SIEBENUNDZWANZIG - Judy
Ich zupfe an der Decke, um ebenfalls ein kleines Stückchen davon zu ergattern. Miles hat diese schlechte Angewohnheit, sich auf dem Sofa wie eine Sushirolle in die Decke einzuhüllen, sodass nur er etwas von der Wärme abbekommt - unabsichtlich, natürlich.
Mein Bruder grummelt etwas unverständliches und rutscht ein Stück zur Seite, sodass ich mich ebenfalls einkuscheln kann. Zufrieden starre ich wieder zum laufenden Fernseher, wo wir uns gerade die Wiederholung einer Talk-Show ansehen.
"Miles, das passt nicht!", meckert Jackie und sieht meinen großen Bruder entrüstet an. Meine kleine Schwester ist schwer damit beschäftigt ein Disney-Prinzessinnen-Puzzle zu bauen. Ab und zu hilft ihr Miles, wenn sie gar nicht mehr weiterkommt, so wie jetzt gerade. Entrüstet hält sie ihm ein Eckteil hin und deutet dann auf den Platz, wo sie es hinbauen wollte.
Ich grinse und Miles lacht auf.
"Du kannst kein Eckteil in die Mitte deines Puzzles bauen", erklärt mein großer Bruder. Er setzt sich auf und zieht mir dabei die Decke wieder weg. Ich versuche zu protestieren, doch er bringt mich mit kurzen Handbewegung zu schweigen.
"Schau, das Eckstück muss am Rand sein", sagt Miles und zeigt meiner Schwester den eckigen Teil des Stücks, die es mit großen Augen beäugt.
"Du bist schlau", stellt Jackie fest und nickt eifrig, als sie sich das nächste Puzzleteil aussucht und meinem Bruder hinhält. Miles lächelt sie an und rutscht noch ein Stückchen näher zu ihr, um zusammen das Kleid von Schneewittchen fertig zu bauen. Ich angle nach dem Fernsehschalter und zippe durch die verschiedenen Programme. Ist das eine Strategie der Sender, dass Sonntag nachmittags nur Mist kommt?
"Ist hier noch Platz für mich?", ertönt plötzlich Mamas Stimme hinter mir. Ich lächle und rutsche ein Stück zur Seite. Mama kuschelt sich neben mich und seufzt leise. Sie sieht müde aus, wie sie jetzt auf der Couch liegt und die Augen schließt. Ich lasse ihr ihre kleine Ruhepause und suche weiter nach einer Sendung, die mir den Nachmittag vertreibt.
Es kommt selten vor, dass unsere Familie alle zusammen in einem Raum versammelt sind und so friedlich Zeit miteinander verbringt. Wobei auch das nicht stimmt. Zac fehlt. Er verabschiedete sich vor ungefähr einer Stunde, um in der Bibliothek für die anstehenden Prüfungen zu lerne. Ich schlucke bei dem Gedanken an meinen großen Bruder und daran, wie schlecht es ihm in der letzten Zeit offensichtlich ging. Er aß kaum etwas, kam immer erst spät abends nach Hause, hat immer rot unterlaufene Augen und eine blasse Haut. Er könnte glatt als Vampir durchgehen. Es tut mir weh ihn so zu sehen und doch weiß ich nicht, wie ich ihm helfen soll.
Plötzlich quietscht Jackie laut auf. Ich zucke zusammen und werfe meiner kleinen Schwester einen misstrauischen Blick zu.
"Mama guck mal, ich hab Cinderella fertig, das hab ich ganz allein geschafft!" Stolz deutet sie auf das Puzzle vor ihr und sucht sich sofort das nächste Teil, das sie verbauen möchte. Miles wirft mir einen Blick zu, sein Gesicht verzieht sich zu einem Lächeln. Ich grinse ebenfalls und sehe Judy dabei zu, wie sie eifrig weiterbaut.
Ein Klingeln an der Tür weckt uns alle aus unserer sonntäglichen Nostalgie. Mama runzelt fragend die Stirn, während Miles aufsteht, um unserem Gast aufzumachen. Ich kuschle mich an Mama und schließe die Augen. Die Woche war anstrengend, deshalb genieße ich es, dass der Tag heute so ruhig ist.
