VIERUNDDREISSIG - Vince
"New York. Definitiv!"
Ich verdrehe die Augen und möchte die Kandidatin im Fernsehen am liebsten fest schütteln. Genervt breche ich eine weitere Reihe der Tafel Schokolade ab und sehe zu, wie der blonden Tussi erklärt wird, dass Washington die Hauptstadt der USA ist und eben nicht New York.
Mir ist langweilig. Sehr langweilig. Wäre es nicht so, würde ich nicht mit meiner uralten Jogginghose und einer inzwischen fast aufgegessenen Tafel Schokolade auf dem Sofa liegen und Quizsendungen ansehen. Mittlerweile bin ich mir aber nicht mehr sicher, ob die Sendungen die Intelligenz oder doch eher die Dummheit der Bevölkerung auf die Probe stellt.
Heute ist einer dieser Tage, an denen ich nur auf die Uhr schaue und warte, bis ich wieder schlafen gehen kann. Im Krankenhaus gab es oft solche Tage, seitdem ich entlassen worden bin keinen einzigen mehr. Und dann kam heute.
Mein Handy bimmelt leise und ich fühle mich wie ein Wal, als ich mich um neunzig Grad drehe, um es von unserem kleinen Wohnzimmertisch aufzuheben. Der Name meines besten Freundes leuchtet auf.
East
Alles gut bei dir? Ich würde noch kurz vorbeischauen. Ist das okay?
Ich grinse und tippe schnell zurück, dass ich es kaum erwarten kann. Zufrieden lasse ich mich wieder in die Kissen sinken und starre weiter auf den Bildschirm. Mittlerweile geht es mir schon wieder viel besser. Ehrlich, ich habe das Gefühl, als könnte ich Steine versetzen.
Ich verziehe mein Gesicht bei dem Gedanken daran, dass ich das Leichtgewicht Hayden kaum über den Platz tragen konnte. Gut, vielleicht kann ich eher kleine Gänseblümchen versetzen.
Inzwischen streiten sich der Quizmaster und die Kandidatin künstlich über eine weitere Frage. Da ich die schrille Stimme von Blondie nicht mehr aushalte, schalte ich den Fernseher komplett ab. Warum können Sender am Nachmittag nicht normales Programm bringen und nicht nur schlecht geschauspielerte Serien?
Ich ächze erneut, als ich nach meinem Handy auf dem Tisch greife und durch meine Instagram-Timeline scrolle. Überwiegend sehe ich dabei Bilder von Mädchen, die sich deren Gesichter halb verdecken. Und lese Kommentare von den besten Freundinnen, die beteuern, wie hübsch sie doch alle sind.
Ehrlich gesagt finde ich das affig. Warum poste ich ein Bild, auf dem ich nichts von mir sehe? Warum verdecke ich mir mein Gesicht? Oder vielmehr, warum verdecken sich die Mädchen die Gesichter? Ich kenne viele von ihnen von der Schule und kann versichern, dass jedes einzelne von ihnen auf ihre eigene Weise schön aussieht. Ernsthaft.
Nachdem ich einige Bilder gelikt und den Chat von Judy erfolgslos nach einer neuen Nachricht gecheckt habe, döse ich schließlich ein.
___
Das Klingeln unserer Haustür lässt mich hochschrecken. Orientierungslos blicke ich mich um, bis ich wieder weiß, wo ich bin. Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass es erst später Nachmittag ist, weshalb eigentlich nur mein bester Freund vor der Haustür stehen kann.
Weil ich keine Lust habe, aufzustehen, schreibe ich East, dass die Tür offen ist. Keine fünf Sekunden später höre ich, wie mein Kumpel in unseren Flur hineintritt, seine Schuhe auszieht und schließlich zu mir ins Wohnzimmer kommt.
"Was hättest du gemacht, wenn ich nicht ich wäre, sondern ein Serienkiller?", will East grinsend wissen und lässt sich schwungvoll auf meine ausgestreckten Beine fallen. Ich fluche bei dem plötzlichen Gewicht leise auf und reibe mir den Schlaf aus meinen Augen.
"Wenn du nicht vor der Tür gestanden wärst, dann hätte auch niemand meine Nachricht bekommen", erwidere ich schließlich. East zuckt mit den Schultern und legt seine Beine auf dem kleinen Tisch ab. Dann schnappt er sich die Tafel Schokolade von meinem Bauch und bricht sich ein kleines, inzwischen schon halb geschmolzenes, Stück ab.
