SIEBZEHN - Judy
"Stopp!" Ich zucke zusammen und sehe Jackie erschrocken an. Sie schüttelt den Kopf und sieht mich mit großen Augen an. "Das Kleid soll hellblau sein und nicht pink!" Noch immer kopfschüttelnd drückt sie mir einen hellblauen Stift in die Hand und nimmt sich den Pinken, um damit die Flügel der Fee auszumalen, das sich aus ihrem Ausmalbild befindet. Hinter uns höre ich das leise Lachen von Miles, der mit einer Schüssel Chips auf dem Sofa lümmelt und sich die Sportschau ansieht. "Mach's du doch besser", ziehe ich ihn auf und muss dann doch grinsen. Ich widme mich dem Kleid, das einer strahlenden Prinzessin, die sich auf meinem Ausmalbild befindet, gehört.
"Gemma hat sich heute übrigens zu mir in der Mittagspause gesetzt", nuschelt mein großer Bruder, nachdem ich die Hälfte des Kleides ausgemalt habe. Ruckartig hebe ich meinen Kopf und sehe meinen Bruder interessiert an, der plötzlich ganz rote Wangen bekommt. "Sie sah recht hilflos aus mit ihrer Salatdose in der Mensa und dann habe ich sie zu mir an den Tisch eingeladen." Gemma ist ein Mädchen aus Miles Studiengang, für die er sich schon längere Zeit interessiert. So wie er jetzt von ihr redet, könnte man aber genauso gut meinen, die beiden wären in der ersten Klasse und Miles hat ihr ein selbst gepflücktes Gänseblümchen geschenkt. Irgendwie süß. Miles erzählt mir von dem Gespräch, dass er mit Gemma geführt hat. Dabei strahlen seine Augen immer mehr und er gestikuliert bei jedem Wort wilder mit seinen Händen. Ich merke immer mehr, wie sich mein Mund zu einem vorsichtigen Grinsen verzieht. Schon lange habe ich meinen Bruder nicht mehr so glücklich gesehen, wie jetzt in diesem Moment. Vor allem in der Zeit nach dem Unfall war es Miles, der von uns allen am meisten gelitten hat. Während Zac das Geschehene noch nicht realisieren konnte und ich mich auf meine Genesung konzentrieren musste, war es Miles, der eine ganze Woche lang nichts mehr gegessen hat und weitere zwei Monate kein Wort mit jemandem von uns gewechselt hat.
Ganz plötzlich tauchen wieder Bilder vom Unfall auf. Zac, der das Lenkrad ruckartig herumdreht. Miles, der sich vor den aufblitzenden Scheinwerfern wegduckt. Colleen, die mich mit panischen Augen ansieht und ihren Mund aufreißt. Für ihren letzten Schrei...
"Hörst du mir überhaupt noch zu?" Ich zucke zusammen und sehe Miles verdattert an. Dieser grinst schief und lupft eine Augenbraue. "Also was glaubst du? Blaues oder rotes Hemd?" Ich runzle die Stirn, woraufhin mein Bruder laut auflacht. "Hast du überhaupt irgendetwas mitbekommen, von dem, was ich dir erzählt habe?" Ich rümpfe die Nase und schüttle dann schnell den Kopf. Mein Herz pocht noch immer schneller bei dem Gedanken an das Szenarium, das sich gerade in meinem Kopf abgespielt hat. Ich versuche meine zitternden Hände unter meinen Oberschenkeln zu verbergen, was aufgrund der Tatsache, dass ich mit meiner kleinen Schwester auf unserem Wohnzimmerboden male, recht gut funktioniert.
