VIERZEHN - Vince
Die alten Scheibenwischer legen sich mächtig ins Zeug, um die Massen an Regen, die im Sekundentakt auf die Windschutzscheibe prasseln, wegzuwischen. Ich biege langsam in die Straße ein, in der Hayden wohnt. Hier, im Randbezirk der Stadt, sieht wirklich jedes Haus so aus, wie in den typischen amerikanischen Filmen. Perfekt gepflegte Vorgärten, riesige Autoschiffe stehen in den Einfahrten und am Morgen sieht man mindestens zwei Senioren, die ihre übergewichtigen Dackel zum Morgengassi zwingen.
Mein Herz pocht schneller, als ich vor dem kleinen Vorhaus von Hayden's Familie parke. Ich stelle den Motor von Mamas altem Auto ab und atme tief durch. Einerseits freue ich mich darauf, Hayden wieder ganz für mich allein zu haben, andererseits muss ich die ganze Zeit an Judy denken und daran, was sie mir erzählt hat. Hayden und ich müssen definitiv reden. Ich seufze und meine Gedanken driften ab zu dem Moment, als Judy mir erzählt hat, dass sie aufgrund eines Unfalls ein Bein verloren hat. Wie sie plötzlich aufgesprungen ist und aus dem Café hastete. Habe ich etwas falsch gemacht? Lag es an mir? In den letzten Tagen habe ich mir ständig darüber den Kopf zerbrochen, bin aber zu keinem wirklichen Entschluss gekommen. Ich seufze erneut, kratze mich im Nacken und schiebe mein Handy in die Hosentasche. Danach steige ich aus dem Auto und haste zu dem kleinen Vordach der Veranda, um mich vor dem Regen zu schützen.
Es sieht noch alles so aus, wie ich es in Erinnerung habe. Das kleine Nummernschildchen ist nach wie vor an der rechten oberen Ecke etwas kaputt. Die vielen kleinen Blumenkästchen sind nach wie vor mit den farbenfrohsten Blumen bepflanzt, eines der vielen Hobbys von Haydens Mutter. Ich lächle, als ich sehe, dass kein einziges Pflänzchen Unkraut zwischen den vielen bunten Blüten hervorblitzt. Tief durchatmend hebe ich meine Hand und klingle an der Haustür. Der vertraute Ton erklingt im Inneren des Hauses und ich gehe einen Schritt nach hinten, um zu warten, bis mir geöffnet wird. Es dauert keine zehn Sekunden, da wird die Haustür aufgerissen und Lucy, Haydens kleine Schwester, steht im Türrahmen. Sie starrt mich mit großen Augen an und quietscht dann laut auf. "Vinci ist da, Vinci ist da!", brüllt sie und hastet auf mich zu. Ich lache, gehe in die Hocke und schließe das kleine Mädchen in meine Arme. "Hallo Lucy", begrüße ich sie und muss erneut lächeln, als sie mich mit der Kraft, die eben ein vier-jähriges Kind aufbringen kann, an sich drückt. Die Tatsache, dass Lucy sich noch an mich erinnern kann, obwohl sie mich so lange Zeit nicht gesehen hat, berührt mich doch ziemlich. "Wo warst du?", will sie von mir wissen, als sie sich von mir löst. Sie stemmt ihre Arme in ihre Hüften und sieht mich streng an. Ich muss grinsen und wuschle ihr durch ihre schwarzen, kurze Haare. "Ich war lange Zeit krank", versuche ich ihr zu erklären. Sie runzelt die Stirn und tippt sich mit ihrem Zeigefinger gegen die Lippen. Schließlich zuckt sie mit den Schultern. "Okay. Und bist du jetzt wieder gesund?" Ich beiße mir auf meine Unterlippe und schlucke den Kloß, der sich plötzlich in meinem Hals gebildet hat, wieder hinunter. "Ich denke schon, ja", erwidere ich. Lucy grinst und klatscht in ihre kleinen Hände. "Ich habe dir ganz viele Bilder gemalt. Eigentlich wollte ich sie dir schon früher geben, aber du bist ja so lange nicht mehr gekommen..." "Lucy, glaubst du nicht, dass es besser wäre, wenn du Vince erst mal hereinkommen lässt?" Ich blicke auf und sehe Hayden im Türrahmen hinter Lucy stehen. Ihre blonden Locken fallen in sanften Wellen an ihr herab. Sie trägt ein weites, hellblaues T-Shirt und eine schlichte, graue Jogginghose. Ihre Kleidung ist nicht auffällig und trotzdem sieht sie umwerfend aus. "Hey", sage ich und beuge mich über Lucy hinüber, um Hayden einen Kuss zu geben. "Hey", erwidert sie und umschließt mein Gesicht sanft mit ihren langen Fingern. Lucy macht laute Würgegeräusche und kassiert dafür einen strafenden Blick von ihrer großen Schwester.