"Judy, Besuch für dich!", ruft Miles durch den Flur. Ich lupfe eine Augenbraue, da ich eigentlich keinen Besuch erwarte. Seufzend stemme ich mich vom Sofa hoch. Sofort hilft mir Mama, da ich meine Prothese nicht umgeschnallt habe.
"Danke", ächze ich, während ich, durch die Lehne unserer Couch gestützt, in die Richtung der Haustüre humple. Vals rote Lockenmähne leuchtet mir schon von weitem entgegen. Mein Gesicht verzieht sich zu einem Lächeln, als ich meine beste Freundin im Türrahmen sehe. In ihrer Hand hat sie ein Blech, das mehrere Stücke des berühmten Schokoladenkuchens von Vals Mutter ziert.
"Hey", begrüße ich sie und lehne mich gegen meinen großen Bruder, um ihn als Stütze zu benutzen. Miles packt meinen Ellbogen und schafft mir dadurch etwas Entlastung.
"Happy nachträgliches Thanksgiving!", singt meine beste Freundin und quetscht sich zu uns in den warmen Flur. Val schält sich aus ihrer Jacke und ihren Schuhen und strahlt uns beide an.
"Mama ist heute langweilig. Heißt, sie backt schon den ganzen Tag. Und weil wir ungern nächste Woche zehn Kilo zunehmen wollen, müssen wir die Kuchen schon die ganze Zeit in der Nachbarschaft verteilen. Da dachte ich, ich bringe euch auch etwas vorbei."
Sie grinst und schüttelt den Kopf. Dabei tanzen ihre Locken wild umher. Ich habe sie schon immer für ihre Haarpracht beneidet. Meine beste Freundin stemmt ihre Hände in die Hüften und sieht uns beide lächelnd an. Ihre Wangen und ihre Nasenspitze sind rot von der Kälte draußen.
"Ich lasse euch beide dann wohl alleine", meint Miles und zuckt mit den Schultern. "Aber den Kuchen würde ich mitnehmen?"
Val und ich lachen beide, während mein Bruder mit der Kuchenplatte Richtung Küche spaziert. Das Gebäck hält er dabei wie einen wertvollen Schatz vor sich. Ich hake mich bei meiner besten Freundin ein und zusammen humpeln wir hinauf in mein Zimmer, wo ich mich seufzend in meinen Ohrensessel sinken lasse. Val macht es sich währenddessen auf meinem Bett bequem. Stöhnend hält sie sich den Bauch.
"Es ist einerseits ein Segen, dass Mama so gerne backt aber gerade fühle ich mich wie ein menschliches Nilpferd", kichert sie und stöhnt erneut gespielt auf. Ich grinse ebenfalls und amüsiere mich bei der Vorstellung, wie meine beste Freundin das ganze Thanksgiving-Essen in sich hineinschaufelt. Während wir nämlich das ganze Wochenende faul auf der Couch lagen und versuchten, den Feiertag bestmöglich zu verdrängen, feierte ganz Amerika Thanksgiving.
Mama kochte zwar ebenfalls ein aufwendiges Abendessen aber es fühlte sich falsch an. Für was sollen wir dankbar sein? Dafür, dass Colleen tot ist? Dafür, dass uns eine Schwester, eine Tochter genommen wurde? Hätte sich Mama nicht so viel Mühe gegeben mit dem Essen und versucht, die Familientradition mit dem verbrannten Kürbiskuchen aufrecht zu erhalten, hätte ich mich den ganzen Abend in meinem Zimmer verschanzt. Auch am Tisch herrschte bedrückte Stimmung.
"War es dieses Jahr leichter?", fragt Val leise. Tränen steigen mir in die Augen, als ich an unser provisorisches Dinner denke. Ich zucke mit den Schultern und schlucke schwer. vor zwei Jahren saßen wir alle glücklich zusammen an einem Tisch. Papa stellte den dampfenden Truthahn vor uns ab, Miles und Zac lieferten sich wieder einen Wettbewerb, wer mehr essen konnte. Colleen war der Schiedsrichter und wie so oft gewann Zac. Damals, als wir alle noch glücklich waren, war er nämlich wie ein menschlicher Staubsauger.
"Colleen fehlt einfach", wispere ich und schleudere mich mit meinen Worten zurück in die Gegenwart. Die triste, dunkle, traurige Gegenwart. "Thanksgiving ist ohne ihr nicht mehr das, was es sein sollte."