"Ich habe Gemma heute Abend zum Essen eigeladen. Rotes, oder blaues Hemd? Oder vielleicht doch das Grüne?" Bei dem Gedanken an Miles grünes Hemd, das eher aussieht wie ein Faschingskostüm muss ich laut lachen und auch der Kloß, der sich in meinem Hals gebildet hat, löst sich wieder in Luft auf. "Wenn du Gemma vergraulen willst, dann definitiv das Grüne", necke ich ihn. Miles verdreht die Augen und wirft ein Kissen nach mir. Gekonnt ducke ich mich darunter hinweg und das Geschoss trifft Jackies Kopf. "Hey!" Sie schiebt ihre Unterlippe nach vorne und sieht Miles wütend an. Dieser zuckt die Schulter, woraufhin Jackie irgendetwas brabbelt, das sich anhört wie "Doofi" und konzentriert sich dann auf die Haare ihrer Fee. "Zieh' das rote Hemd an", beantworte ich nun die Frage von meinem Bruder und widme mich nun den Schuhen der Prinzessin, die ich mit einen von Jackies unzähligen Glitzerstiften ausmale. Eine Zeit lang schweigen wir Drei, nur die verschiedenen Stimmen der Sportmoderatoren ist im Hintergrund zu hören. Ich mochte es schon immer, Bilder auszumalen, irgendwie hat das eine beruhigende Wirkung auf mich. Vor allem auf dem Boden, auf dem Bauch liegend, zusammen mit Jackie genieße ich es. Auch wenn das Bild schon echt kitschig ist.
"Fertig!" Meine Schwester hält mir ihr fertig gemaltes Bild unter die Nase. "Schön, Jackie", lobe ich sie. Jackie lächelt stolz und zeigt auf Miles ihr Kunstwerk, der es nur mit einem Nicken quittiert. Sie seufzt laut und kurz darauf segelt das Blatt neben dem meinen auf den Boden, während sich Jackie auf meinen Rücken plumpsen lässt. Ich zucke kurz zusammen und schüttle dann schnell lachend den Kopf. "Hüh, Pferdchen, schneller!", ruft meine kleine Schwester und drückt ihre Fersen in meine Rippen, als würde sie mich antreiben. Ich pruste und zapple etwas auf dem Boden hin und her, sodass Jackie den Anschein hat, als würden wir zusammen über eine Wiese galoppieren. Schmerzhaft erinnere ich mich an die vielen Pferderennen, die Colleen und ich früher immer mit Miles und Zac gespielt haben. Colleen auf Miles, ich auf Zac und meistens haben mein ältester Bruder und ich gewonnen. Damals waren unsere Ponys auf allen Vieren, was bei mir aufgrund des fehlenden Beines nicht möglich ist. "Dein Pony scheint ziemlich faul zu sein", mein Miles aus dem Hintergrund. Ich werfe ihn, so gut es geht, einen vernichtenden Blick zu und zapple weiterhin auf dem Boden hin und her, bis Jackie von meinem Rücken rutscht und lachend auf dem Boden liegt.
In diesem Moment hören wir das Schloss der Haustür und meine kleine Schwester läuft schnell in den Flur, um Mama, die vermutlich gerade von der Arbeit heimgekommen ist, zu begrüßen. "Zacie", hören wir Jackie laut quietschen. Miles zieht scharf die Luft ein und ich lupfe meine Augenbraue. "Warum kommst du so spät nach Hause?", hören wir Jackie fragen, nachdem Zac sie ebenfalls begrüßt hat. "Ich musste noch ein bisschen arbeiten", erklärt mein großer Bruder. Miles räuspert sich leise und schüttelt dann leise den Kopf. Wir wissen es schließlich beide besser.
Seit dem Unfall hat sich Zac mehr und mehr zurückgezogen. War es anfangs Miles, der uns am meisten Sorgen gemacht hat, ist es inzwischen Zac, der das Sorgenkind von allen ist. Vor allem in letzter Zeit macht er immer mehr dicht, redet kaum mehr mit uns und sieht von Tag zu Tag schlechter aus. Seine Haut wird immer fahler und man bekommt langsam den Eindruck, als wäre er ein Geist.