Kichernd schlüpft sie unter uns beiden durch und läuft durch den langen Flur ins Wohnzimmer. Hayden seufzt leise und nimmt meine Hand, um mich ebenfalls ins Haus zu ziehen. Wärme umhüllt mich und ich schlüpfe schnell aus meinen Schuhen, um keinen unnötigen Schmutz auf den Teppichboden zu hinterlassen. Hayden lächelt mich an, verschränkt ihre Hände in meinem Nacken und küsst mich erneut sanft. Zwischen zwei Küssen lacht sie leise, bevor sie ihre Stirn gegen meine lehnt und leise seufzt. Ich atme langsam aus und genieße den Moment mit ihr. Bei ihr Zuhause. Haydens süßer Duft umfängt mich und ich genieße jeden Atemzug, den ich nehme. Schließlich lösen wir uns doch voneinander und meine Freundin verflechtet ihre Finger in meine, bevor wir in ihr kleines Zimmer gehen.
Sie hat einige Möbel umgestellt, die Wände neu gestrichen und trotzdem ist es noch immer irgendwie Haydens Zimmer. Das zarte Babyrosa an den Wänden, über das sie immer gemeckert hat, wurde nun von zarten hellgelben Streifen überstrichen. Über ihrem gläsernen Schreibtisch hängt eine riesige Weltkarte und an der Wand direkt gegenüber von uns hängt eine riesige Fotowand. Ich spüre einen Stich in meinem Herzen, als ich in der Mitte ein Foto von Hayden und mir hängen sehe. Es war in dem Sommer vor meinem Unfall, wir haben in den Ferien beinahe an jedem Wochenende einen Trip mit einer Gruppe von Freunden zu einem kleinen Badesee in der Nähe gemacht. Das Foto zeigt Hayden und mich küssend im glitzernden Wasser. Hinter uns der riesige See, dahinter der dichte Wald, der den See von allen vier Seiten umgibt. Das Foto steckt in einem Bilderrahmen in Herzform und ist das größte von allen.
"Wow", sage ich und lächle Hayden von der Seite an. "Hier hat sich ziemlich viel verändert." Meine Freundin nickt langsam und presst ihre Lippen aufeinander. "Gefällt es dir?" Ich nicke langsam und grinse dann. "Viel besser als dein altes Babyrosa." Haydn zieht eine Schnute und boxt mir gegen den Oberarm. Dann lacht sie. Laut und frei. Kleine Lachfältchen bilden sich um ihre Augen und das Glitzern in ihnen, das ich an den vielen Tagen im Krankenhaus vermisst habe, kann ich zu meiner Freude ebenfalls entdecken. Dann blitzt plötzlich ein anderes Gesicht vor mir auf.
Judy.