"Ich bin ungefähr tot", grummelt er dann. "Der Coach wollte heute wieder an unserer Ausdauer arbeiten. Beim letzten Spiel waren wir ihm zu langsam, deshalb fiel heute der Kraftzirkel aus."
Ich grinse breit. Wenn sich unser Coach Ausdauertraining vornimmt, dann kann man nur hoffen, dass man es früh genug weiß. Nicht selten standen East und ich schon hinter den Zuschauertribünen, weil uns der Burger von Mittag wieder hochkam. Im Ernst, Ausdauerlauf ist bei diesen Trainingseinheiten das angenehmste.
"Dass es draußen ungefähr Minusgrade hat, scheint ihn auch nicht groß zu interessieren", brummelt mein bester Freund weiter und isst schließlich auch noch den Rest meiner Schokolade auf. Etwas traurig starre ich auf die leere Verpackung.
"Wer gewinnen will, muss auch trainieren", zitiere ich unseren Coach. East stöhnt laut auf und schüttelt dann den Kopf.
"Wohl eher, wer gewinnen will, muss sich den Arsch abfrieren, leiden und heulend auf dem Boden zusammenbrechen." Er verzieht sein Gesicht zu einer Grimasse, was mich laut auflachen lässt. Früher hätte ich genauso gejammert. Vor allem kurz vor der Winterpause war der Coach gnadenlos. Es kam einen so vor, als würde man härter und noch härter trainieren, während andere in der Welt der Plätzchen und heißen Schokolade schweben.
"Ich denke, das Training schadet dir nicht", witzle ich und klopfe mit meiner Ferse auf Eastons imaginären Bauch. Dieser wirft mir einen tötenden Blick zu, bevor er seinen Kopf wieder tief in das Polster hinter sich sinken lässt. East war schon immer der sportlichere von uns beiden. Während ich mich abschinden muss, dass das Weihnachtsessen nicht sofort ansetzt, startete er das neue Jahr ohne Probleme mit einem Six-pack. Trotz der vielen Kekse, Kuchen und Schokoladenpuddings, die er wie ein Staubsauger in sich aufsaugt.
"Alles okay bei dir?", will mein bester Freund von mir wissen. Ich weiß, dass er mit der Frage wirklich wissen möchte, wie es mir geht. Mir ist aber ehrlich gesagt nicht nach einem sentimentalen Gespräch zu Mute. Viel lieber würde ich ihm weiter beim Jammern zuhören.
"Es ist für dich vermutlich unvorstellbar", versuche ich das Gespräch deshalb in die lustige Richtung zu drehen, "aber ich vermisse es ehrlich gesagt, in die Schule zu gehen."
Mein bester Freund sieht mich zweifelnd an und schüttelt dann den Kopf.
"Du bist komisch", murmelt er und reibt sich dann seine Augen. "Wenn ich könnte, würde ich viel lieber den ganzen Tag auf dem Sofa liegen und Schokolade in mich reinstopfen. Glaub mir, alles ist besser als die Predigten vom Coach wegen der Feiertagsessen." Ich grinse und zucke dann mit meinen Schultern.
"In der Schule ist der Tag wenigstens sinnvoll genutzt."
Easton lupft eine Augenbraue.
"Ich für meinen Teil freue mich auf die Feiertage", erwidert er. Ich lache laut auf. Wenn man meinem besten Freund so zuhört, könnte man meinen, dass Weihnachten nächste Woche ist.
"Bis dahin ist es aber noch ein knapper Monat", teile ich East meine Gedanken mit. Er heult gekünstelt auf und steckt sich das letzte Stückchen seiner Schokolade in den Mund. Gedankenverloren kaut er vor sich hin und räuspert sich dann.
"Ich wollte dich noch etwas fragen", setzt er an und sieht mich ernst an. Innerlich seufze ich. Meine Bemühungen, einem ernsten Gespräch auszuweichen sind hiermit offiziell gescheitert. Ich hebe meine Augenbrauen und bereite mich auf die Frage von meinem besten Freund vor.
"Hast du schon mit Hayden geredet?", möchte er wissen.