Ich starre auf meine rauen Hände. Die kalte Luft draußen lässt meine Haut austrocknen. Trotzdem vergesse ich es immer, mich einzucremen. Von der anderen Zimmerseite höre ich ein leises Seufzen.
"Ich würde dich gerne verstehen, Judy", sagt meine beste Freundin ruhig. "Aber dazu müsste ich erstmal in der gleichen Situation sein."
Ich presse meine Lippen aufeinander und schüttle langsam den Kopf. Niemand sollte das mitmachen müssen, was unsere Familie mitgemacht hat. Oder die Familie mit den zwei Jungs aus dem anderen Unfallwagen. Niemandem sollte ein geliebter Mensch so grausam aus der Mitte gerissen werden, wie es bei uns der Fall war. Mein Brustkorb zieht sich schmerzhaft zusammen und eine erste Träne rollt über meine Wange.
Herrgott Judy, musst du denn wirklich immer weinen?
"Ich sollte mich ja eigentlich freuen und dankbar dafür sein, dass es mir schon wieder so gut geht", flüstere ich und hebe meinen Blick. Meine beste Freundin sieht mich traurig an. Ich zucke mit den Schultern und seufze. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Val aufsteht und langsam zu mir kommt. Sie geht vor mir in die Hocke und nimmt meine Hand in ihre. "Ich muss einfach ständig an Colleen denken", sage ich und schlucke dann schwer. Meine beste Freundin nickt und sieht mich mit ihrem ruhigen, ernsten Blick an. Sie hat so viel Verständnis für mich, obwohl wir uns erst seit einem knappen Jahr kennen. Eigentlich fühlt es sich wie eine Ewigkeit an. Mein Herz pocht heftig gegen meinen Brustkorb und ich merke, wie sich eine große Welle der Traurigkeit in mir drin anbahnt, die mich zu ertrinken droht.
"Wie läuft es mit dir und Lucas?", presse ich schnell hervor, um die Welle irgendwie zerstören zu können. Vals Wangen färben sich rot und sie lächelt sofort verträumt.
"Er ist genauso süß, wie ich es mir immer vorgestellt habe. Wenn nicht sogar noch süßer. Jeden Morgen schreibt er mir eine kurze Nachricht und will wissen, wie es mir geht. Was ja eigentlich total kitschig ist, aber auch verdammt süß ist."
Ich lächle und beuge mich nach vorne, um meine beste Freundin fest an mich zu drücken. Es freut mich so sehr für sie, dass sie und Lucas endlich zueinander gefunden haben. Val drückt meine Hand fest und lächelt mich an. Die Welle schwappt über das Ufer, es ist eine kleine Welle, sie berührt mich an meinen Zehen. Die befürchtete Traurigkeit bleibt aus, umso mehr freue ich mich für meine beste Freundin.
Diese wackelt nun mit ihren Augenbrauen und verzieht ihren Mund zu einem breiten Grinsen. Es sieht fast so aus, als wäre sie der Grinch. Nur dass es kein fieses Grinsen ist, sondern eines, das darauf deutet, dass sie irgendwelche dreckigen Gedanken hat.
"Wie läuft es bei dir und Vincent?", will sie wissen und bringt ihre Beine in Schneidersitzposition. Das Zeichen dafür, dass sie sich mit einem einfachen "gut" oder "alles okay" nicht zufrieden gibt. Sie will lange Antworten und ausführliche Schilderungen. Val ist sowas von die Romantikerin von uns beiden. Sie saugt die Herzklopf-Geschichten förmlich auf wie die Dementoren von Harry Potter die mentalen Empfindungen ihrer Opfer.
Mein Herz, dieser verräterische Fleischklumpen, beginnt verräterisch zu klopfen und ich merke, wie mir Hitze ins Gesicht steigt. In mein Gesicht setzt sich dieses bescheuerte Lächeln, das immer dann erscheint, wenn ich an Vincent denke oder er mir schreibt.
"Wir treffen uns", nuschle ich schnell und hoffe, dass meine beste Freundin es nicht ganz genau verstanden hat. Fehlanzeige. Sie kreischt laut auf und klatscht in ihre Hände.
"Du hast ein Date!", kreischt sie. Ihr gesamter Oberkörper wackelt dabei, ihre Locken springen wild hin und her.
"Hör auf so zu schreien, sonst hört das noch jemand", versuche ich verzweifelt, sie zu beruhigen. "Außerdem ist das kein Date. Sondern nur ein Treffen unter so etwas wie Freunden."