Wie sie mit blassem Gesicht vor mir sitzt, kaum ein Wort herausbringt, ihre Hände zitternd unter dem Tisch versteckt und dann wie vom Blitz getroffen aus dem Krankenhaus rennt. Bei dem Gedanken an sie wird mir übel und ich beiße mir auf die Unterlippe. Hayden beugt sich erneut zu mir und legt ihren Kopf auf meiner Schulter ab. "Ich bin so froh, dich endlich wieder für dich zu haben. Und nicht ständig Angst haben zu müssen, dass uns eine Krankenschwester unterbricht", flüstert sie. Sie macht sichtliche Anstalten, mich zu küssen, doch ich atme tief durch und drücke sie an den Hüften sanft, aber trotzdem bestimmt weg. Hayden runzelt die Stirn und sieht mich fragend an.
Mein Herz beginnt schneller zu pochen und ich habe irgendwie Angst vor dem Gespräch, das gleich folgen wird. "Hayden", presse ich hervor und weiche ihrem Blick aus. "Ich glaube, wir...wir sollten reden." Ich ziehe sie zu ihrem Bett und nehme darauf Platz. Hayden setzt sich neben mich hin und verschränkt ihre Beine zu einem Schneidersitz. Ich verschränke meine Finger ineinander und suche die richtigen Worte, um das Gespräch zu beginnen. Gibt es dafür überhaupt die richtigen Worte?
Hayden nimmt mir die Entscheidung ab. "Du...hast aber keine schlechten Nachrichten bezüglich deiner Gesundheit, oder?" Ich verneine schnell und kratze mich dann im Nacken. "Es ist so..", beginne ich und seufze dann. "An...an meinem ersten Schultag hast du mir gesagt, dass sich ... Dinge verändert haben." Ich halte kurz inne und hole tief Luft. Ich fokussiere meinen Blick auf das kleine Karomuster von Haydens Bettdecke, um ihr nicht ins Gesicht blicken zu müssen. "Aber...kann es auch sein, dass... ich meine, hast du dich... vielleicht auch etwas verändert?"
Hayden antwortet nicht sofort und ich halte für einige Sekunden die Luft an. Habe ich das wirklich gerade gesagt? Wirklich laut ausgesprochen? Die Sekunden ziehen sich zäh wie Kaugummi und mein Herz pocht mit jeder Millisekunde, die verstreicht ein Stückchen schneller. Von Hayden erhalte ich keine Reaktion. Schließlich traue ich mich und hebe vorsichtig meinen Blick. Meine Freundin sitzt stocksteif vor mir. Ihr Gesicht ist blass wie die weiße Wand hinter ihr und ihre Hand zittert, als sie sich eine Strähne hinter ihr Ohr streicht.
"Vince", beginnt sie leise, ihre Stimme kaum mehr als ein Windhauch. "Du warst acht Monate lang im Koma...natürlich habe ich mich auch verändert." Sie beißt sich auf ihre Unterlippe. Auf ihrem Hals breiten sich rote Flecken aus. Ich seufze leise und schüttle dann langsam den Kopf. Hayden sieht mich mit leicht geöffnetem Mund an. Natürlich habe ich mich auch verändert. Mir war klar, dass sich viele Dinge und auch Menschen verändert haben. Nur war mir nicht klar, wie sehr sie sich verändert haben. das beste Beispiel dafür ist nun Hayden. "Hör zu", setze ich erneut an. Ich schließe die Augen und atme tief durch. "Ich habe mich wieder mit Judy getroffen. Wir hatten zufällig zur gleichen Zeit Physio und...naja, wir haben geredet. Und...sie hat mir auch erzählt, dass auch du mit ihr geredet hast." Ich hebe meinen Blick und sehe, wie Hayden ihre Lippen fest aufeinanderpresst. Ihre Augen schimmern verdächtig und sie holt schnappartig Luft. "Hayden, sei jetzt bitte ehrlich zu mir", sage ich, meine Stimme zittert verdächtig.