"Blöd", grummelt Jackie. Die beiden kommen zu uns ins Wohnzimmer. Jackie klettert von Zac und kuschelt sich dann zu Miles unter die Decke und schnappt sich sofort etwas von den Chips. "Hey Leute", murmelt Zac und macht sich dann sofort wieder bereit, um in sein Zimmer zu verschwinden. "Wir haben noch Nudelauflauf im Ofen", sage ich schnell und versuche so, meinen Bruder dazu zu animieren, noch etwas bei uns zu bleiben. Denn auch wenn er sich immer mehr abschottet, vermisse ich meinen ältesten Bruder. Dieser lächelt mich schwach an und schüttelt dann den Kopf. "Danke Judy, aber ich muss noch ein paar Essays schreiben." Mit diesen Worten dreht er sich um und steigt dann die Treppe zu seinem Zimmer hoch. Miles seufzt laut und schnappt sich dann die Fernbedienung, um den Kinderkanal herzu schalten, während ich die beiden Blätter von Jackie und mir aufklaube und im Schrank verstaue.
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Später am Abend stehe ich dann doch noch mit einem kleinen Teller mit dem Auflauf vor Zacs Zimmer. Vorsichtig klopfe ich gegen das dunkle Holz der Tür und öffne sie dann. Warme Luft strömt mir entgegen. Im Raum ist es dunkel, nur das Licht, das durch den Türspalt dringt, ermöglicht mir, meinen Bruder zu sehen. Zac liegt auf dem Bett, hat Kopfhörer in seinen Ohren und die Augen geschlossen. Vorsichtig stelle ich die Wasserflasche und den Auflauf, den ich mit hochgebracht habe, auf dem Nachttisch ab und schalte dann das kleine Lämpchen an. Mein Bruder zuckt zusammen, öffnet ruckartig die Augen und sieht mich panisch an. "Ich bin es nur", sage ich schnell und setze mich lächelnd auf die Matratze neben ihn. Zac rutscht ein Stückchen hoch, sodass er nun auch auf dem Bett sitzt und runzelt die Stirn. "Ist was passiert?" "Ich habe dir nur noch etwas Essen gebracht", erwidere ich und deute auf den Teller neben meinem Bruder. "Ah, danke." Er atmet tief durch und starrt das Essen nachdenklich an.
"Alles okay bei dir?", will Zac wissen und schraubt dann die Wasserflasche auf. Ich lache leise und lupfe meine Augenbraue. "Das fragst ausgerechnet du?" Mein Bruder zuckt mit den Schultern und räuspert sich dann. "Das Studium ist zur Zeit echt stressig", versucht er sich rauszureden und fährt sich durch seine struppigen Haare, die definitiv schon bessere Zeiten hinter sich hatten. "Das sagst du immer", erwidere ich prompt und presse meine Lippen aufeinander. "Naja, Medizin ist jetzt nicht unbedingt einfach", erklärt Zac und nippt an seinem Wasser. Beim Anblick seiner dürren Unterarme muss ich schwer schlucken und ich merke, wie mir Tränen in die Augen schießen. "Zac, ich mache mir wirklich Sorgen um dich", wispere ich und wende meinen Blick von meinem Bruder an. Dieser nimmt meine Hand in seine. Seine Finger sind eiskalt. Als würden sie zu keinem lebendigen Körper mehr gehören. Und in gewisser Weise befindet sich in seinem Körper auch kein Leben mehr. So wie Zac zur Zeit aussieht, könnte man glauben, dass seine Seele zusammen mit Colleen gestorben ist.
"Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, es ist alles okay, Judy." Ich schüttle den Kopf und wische schnell eine Träne aus meinem Augenwinkel. "Miles meinte auch, dass du dich schon fast halbiert hast." Ich möchte mir gar nicht vorstellen, wie viele sichtbare Knochen sich unter seinem viel zu locke sitzenden Pullover verstecken. Zac verdreht die Augen und neigt seinen Kopf zur Seite. "Wenn ich im Stress bin kann ich eben nicht viel essen", sucht er nach einer Ausrede. Ich schüttle schnell den Kopf und schneide ihm so das Wort ab. "Miles und ich sind nicht die Einzigen, die sich Sorgen um dich machen", flüstere ich. Meine Hand zittert, als ich mir durch die Haare fahre. Zac drückt meine Hand fest und ich lasse es zu, dass die erste Träne über meine Wange kullert. In meiner Brust zieht sich alles zusammen und ich presse meine Kiefer fest aufeinander. Zac rutscht ein Stück näher zu mir und zieht mich in eine sachte Umarmung. "Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, wirklich nicht", versucht er mich zu beruhigen. Ich schniefe laut und wische mir dann über meine nassen Wangen. Aus dem Augenwinkel sehe ich die kleine Portion des Auflaufs, den mein Bruder heute ganz bestimmt nicht anrühren wird.