Ich senke meinen Blick auf meine Hände und kaue gedankenverloren auf meiner Unterlippe. Er kann es sich mit Sicherheit denken, dass ich noch nicht mit ihr gesprochen habe. Es ist falsch von mir, keine Frage, aber trotzdem habe ich es einfach noch nicht geschafft, ihr gegenüber zu treten. Zumindest dann nicht, wenn sie nicht gerade bewusstlos auf dem Boden liegt.
"Ich habe es mir wirklich fest vorgenommen", beginne ich, "aber..." Ich breche ab und überlege, was denn nun eigentlich meine Ausrede ist. Der Gedanke, dass sie mich, während ich im Koma lag, betrogen hat, schmerzt nach wie vor. Dass sie sich in eine Bestie verwandelt hat, die alles in ihrem Umkreis verletzten und zerstören möchte, macht es auch nicht wirklich besser. Trotzdem habe ich mich in sie verliebt und trotzdem half sie mir durch meine Zeit im Krankenhaus.
Dann denke ich wieder an das Foto auf Instagram von Hayden an Thanksgiving. Zwei Tage später postete sie exakt das gleiche Bild noch einmal. Nur dieses Mal besser bearbeitet. Die roten Verletzungen waren nicht mehr zu sehen.
"Ist sie noch im Krankenhaus?", frage ich Easton und atme dann tief durch. Er presst seine Lippen aufeinander und schüttelt dann den Kopf.
"So weit ich weiß, wird sie heute entlassen", erwidert er mir. Seine dunklen Augen mustern mich, während ich fieberhaft nach einer Ausrede suche, nicht zu ihr zu fahren. Es ist kindisch von mir, diesem Gespräch auszuweichen.
Hayden geht es schlecht, gefühlt mit jedem Tag schlechter. Von dem starken Mädchen ist nicht mehr viel mehr über als ein kleines, blondes Elend, das verzweifelt nach einem Rettungsanker sucht. Schuldgefühle wachsen in mir und ich weiß, dass das einzig richtige ist, mit ihr zu reden.
"Okay", antworte ich und seufze dann schwer. "Dann werde ich sie morgen besuchen."
_____
Es fühlt sich komisch an in der Einfahrt der Coyns zu stehen. Vor zwei Jahren war es das normalste der Welt, mein Auto hier zu parken, heute fühlt es sich viel mehr wie eine kleine Mutprobe an. Es hat sich kaum etwas verändert, seitdem ich das letzte Mal vor knapp einem Monat hier war. Wie denn auch.
Mit steifen Schritten gehe ich zur Haustüre und klingle. Ich atme tief durch, während ich darauf warte, dass mir die Tür geöffnet wird. Mein Herz beginnt schneller zu pochen und ich bete innerlich, dass Hayden nicht zu Hause ist. Auch wenn ich weiß, dass das Schwachsinn ist.
Die Tür öffnet sich und Lucy grinst mich breit an.
"Vinci!", quietscht sie und stolpert schnell auf mich zu, um mich zu umarmen.
"Hey", begrüße ich sie und strubble ihr zärtlich durch ihre blonden Locken. Die gleichen Locken, wie sie auch Hayden hat.
"Lucy?", höre ich Hayden aus dem Inneren des Hauses. Sofort versteife ich mich und bereite mich auf die nächsten Minuten vor. Lucy löst sich von mir und stakst dann ins Haus, zu ihrer Schwester.
"Vinci ist da!", kräht sie. Ich räuspere mich und trete vor der Haustür von einem Fuß auf den anderen. Die Situation ist mir mehr als unangenehm und am liebsten würde ich ins Auto springen und davonfahren. Stattdessen straffe ich meine Schulter und schaue in den Hausflur, den Hayden gerade betritt.
"Vince?", flüstert sie heiser und bleibt wie versteinert stehen.
"Darf ich reinkommen?", frage ich. Hayden nickt nur, nach wie vor rührt sie sich nicht von der Stelle. Lucy schaut aufgeregt zwischen uns beiden hin und her und tanzt auf der Stelle.
"Warum warst du so lange nicht da?", will sie von mir wissen und springt um mich herum, als ich meine Schuhe ausziehe. "Ich habe ein neues Puzzle mit ganz vielen verschiedenen Prinzessinnen bekommen, das müssen wir beide unbedingt zusammen bauen!"
"Lucy", unterbricht Hay ihre kleine Schwester tonlos. "Geh bitte hinauf in dein Zimmer und spiele was, ja?"