Bumm. Bumm. Bumm. Mein Herz trommelt weiterhin verdächtig laut gegen meinen Brustkorb. So laut, dass ich mir sicher bin, das Val es hören kann. Verräter.
"Judy, wenn das kein Date ist, dann fresse ich einen Besen." Ich verdrehe die Augen und verschränke meine Arme vor meiner Brust, während Val mich durchdringlich ansieht.
"Wir sind nur Freunde", presse ich hervor. Meine Stimme zittert dabei verdächtig. Val runzelt die Stirn und neigt ihren Kopf zur Seite.
"Dir ist schon klar, dass das ungefähr jede Protagonistin in jedem Roman sagt, oder? Und Plottwist, was passiert am Ende der Geschichte?" Ich seufze und verdrehe die Augen. Vincent und ich sind keine blöde Geschichte, sondern das reale Leben. Für was liest man Bücher? Um aus der Realität zu fliehen und in Fantasiewelten einzutauchen. Passiert sowas auch in der Realität? Nein.
"Wenn du wirklich mehr willst, als nur Freundschafft Judy, dann lass es zu. Du musst es zulassen. Du hast es verdient, wieder richtig glücklich zu sein."
___
Vincent beugt sich tief über sein riesiges Kuchenstück und kratzt mit funkelnden Augen die Schokocreme zwischen den einzelnen Böden hervor. Ich grinse und picke aufgeregt eine Himbeere von meinem Stück. Meine rechte Hand habe ich unter dem Tisch versteckt. Sie zittert verdächtig und ich möchte auf keinen Fall, dass der Junge mir gegenüber den Eindruck hat, dass ich aufgeregt bin. Bin ich definitiv nicht. Das Zittern ist nur der Zuckerschock der vergangenen Tage.
"Es ist eigentlich eine Sünde, dass wir jetzt nach Thanksgiving nochmal so krass zuschlagen", meint Vincent und kratzt erneut etwas Schokocreme auf seine Gabel. Ich kichere leise und steche das erste kleine Stück von meinem Kuchen herunter.
"Es ist einfach ein verspätetes Thanksgivingtreffen und zählt zu den anderen Feiertagskilos dazu." Vincent lacht rau, was mein Herz sofort wieder schneller schlagen lässt. Kleine, verwirrte Schmetterlinge tanzen in meinem Bauch und mein rechtes Knie wird so weich wie Wackelpudding.
Du bist sowas von verknallt, Judy Ross.
Mein Hals wird trocken, als ich sein verschmitztes Grinsen sehe. Er blickt sich um suchend im Café um, was mich wieder seine drei Muttermale am Hals erkennen lässt, die einfach perfekt zu ihm passen. Er winkt der Kellnerin, bestellt ein kleines Wasser und lehnt sich dann in seinem Stuhl weit zurück.
"Ich glaube, ich brauche leider Gottes erstmal eine Pause", meint er und bläht seine Wangen. Ich lächle und lehne mich auf meiner Bank ebenfalls zurück. Unauffällig versuche ich, mein linkes Bein in die richtige Position zu bringen und presse meine Lippen aufeinander, als mein Fuß leicht zu pochen beginnt.
Dummkopf. Du hast keinen Fuß mehr. Was soll denn da pochen?
Ich atme leise aus. Vincent runzelt die Stirn.
"Alles okay?" will er wissen und beugt sich besorgt vor. Ich presse meine Lippen aufeinander und nicke leicht. Vincent lupft eine Augenbraue und neigt seinen Kopf zur Seite. Ich setze ein schiefes Lächeln auf, um ihn zu versichern, dass es mir gut geht. Fieberhaft suche ich nach einem Thema, um aus dieser peinlichen Situation zu entwischen. Hat er nicht erzählt, dass seine Familie auf der ganzen Welt verstreut lebt?
"Wo kommt deine Familie denn überall her?", möchte ich deshalb wissen und versuche, meinen kribbelnden Fuß zu vergessen. Ihn gibt es nicht. Das ist das Phantomkribbeln, von dem die Ärzte damals im Krankenhaus immer gesprochen haben.
Vincent grinst. "Sagen wir mal so, meine Familie ist ziemlich verrückt. Onkel Zac zum Beispiel kommt aus Brasilien. Er hat sich vor zwanzig Jahren bei seinem Brasilienurlaub, als er stockbesoffen am Strand lag, in eine Sonnenbrillenverkäuferin verliebt."
