusik.
Judys Augen glänzen, als sie mit meinen Eltern redet. Glücklich sehe ich ihnen zu. Meine Freundin gestikuliert mit ihren Händen und beginnt zu lachen. Mama stimmt mit ein, während Papa das Dessert vorbereitet. Zimteis mit heißer Schokolade.
Wir sitzen lange zusammen beieinander und erst spät nach Mitternacht wünschen wir uns eine gute Nacht. Judy und ich machen uns schweigend bettfertig, während mein Herz schneller zu pochen beginnt. Gleich wird sie mein Geschenk bekommen und ich hoffe sehr, dass es ihr gefällt.
In meinem Zimmer kuschelt sich Judy sofort unter die Bettdecke und stöhnt dann laut auf.
„Mein Bauch ist zu voll", jammert sie gekünstelt. Ich grinse und ziehe mir ein altes T-Shirt über. Judy sieht mich lächelnd an, als ich oberkörperfrei vor ihr stehe. Ich merke, wie ich rot werde und ziehe mir den Saum des T-Shirts schnell über den Bauch. Früher hätte ich es genossen, wenn mich Mädchen so angesehen hätten, wie sie in diesem Moment. Früher war mein Körper auch durchtrainiert. Jetzt fehlen mir Muskeln an ungefähr jeder Stelle.
Ich lege mich zu ihr und ziehe sie fest an mich. Stumm sehen wir uns an. Mein Blick wandert zu ihren geschwungenen Lippen, auf denen ein zufriedenes Lächeln liegt. Judy sieht mich mit großen Augen an. Ich lache leise. Wieder fällt mir auf wie unglaublich hübsch sie doch ist.
Tief durchatmend fische ich ein kleines Päckchen aus meiner Nachttischschublade. Ich habe mir wirklich Mühe gegeben, aber vermutlich könnte sogar Jackie Geschenke besser einpacken als ich. Mein Herz pocht nervös, während ich es Judy gebe.
„Frohe Weihnachten", flüstere ich leise in ihr Ohr, als Judy mit großen Augen das Päckchen entgegennimmt und dann langsam die zu groß geratene Schleife löst. Am liebsten würde ich ihr sagen, dass sie sich beeilen soll. Wie auf Kohlen sitze ich da und sehe ihr zu, wie sie nach und nach das Papier löst. Nervös halte ich die Luft an, als sie die kleine Schatulle öffnet und mich dann mit großen Augen ansieht.
„Vince", haucht sie ehrfürchtig und starrt auf das kleine Kettchen, das sie in den Händen hält. Mit den Fingerspitzen holt sie es aus der Schatulle und sieht sie sich genauer an. Ein kleines Armkettchen mit einem geschwungenen Herz, das mit Silbersteinchen bestückt ist. Judy lacht leise und sieht mich dann an.
„Ich hoffe, es gefällt dir", sage ich leise. Judy nickt schnell. Ich sehe Tränen in ihren Augen schimmern. Ist das ein gutes Zeichen?
Sie legt die Kette zurück in die Schatulle, stellt diese auf dem Nachttisch ab und schenkt mir dann den schönsten Kuss, den ich bisher bekommen habe. Ihre Hände umspielen mein Gesicht, während wir uns zusammen nach hinten sinken lasse und ich bete, dass diese Nacht niemals endet.
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