Die kleine zieht einen Schmollmund, aber nach einem warnenden Blick von Hayden gibt sie schließlich nach und springt die Treppe auf allen vieren nach oben. Ich atme tief aus und blicke dann zu dem Mädchen vor mir. Auch sie sieht mich mit einem abgestumpften Blick an. Sie ist blass, hat tiefe Augenringe. Ihre Haare hat sie zu einem unordentlichen Knoten nach hinten gebunden. Außerdem trägt sie ein altes T-Shirt von mir.
"Was willst du hier?", flüstert sie leise. Sie hält sich an einer Kommode ein, ihre Fingerknöchel treten weiß hervor. Das Häufchen Elend, das hier vor mir steht, hat nichts mit Hayden Coyn zu tun. Sie ist nicht das starke Mädchen, das sie immer vorgibt zu sein. Mein Herz sticht bei ihrem Anblick und gleichzeitig rufe ich mir in Erinnerung, warum ich hier bin.
"Können wir reden?", frage ich sie. Sie nickt nur knapp. Gemeinsam gehen wir ins Wohnzimmer und setzen uns auf das Sofa. Hayden zieht ihre Beine dicht an sich und sieht mich dann beinahe schon ängstlich an.
Ich falte meine Hände ineinander und überlege, wie ich das Gespräch beginnen soll. So oft habe ich durchgespielt, was ich sagen möchte, aber jetzt fühlt es sich so an, als wäre es das Schwierigste der Welt. Fieberhaft suche ich nach den richtigen Worten. Auch wenn es nie das Richtige gehen wird.
"Wie geht es dir?", flüstere ich deshalb leise. Hayden wendet den Blick von mir ab und zuckt dann mit den Schultern. Rote Flecken erscheinen auf ihrem Gesicht, während wir schweigend nebeneinander sitzen.
"Ganz okay", erwidert sie. "Denke ich." Sie streicht sich eine lose Strähne hinter ihr Ohr und atmet dann tief durch. Ich sehe, wie ihre Augen mit jedem Atemzug glasiger werden und wende meinen Blick schnell von ihr ab. Es tut mir weh, sie so leiden zu sehen.
"Du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt", sage ich schnell. Ich höre Hayden bitter auflachen. Sie starrt geradeaus nach vorne, als wäre sie gar nicht wirklich anwesend. Besorgt mustere ich ihr Profil und erkenne, dass sie wieder sichtlich mehr abgenommen hat. Ihre Wangenknochen setzen sich deutlich ab und auch ihr Schlüsselbein hebt sich mehr als je zuvor hervor.
Ich schlucke schwer. Erkenne, dass Hayden ernsthafte Probleme hat. Und trotzdem verschließe ich meine Augen und wende meinen Blick ab. In meinem Brustkorb hämmert es und am liebsten würde ich aufstehen und davonrennen.
Ich habe es versucht. Ich habe es versucht, aber es macht keinen Sinn. Es macht keinen Sinn zu reden, sich verstehen zu wollen. Zwischen uns ist zu viel passiert, es wird nicht mehr so sein wie früher. Hayden ist anders. Ich bin anders. Wir sind anders.
"Warum hast du das gemacht?", durchbricht Hayden mein Gedankenchaos. Ich sehe sie fragend an. Noch immer starrt sie nach vorne zur gelben Wand. Vor der wir sonst immer getanzt haben, wenn wir abends alleine bei ihr waren. Beide verbotenerweise mit einem Glas Wein in der Hand.
"Ist das dein Ernst?", setze ich zur Gegenfrage an und schlucke dann schwer. Hayden zuckt nur mit den Schultern und atmet zitternd aus. Langsam schüttle ich den Kopf und rutsche ein Stückchen nach vorne, sodass ich nur noch auf der Sofakante sitze. Ich möchte nach Hays Hand greifen, doch sie zieht sie weg, so als wäre ich giftig.
"Ich hätte dich nie liegenlassen können", beginne ich langsam. Hayden weicht nach wie vor stur meinen Blick aus, ihre Unterlippe zittert verdächtig. "Es war offensichtlich, dass du Hilfe brauchst. Ich hätte dich nie... liegenlassen können."
Ich atme langsam aus und warte auf eine Reaktion von ihr. Hayden vergräbt ihr Gesicht in ihren Händen und schluchzt dann leise.