"Es ist wirklich süß, dass du dich so um mich sorgst, aber du musst jetzt in erster Linie darauf achten, dass du selbst ganz gesund wirst", sagt Zac und löst sich wieder von mir. Er sieht mich durchdringlich an und neigt dann seinen Kopf ein Stückchen zur Seite. "Wie geht es dir? Ist alles in Ordnung", will er von mir wissen und kratzt sich im Hinterkopf. Ich nicke schnell und lächle dann vorsichtig. "Zur Zeit geht es steil bergauf", erwidere ich lächelnd und muss dabei an Vincent denken. Sofort merke ich, wir mir Hitze in die Wangen steigt, das Zac hoffentlich nicht auffällt.
"Das freut mich", erwidert mein Bruder. Dann presst er seine Lippen aufeinander und neigt seinen Kopf zur Seite. "Solltest du jetzt nicht langsam ins Bett gehen? Ich muss auch noch einiges lernen." Ein Blick auf seinen Wecker verrät mir, dass es gerade mal halb acht Uhr abends ist. Sofort bildet sich wieder ein Kloß in meinem Hals und ich seufze leise. "Okay", flüstere ich. Zac steht ebenfalls auf und setzt sich ganz provokant an seinen Schreibtisch. Er schiebt sich wieder seine Kopfhörer in die Ohren, sodass er mein leise geflüstertes "Gute Nacht" schon gar nicht mehr hören kann. Langsam verlasse ich das Zimmer. Gegenüber von der Zimmertür lehnt Miles mit verschränkten Armen. Er sieht mich abwartend an. Ich schaffe es noch, den Kopf zu schütteln, bevor ich wieder in Tränen ausbreche und mich Miles stumm in eine feste Umarmung zieht.
Er drückt mich fest an sich, auch sein Atem geht nur stoßweise. Eine Zeit lang stehen wir so vor dem Zimmer meines großen Bruders und halten uns gegenseitig fest. Wir wissen beide, dass Zac immer mehr droht, zu ertrinken und er unsere Rettungsleine nicht greifen will. Er wird immer mehr in dem tiefen Ozean seiner Trauer versinken, aber hört die verzweifelten Rufe seiner Lunge nach Sauerstoff nicht. Das ist es, was uns tatsächlich am meisten weh tut: Ihn dabei zusehen zu müssen, wie langsam die einzelnen Teile unseres Bruders unter der dunklen Oberfläche verschwinden. Bis irgendwann vielleicht nichts mehr von ihm da ist...
Miles löst sich von mir. Seine Augen sind rot und geschwollen, er wischt sich mit seinen Handballen schnell über die Wangen und vernichtet so die letzten Überreste seiner Tränen. "Gute Nacht, Judy", flüstert er leise, bevor auch er in seinem Zimmer verschwindet. Meine Schultern fühlen sich in diesem Moment an, als wären sie aus Blei. Mein Körper wird von einem heftigen Beben eingenommen und ich presse schnell meine Hand vor meinem Mund, um mein Schluchzen zu verbergen. Mit zitternden Fingern fische ich mein Handy aus meiner hinteren Hosentasche und entsperre mein Display. Ich atme mehrere Male tief durch, bevor ich einen neuen Chat öffne und der Person schreibe, die mich jetzt vielleicht am besten versteht.
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Hey!
Jaa, da bin ich wieder...nach über zwei Monaten gibt es ein neues Update. Ich hoffe, ihr seid mit nicht allzu böse, dass ihr so lange auf ein Update warten musstet...In Zukunft, werde ich wieder regelmäßiger updaten!
Das Kapitel finde ich eeetwas unspektakulär, aber im Hinblick auf das, was auf euch zukommen wird, ganz praktisch. Lasst mir doch gerne mal eure Meinung zu diesem Kapitel da :-)
Ich hoffe, ihr habt noch einen schönen Tag!
xx Lena
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