Ich kichere leise. Vincent nickt und grinst ebenfalls amüsiert. Er starrt hinauf an die Decke und denkt weiter nach.
"Tante Millie kommt aus Australien. Als sie noch sehr jung war, wollte sie ein Semester lang im Ausland studieren. Sie flog also nach Australien, kehrte aber einfach nicht mehr zurück." Er grinst kurz und kratzt sich im Nacken. "Und dann gibt es noch Opa Jack und Oma Fanny. Die beiden leben in Deutschland. Meine Mutter erzählt mir immer, dass sich die beiden bei ihrer Hochzeit ein kleines Versprechen gaben. Sie wollten ihre Kinder in den USA großziehen und wenn diese um die dreißig sind, nach Deutschland ziehen. Opa möchte sich nämlich nur noch von traditionell deutschen Essen ernähren. Sieht man ihm auch an, wenn man mich fragt."
Ich lache laut und neige meinen Kopf zur Seite. Vince grinst mich an und zuckt mit den Schultern. "Tante Audrey und Onkel Timothy leben mit beiden Cousins Cliff und Newt in China." er zuckt mit den Schultern.
"Aber ehrlich gesagt weiß ich nicht, warum die vier dahingezogen sind. Wahrscheinlich bekam Timothy ein gutes Jobangebot und weil für die alles Gold ist was glänzt, haben sie das Angebot gleich angenommen und sind nach China gezogen."
Vincent zuckt mit den Schultern und lächelt. Ich streiche mir eine lose Haarsträhne hinter mein Ohr und lächle den Jungen mit den haselnussbraunen Augen ebenfalls an. Und plötzlich fühlt sich dieser eine Moment ewig an. Es fühlt sich so an, als gäbe es gerade nur uns beide in diesem Café. Vincents Blick ruht auf mir, während in mir drin die Schmetterlinge Tango tanzen und mein Herz dazu den Takt angibt. Meine Fingerspitzen werden eiskalt und doch will ich nicht, dass der Moment vorbeigeht.
"Bitteschön, ein kleines Wasser." Ich zucke zusammen, als die Kellnerin das Glas vor Vincent abstellt. Sein Lächeln verrutscht ein wenig, als er dankend nickt. Er räuspert sich, während ich meinen Blick peinlich berührt von ihm abwende. Ist das gerade wirklich passiert?
"Vielleicht sollten wir unsere Zeit mit etwas anderem verbringen, als den verrückten Geschichten meiner Familie", meint der Junge gegenüber von mir und nippt an seinem Wasser.
Ich zucke lächelnd mit den Schultern. "Ich finde das Ganze eigentlich recht amüsant." Vincent runzelt die Stirn und kratzt sich im Nacken.
"Willst du noch etwas hierbleiben?", will er von mir wissen. Dabei lächelt er. Für einen kurzen Moment habe ich das Gefühl, dass er das Treffen beenden möchte, aber dann zwinkert er mir zu. Die Schmetterlinge in meinem Bauch schlagen Purzelbäume und ich zucke nur mit den Schultern. Vincent grinst und nickt mir zu.
"Zieh dich an, ich zahle bis schnell."
"Auf keinen Fall", protestiere ich und ziehe mein Portemonnaie aus meiner Jackentasche. Vincent legt seine Hand auf meinen Handrücken und sieht mich ruhig an. Ich zucke zusammen und starre auf unsere Hände. Seine Hand ist warm. Sie fühlt sich gut an. Es fühlt sich ehrlich gesagt sehr gut an. Mein Herz pocht noch schneller als ohnehin schon und ich schlucke schwer.
"Ich hab dich eingeladen, ich zahle."
"Okay", krächze ich, während ich noch immer unsere Hände anstarre, die sich zusammen viel zu gut anfühlen.
____
Wir stehen nebeneinander an dem Geländer vor dem Fluss. Ich habe meine Jacke eng um mich geschlungen, trotzdem merke ich die immer kälter werdende Luft deutlich. Der Novemberwind zerzaust meine Haare und trotzdem genieße ich den Augenblick. Mein Atem zaubert kleine Wölkchen in die Luft.