Hayden wischt sich mit ihren Handballen über die Augen und atmet dann tief durch. "Ich wollte dir dadurch doch nur helfen. Du hattest einen so schweren Einstieg und...ich...ich wollte...ich meine...ich meinte es nur gut für deine Gesundheit und ich hatte den Eindruck, dass du von ihr genervt warst." Ich schüttle den Kopf und nehme ihre eiskalten Hände in meine. Meine Freundin hebt ihren Kopf und sieht mir in die Augen. "Das ist lieb von dir gemeint", erwidere ich und seufze dann. "Aber, hör mal, Judy und mich verbindet irgendetwas...Besonderes. Wir haben es beide nicht so ganz leicht und trotzdem machen wir beide weiter." Hayden presst ihre Kiefer fest aufeinander und sieht mich verzweifelt an. "Vince, hörst du dir eigentlich selber zu?" Ich runzle die Stirn und sehe Hayden fragend an. Meine Freundin entwindet ihre Hände aus meinem Griff und fährt sich hektisch durch ihre Haare. "Du sagtest, dass dich und Judy etwas Besonderes verbindet. Merkst du denn nicht, wie viel Angst ich habe, dass ich dich verliere? Vielleicht bekommst du den Eindruck, dass ich deine Situation nicht so gut verstehen kann, wie eben...Judy." Sie spuckt Judy's Namen so aus, als wäre er Gift für sie. Ich zucke beim Klang ihrer Stimme zusammen und presse meine Lippen fest aufeinander. "Das ist kompletter Schwachsinn und das weißt du auch", murmle ich.
Hayden brummt etwas unverständliches, bevor sich das Schweigen über uns legt. Habe ich mich auf der Fahrt hierher nicht auf sie gefreut? Darauf, endlich wieder Zeit allen mit Hayden haben zu können? So unwohl wie in diesem Moment habe ich mich allerdings schon lange nicht mehr mit ihr gefühlt. Die Stille sagt gerade so viel mehr, als wir beide hätten beschreiben können. Seitdem ich zurück zur Schule gekommen bin, hat sich zwischen uns etwas verändert. Und das nicht gerade zum Positiven.
"An meinem ersten Schultag", beginne ich leise. "Da haben uns so viele jüngere Schülerinnen ängstlich angesehen. Ich dachte, dass es an mir liegt, aber kann es sein, dass es an dir lag?" Hayden zuckt beim letzten Teil meines Satzes zusammen. Ihre Hände zittern noch mehr und sie dreht ihren kompletten Oberkörper zur Seite. Ihre Schultern zucken verdächtig und sie wischt mit ihren Händen mehrmals über ihre Wangen. Die Flecken an ihrem Hals werden immer dunkler und ihre Atmung geht hektisch. So aufgelöst habe ich sie schon lange nicht mehr gesehen. Ich atme ruhig aus und räuspere mich dann. Ich merke, wie meine Hände langsam nass werden und ich wische sie mir an den Oberschenkeln ab. Irgendwie fühle ich mich schlecht, weil ich Hayden hier fast zum Weinen bringe und trotzdem habe ich das Gefühl, dass es richtig war, die komische Situation anzusprechen.
Wer weiß Vince, vielleicht möchtest du gar nicht erfahren, was sich alles verändert hat. Vielleicht hättest du alles blind hinnehmen sollen.
Nein, nicht, nachdem Judy so aufgelöst aus dem Krankenhaus flüchtete, nachdem ich Hayden erwähnt habe.
Meine Freundin weicht nach wie vor meinen Blick aus und hat noch nichts auf meine vorherige Aussage erwidert. Die Stille, die sich wieder zwischen uns ausbreitet ist noch schlimmer, als die von vorher und ich hasse es so sehr, dass wir zwei es so weit haben kommen lassen. "Hay?", frage ich deshalb leise. Sie erwidert nichts, sondern schluchzt einmal laut, bevor sie ihr Gesicht in ihren Händen vergräbt. In mir breitet sich Übelkeit aus, als ich Hayden vor mir zerbrechen sehe. Ihre Schultern beben und sie gibt sich sichtlich Mühe, möglichst still zu weinen. Ich strecke meine zitternde Hand aus und lege sie ihr auf den Rücken. Tränen steigen mir in die Augen, was mir immer passiert, wenn Menschen, die mir wichtig sind, vor mir weinen. Ich schlucke schwer und gebe ihr ihre Zeit, die sie braucht. Wie zu erwarten dauert es nicht lange, bis sich Hay wieder gefangen hat und sich die Haarsträhnen, die wegen ihren Tränen an den Wangen kleben, aus dem Gesicht streicht. Sie atmet tief aus und sieht mir tief in die Augen.