"Ich dachte, du hasst mich", flüstert sie. Verwirrt sehe ich sie an. Einzelne Strähnen fallen ihr ins Gesicht und verdecken ihr Profil. Ich kratze mich im Nacken und suche nach den richtigen Worten. Die Nervosität ist verschwunden. Ich empfinde mehr und mehr Mitleid mit dem Mädchen vor mir. Es kommt mir so vor, als hätte sie sich in ihrem Leben verrannt und wisse nicht mehr, wie sie sich befreien kann.
"Ich hasse dich nicht, Hay", erwidere ich sanft. Hayden kauert sich noch mehr zusammen und schluchzt erneut leise. "Ich habe dich nie gehasst. Ich bin nicht wirklich einverstanden mit dem, was du in der Schule abgezogen hast. Und schon gar nicht, was du getan hast, als ich... im Koma war." Ich räuspere mich.
Hayden blick auf, eine Träne kullert über ihr Gesicht, die sie schnell wegwischt.
"Du weißt...?", wispert sie und sieht mich mit großen Augen an. Ich presse meine Lippen aufeinander und nicke dann. Hayden spannt sich an, ihre Atmung beschleunigt sich.
"Hay", flüstere ich. Sie schüttelt nur den Kopf und wischt sich erneut Tränen aus dem Gesicht. Sie kämpft sichtlich mit sich selbst, wird von ihren Gefühlen überrannt. Und ich sitze neben ihr, habe keine Ahnung, wie ich ihr helfen soll.
"Ich bin nicht einverstanden mit dem, was du abgezogen hast", setze ich erneut an und atme tief aus. "Ich bin auch nicht damit einverstanden, was du gerade jetzt abziehst. Mit den anderen und vor allem mit dir selbst."
Über Haydens Gesicht kullern unkontrolliert Tränen. Ihre Unterlippe bebt und sie krallt sich im Stoff der Decke fest. Ihr Körper zittert vor Anspannung, während sie mir zuhört.
"Ich weiß, dass ich mich verändert habe", bringt sie zwischen mehreren Schluchzern hervor. "Und ich wünschte, ich wäre stärker und könnte mit der ganzen Scheiße hier klarkommen." Sie schüttelt langsam den Kopf. Ich fahre mir langsam durch meine Haare und presse meine Kiefer fest aufeinander.
Das Gespräch entwickelt sich in eine andere Richtung, als ich ursprünglich gedacht hätte. Vor mir sitzt keine wütende Hayden. Vor mir sitzt ein gebrochenes, kaputtes Mädchen. Und auch wenn ich allen Grund hätte, ihr böse zu sein, ich kann es nicht. Ich kann keinem Menschen böse sein, der so sehr leidet, wie Hay es gerade tut.
"Warum machst du das?", möchte ich deshalb von ihr wissen. Erneut lacht Hayden bitter auf und schaut wieder zur gelben Wand.
"Warum ich das gemacht habe?", zischt sie. "Weil ich nun endlich respektiert werde. Früher war ich nur das kleine Blondchen neben Vincent Holden. Jetzt bin ich Hayden Coyn. Ich bin Captain der Cheerleader. Jahrgangsbeste. Homecoming-Queen. Ich bin nicht mehr die Freundin von Vincent Holden, dem Lacrosse-Talent aus der zehnten Jahrgangsstufe, sondern Hayden Coyn."
"Aber das ist doch nicht der richtige Weg", erwidere ich verzweifelt und schüttle verständnislos den Kopf. Hayden ballt ihre Hände zu Fäusten und sieht mich von der Seite an. Sie weint noch immer, aber ich sehe etwas anderes in ihrem Blick aufblitzen. Zorn? Wut? Ich kann es nicht genau deuten.
"Was soll ich denn sonst machen?" Sie blickt hinauf zur Decke und atmet wieder mehrere Male langsam ein und aus. Ich denke an Judy. An ihre Reaktion, wann immer sie Hayden gegenüber stand. Wie zurückhaltend sie damals im Krankenhaus war, nachdem Hay mit ihr gesprochen hat. Sie zurechtgewiesen hat. Ich möchte gar nicht wissen, wie viele andere das Mädchen vor mir verletzt und verunsichert hat.