"Ist dir kalt?", fragt Vincent leise und sieht mich von der Seite an. Seine Wangen sind gerötet von der Kälte, was ihn aber nur noch hübscher aussehen lässt.
Ich schüttle den Kopf und lächle. "Es ist wunderschön hier", flüstere ich. Vincent lächelt ebenfalls. Seine dunkelblonde Haarsträhnen stehen wie ein Vogelnest von seinem Kopf. Ganz vorsichtig legt er einen Arm um mich und zieht mich etwas enger an sich. Dort, wo er mich berührt, erwärmt sich meine Haut unter den dicken Stoffschichten angenehm. Ich stolpere leicht gegen seine Hüfte, als ich versuche, mein linkes Bein zu entlasten. Vincent hält mich fest und stützt sein Kinn auf meinen Kopf ab.
Im ersten Moment fühlt es sich komisch an, bis ich mich etwas mehr an ihn schmiege. Vincents Duft hüllt mich ein. Es ist ein angenehmer Duft und am liebsten würde ich den Moment einfrieren. Wir starren hinaus auf den Fluss und schauen dem Wasser zu, wie es sich vom kalten Novemberwind leiten lässt. Mit seinem Daumen malt Vincent kleine Kreise auf meine Winterjacke. Eine Gänsehaut breitet sich auf meiner Haut auf, obwohl mir kein bisschen mehr kalt ist.
"Es ist wunderschön hier", flüstere ich heiser. Vincents Brust bebt, als er leise lacht. Ich blicke zu ihm auf und versinke in dem Haselnussbraun seiner Augen. Er lächelt mich sanft an und wendet dann seinen Blick wieder ab, in Richtung des Flusses.
"Ich liebe diesen Ort hier", sagt er ruhig. Sein Blick wandert zurück zu mir. Mein Herz pocht stark gegen meinen Brustkorb. Ich bin froh, dass er mich hält. Mein rechtes Bein verwandelt sich mit jedem weiteren Atemzug in einen Pudding. Träume ich das, oder stehe ich hier wirklich in den Armen von Vincent Holden am Ufer eines Flusses?
Vincent hebt seine Hand und streicht eine Haarsträhne hinter mein Ohr. Ich merke, wir mir Röte ins Gesicht steigt. Meine Hände beginnen zu zittern und mein Herz schlägt Purzelbäume. Ich will nicht, dass dieser Moment endet. Ich möchte nicht, dass dieses wundervolle Lächeln aus Vincents Gesicht verschwindet. Ich möchte nicht, dass er jemals wieder seinen Arm von mir wegnimmt. Ich möchte nicht mehr nach Hause, ich möchte nur noch hier bleiben.
Ist das dir endlich Beweis genug, Judy? Weißt du nun endlich, was du wirklich fühlst? Ist dir nun bewusst, was du dir die ganze Zeit verboten hast zu denken? Du. Bist. Verliebt.
Inzwischen zittern auch meine Mundwinkel. Aber nicht vor Kälte.
"Sollen wir zurückgehen? Ist dir kalt?", fragt Vincent fürsorglich. Ich presse meine Lippen aufeinander und schüttle schnell den Kopf. Ich will hier nicht weg, Vincent...
Vincent lächelt und drückt mich enger an sich. Ich lasse mich von seinem Duft einhüllen. Schließe die Augen. Spüre Vincent. Und den Wind. Höre den Fluss.
"Judy?"
Ich blicke auf. Vincent sieht mich an. Er atmet tief durch. Hebt seinen Daumen und streichelt mir über die Wange. Ich schlucke schwer. Vincent mustert mich. Sein Daumen ruht auf meinem Kieferknochen. Mach weiter. Bitte mach weiter. Hör nicht auf damit.
"Judy, du bist wunderschön", flüstert Vincent.
Ich atme flach ein und aus, als er mein Gesicht in seine Hände nimmt. Wir stehen uns gegenüber.
"So wunderschön", flüstert er, bevor er sich vorbeugt und sich unsere Lippen berühren.
Mein Herz explodiert in tausend Teile. Die Schmetterlinge in meinem Bauch schlagen Saltos. Ich halte mich an seinen Oberarmen fest. Spüre seine Lippen auf meinen. Der Kuss ist sanft. Zärtlich. Ehrlich.
Und ungefähr das Schönste, was mir seit langem passiert ist.
____
*Wartet aufgeregt auf die Reaktionen zum Kapitel, hihi🤭*
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