"Ich wollte nie, dass es so weit kommt", beginnt sie. Hayden zuckt mit den Schultern und schnieft dann. "Hat ja auch super geklappt." Sie lacht kurz und falsch und schüttelt dann den Kopf. Ich schlucke und sehe sie ruhig an. Keinen blassen Schimmer vor dem, was sie mir gleich sagen wird. "Es tut mir so leid", bringt meine Freundin noch hervor, bevor ein weiterer Tränenschwall über sie bricht. Ihr kompletter Körper krümmt sich zusammen und ich rücke näher zu ihr, um sie in den Arm nehmen zu können. Ihr dünner Körper schmiegt sich an mich und ich streichle ihr beruhigend über ihren Rücken. Fahre durch ihre geschmeidigen Locken und halte sie einfach nur fest. Hayden zittert am ganzen Körper. Sie gibt keinen Laut von sich, ab und zu hört man ein leises Schniefen. Mehr nicht. So war sie schon immer.
"Kurz...kurz nachdem du ins Koma gefallen bist", beginnt sie schließlich wieder und windet sich aus meiner Umarmung. Ich sehe sie stumm an und schlucke schwer. "Alle haben mich mit diesen bemitleidenden Blick angeschaut. So, als wärst du quasi schon tot und nicht nur...eingeschlafen. Das habe ich mir nämlich immer gesagt, weißt du? Dass du nur schläfst. Dass du eine anstrengende Zeit hinter dir hast und jetzt viel Schlaf brauchst. Ich wollte nicht daran denken, dass du quasi so gut wie tot warst. Und diese Blicke, die sie mir in der Schule zuwarfen....Sie gaben mir ein anderes Gefühl." Hayden räuspert sich und atmet tief durch. Sie schließt ihre Augen und fährt sich erneut durch ihre Haare. Ich erwidere nichts darauf und sehe sie nur an.
Wir haben nie oft darüber geredet, was sie durchgemacht hat, als ich im Koma lag. Gleichzeitig stellte sie mir kein einziges Mal die Frage: "Hast du das mitbekommen? Hast du gemerkt, dass ich da war?" Denn ehrlich gesagt, nein, ich habe nichts von alldem mitbekommen. Gar nichts. Was es nicht weniger schwer macht.
"Ich...ich wollte diese Blicke nicht mehr bekommen, weißt du? Es war schon schwer genug, dich im Krankenhaus liegen zu sehen, unwissend, ob ich jemals wieder mit dir reden kann. Es gab viele Nächte, in denen ich mich in den Schlaf weinte, wenn ich überhaupt einschlafen konnte. Irgendwann hatte ich dann keine Kraft mehr, auch in der Schule das alles zurückzuhalten. Und...dann dachte ich, dass es leichter sein würde, wenn ich zu jedem gemein sein würde." Ich lupfe meine Augenbraue und starre Hayden fragend an. Sie wollte...Menschen abstoßen, in denen sie gemein zu ihnen ist?
Hayden atmet tief durch und sieht mir tief in die Augen. "Ich weiß, dass es falsch war....Aber Vince, ich hatte alles. Oder besser gesagt, ich hatte nichts zu verlieren. Ich war und bin Captain der Cheerleader und habe mir deshalb einen gewissen Status erarbeitet." "Was kein Grund dafür ist, andere Menschen fertig zu machen", erwidere ich klamm und schüttle langsam den Kopf. Ich merke, wie sich immer mehr die Enttäuschung in mir ausbreitet. Selbst Haydens verheultes Gesicht hilft da nicht mehr. Wer ist dieses Mädchen, das hier vor mir sitzt?