"Zumindest niemanden fertig machen, der sich das viel zu sehr zu Herzen nimmt", erwidere ich knapp. Hayden nickt langsam und faltet ihre Hände ineinander. Ich seufze und verlagere meine Position, da mein linkes Bein langsam einschläft.
"Das Foto von Thanksgiving auf Instagram", schneide ich das nächste Thema an. "Warum hast du es ausgetauscht?" Hayden schüttelt schnell den Kopf und streicht sich eine Haarsträhne hinter ihr Ohr.
"Ich weiß nicht was du meinst."
Ich seufze und neige meinen Kopf zur Seite.
"Du weißt genau, was ich meine."
Hayden öffnet ihren Mund, um etwas zu sagen. Und schließt ihn dann doch wieder. Geduldig warte ich auf eine Reaktion von ihr, doch sie bleibt stumm. Tränen laufen über ihre Wangen, während sie wie versteinert nach vorne sieht.
"Warum machst du das", flüstere ich und merke, wie ein Knoten in meinem Brustkorb zu wachsen beginnt. Es tut mir weh, sie so zu sehen. Mit einem Mal vergesse ich alles, was sie getan hat. Ich sehe nur das Mädchen vor mir, das stumm nach Hilfe schreit. Sich ihre Schwäche nicht eingesteht und sich mit jedem Atemzug tiefer in einen nicht endlosen Teufelskreis verrennt.
"Mir war es ein einziges Mal zu viel, Vince", wispert sie. Sie starrt auf den Boden. Schluchzt immer wieder leise und zittert am ganzen Körper. Am liebsten würde ich sie umarmen, doch ihre Reaktion auf meine Hand von vorhin lässt mich innehalten.
"Das sah nicht nach einem einzigen Mal aus", sage ich und atme tief durch. "Darf ich es mal sehen?"
Hayden zuckt zusammen und schüttelt schnell den Kopf. Instinktiv greift sie sich an ihren Unterarm und rutscht auf dem Sofa ein kleines Stück zurück. Sie sieht mich mit großen Augen an, ihr Gesicht scheint noch blasser zu sein als vorhin.
"Du solltest jetzt besser gehen", sagt sie tonlos. Ich schüttle seufzend den Kopf.
"Ich will dir doch nur helfen", antworte ich verzweifelt. "Bitte."
Wieder schüttelt Hay den Kopf. Sie hat aufgehört zu weinen. Ihre Haltung, ihr Blick, alles schreit förmlich, dass sie innerlich aus Angst und in Panik ertrinkt.
"Du solltest.. besser gehen", wiederholt sie. Ich seufze und erkenne, dass ich in einer Sackgasse angelangt bin. Langsam stehe ich auf, während Hayden förmlich aufspringt und zur Haustüre rennt. Noch bevor ich in meine Schuhe geschlüpft bin hält sie mir bereits die Tür auf und starrt auf den Boden. Ich aber lasse mir Zeit.
"Hay." Meine Stimme ist nicht lauter als ein Flüstern. Bei dem Klang ihres Spitznamens von früher spannt sich Hayden an. Trotzdem hebt sie ihren Blick nicht.
"Du sollst wissen", beginne ich und merke, wie meine Stimme zu zittern beginnt. "Du sollst wissen, dass du noch immer zu mir kommen kannst, wenn etwas ist. Ich habe dich nach der Trennung so abgestoßen, weil ich zu geschockt von dem war, was du getan hast. Das war falsch von mir. Aber ich weiß, dass du auch nur ein Mensch bist. Wir machen alle Fehler und ich...."
"Geh jetzt bitte", unterbricht mich Hayden. Sie sieht mir in die Augen. Ihr Gesicht ist übersäht von roten Flecken, ihre Augen sind geschwollen. Sie fleht mich förmlich an, dass ich sie verlasse. Tief durchatmend nicke ich knapp und gehe nach draußen. Ich stehe noch gar nicht richtig auf der Veranda, als ich höre, wie Hayden die Tür hinter mir ins Schloss knallt.
Ich nehme mir ein paar Sekunden Zeit, um zu verarbeiten, was ich die letzten Minuten gesehen und gehört habe. Starre in den Nachbarsgarten, wo zwei kleine Kinder sich gegenseitig fangen, kreischen und lachen.
In diesem Moment realisiere ich, dass Hayden noch verkorkster ist, als ich dachte.
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