"Vince, ich weiß, dass das falsch war, was ich gemacht habe", sagt sie verzweifelt. "Aber...so dumm es sich anhört, ich kann einfach nicht aufhören damit, verstehst du?" Ich schüttle stumm den Kopf und starre sie ausdruckslos an. "Nein, das verstehe ich nicht", erwidere ich. "Ich verstehe nicht, warum du noch immer damit weitergemacht hast, selbst nachdem ich wieder aufwachte. Ich weiß, dass es auch für dich schwer war...Aber warum hast du mir nie gesagt, wie schwer es für dich war? Und warum hast du gedacht, dass genau das der richtige Weg war?" Hayden weicht meinem Blick aus, dicke Tränen kullern über ihre Wangen. "Ich weiß es nicht", flüstert sie.
Hitze steigt mir ins Gesicht und ich atme laut aus. Hektisch fahre ich mir durch meine Haare und kratze mich im Nacken. Ich schließe meine Augen und versuche meine Gedanken und Gefühle zu sortieren. "Was...was hast du zu den Anderen gesagt? Vor allem zu den Mädchen, warum haben sie so viel Angst vor dir?" Hayden schüttelt schnell den Kopf. "Das..ich kann es dir nicht sagen, Vince", flüstert sie und sieht mich verzweifelt an. "Bitte zwing mich nicht dazu!"
Sie presst ihre Lippen fest aufeinander und schluchzt erneut leise. Nur, dass das bei mir inzwischen keine Wirkung mehr zeigt. Dieses Mädchen, das weinend vor mir sitzt, ist nicht mehr das Mädchen, in das ich mich verliebt habe. Nicht mehr das Mädchen, das mich sechs Monate lang im Krankenhaus besucht hat und mir wieder geholfen hat, das Sprechen, Essen, Gehen, ja, tatsächlich irgendwie alles wieder zu lernen. Dieses Mädchen vor mir ist mir fremd. Und das macht mir irgendwie Angst.
"So weit sind wir jetzt schon, ja?", frage ich und schüttle verständnislos den Kopf. "Du kannst es mir nicht sagen?" "Vince, Vince, bitte", weint Hayden verzweifelt und klammert sich an meinem Unterarm fest. "Ich wollte dich nicht verlieren..." Ich schniefe laut und sehe sie dann traurig an. Bei den nächsten Worten spüre ich bei jeder Silbe einen Stich in meinem Herzen. "Dafür ist es jetzt zu spät", flüstere ich. Meine Hand zittert, als ich aufstehen will. Blitzschnell schießen Haydens Hände vor und umschließen meine Handgelenke. "Vince, bitte..du kannst jetzt nicht gehen. Wir haben so viel gemeinsam geschafft, dann schaffen wir das hier auch noch..." Ich schüttle entschieden den Kopf. Eine erste Träne kullert über meine Wange, die ich schnell wegwische. "Nein, Hayden", bringe ich heiser hervor. "Das hier ist etwas ganz anderes...das hier bist nicht mehr du." Hayden bricht erneut in Tränen aus und ich schaffe es, ihre schlanken Finger von meinem Handgelenk zu lösen. Mir zerreißt es das Herz, sie so zu sehen und gleichzeitig ekelt es mich vor dem, was sie mir erzählt hat. Meine Gedanken wandern zurück zu den vielen angsterfüllten Blicken, zu Judys Reaktion...Was um alles in der Welt hat Hayden ihnen angetan? Möchte ich es besser gesagt überhaupt erfahren? Ich glaube nicht...
Ich fahre mir durch die Haare und kratze mich im Nacken. Ich höre Haydens hektisches Atmen hinter mir, als ich langsam aufstehe und zur Tür gehe. "Vince! Du kannst jetzt nicht gehen!" Haydens Stimme bricht, als sie mich anbettelt, bei ihr zu bleiben. Ich umschließe den kalten Türgriff und schließe die Augen. Merke, wie sich eine schwere Eisenkette um mein Herz legt. "Ich war bei dir, als du die ersten Gehversuche machen durftest. Ich war die ganze Zeit bei dir. Kam acht Monate lang ins Krankenhaus, um mit dir zu reden, obwohl du nie geantwortet hast. Ich habe dir alles erzählt, Vince..." Ich merke, wie sich Übelkeit in mir ausbreitet und schüttle schnell den Kopf. "Bitte, Hay, mach es nicht noch schwerer", flüstere ich heiser. Meine Stimme zittert, als ich die folgenden Worte sage. "Das wars mit uns. Es ist aus." Ich atme tief durch, öffne schnell die Tür und schlüpfe aus dem Zimmer. Die Tür ist noch nicht ganz hinter mir ins Schloss gefallen, als der erste Schluchzer aus mir herausbricht. Hinter mir höre ich einen lauten, spitzen Schrei von Hayden und gleich darauf ein Scheppern. Vielleicht das Bild von uns im Herz-Rahmen? Mein Blickfeld verschwimmt vor meinem Gesicht und ich stolpere die Treppe nach unten.
Meine Knie sind Klamm, meine Hände eiskalt. Ich habe gerade wirklich mit Hayden Schluss gemacht. Tränen strömen über meine Wangen und ich atme hektisch nach Luft. Mit Hayden, dein Anker der letzten sechs Monate. Blind schlüpfe ich in meine Schuhe und fische die Autoschlüssel aus meiner Hosentasche. "Cent?" Ich zucke zusammen und drehe mich um. Lucy steht im Türrahmen und sieht mich mit großen Augen an. Über uns höre ich weitere Schreie von Hayden, mit jedem Mal zucke ich zusammen. Ich murmle etwas Unverständliches und haste dann hinaus in den strömenden Regen. Schließe das Auto auf. Kraftlos lasse ich mich auf den Fahrersitz sinken. Tränen strömen über meine Wangen und ich muss mehrere Male tief Luft holen, bis ich wieder einigermaßen klar denken können. Mein Herz schreit vor Schmerz und ich trommle auf das alte Lenkrad vor mir ein. Muss würgen. Und schreien. Mein Hals brennt und ich suche blindlings die Zündung mit dem Schlüssel. Fahre los.
Zweimal fahre ich über ein Stoppschild, nehme einer Rentnerin die Vorfahrt und fahre mit hundert durch eine dreißiger-Zone. Ich nehme nichts von alldem war. Mein Herz trommelt wie wild gegen meine Brust. Einmal muss ich stehenbleiben. Würgend stehe ich neben dem Auto und sehe dabei zu, wie mein erbrochenes Frühstück vom Regen weggewaschen wird. Danach steige ich wieder ins Auto ein und fahre weiter. Beruhige mich erst wieder, als ich am anderen Rand der Stadt vor dem Haus stehenbleibe, in dem die einzige Person wohnt, die ich jetzt sehen möchte. Ich sprinte zur Veranda und klinge Sturm. Hämmere mit der Faust gegen die Haustüre. Lasse meine Stirn gegen das kalte Holz sinken. Weine. Schluchze. Würge. Die Haustür wird geöffnet und East sieht mich verschlafen an. Als er mich genauer ansieht, wird er sofort blass. "Alter?", fragt er leise, bevor ich mich in seine Arme sinken lasse und laut schluchze. East klopft mir auf den Rücken und sagt gar nichts. Hält mich fest. "East", schluchze ich und huste laut. "Alles gut", flüstert mein bester Freund und streicht mir fest über den Rücken. Ich schüttle schnell den Kopf und presse meine Augen fest zusammen. "East, ich glaube, ich habe Scheiße gebaut."
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