NEUNZEHN - Judy
Am nächsten Morgen werde ich wie so oft in letzter Zeit vor dem Klingeln meines Weckers wach. Durch die Vorhänge blitzen schon die ersten Sonnenstrahlen, weshalb ich annehme, dass ich sowieso in ein paar Minuten aufstehen müsste. Laut gähne ich und strecke mich, bis ich bemerke, dass ich einen Gegenstand fest umklammere. Blinzelnd erhasche ich einen Blick auf mein Handy und mit einem Mal sitze ich senkrecht im Bett. Bilder von gestern Abend schießen mir in den Kopf, als ich mit Vincent geschrieben habe...oder?
Mit zitternden Fingern und pochendem Herzen entsperre ich meinen Bildschirm und öffne meine Nachrichten. Und tatsächlich, ganz oben leuchtet mir Vincents Name entgegen. Ich stöhne laut und schlage mir mit meiner Handfläche gegen die Stirn. Wie zum Teufel kam ich auf die Idee, diesen fremden Jungen anzuschreiben, nur weil ich ihn einmal im Krankenhaus gesehen habe? Okay, ich habe irgendwie mit ihm geredet und er scheint auch ganz nett zu sein aber warum habe ich ihn angeschrieben? Wo ich doch haargenau weiß, dass ich mich eigentlich von ihm fernhalten soll, erst recht wegen, Hayden... Oh Gott. Ich presse meine Hand gegen meinen Mund und versuche möglichst ruhig zu bleiben. Sie wird mich lynchen, wenn sie rausfindet, dass ich ihrem Freund geschrieben habe. Ich schlucke schwer und markiere mit klammen Fingern den Chat mit Vincent um ihn zu löschen. Was ich nicht sehe, sieht niemand, richtig? Wenn ich den Chat lösche, ist es nie passiert und unsere Nachrichten existieren nur noch in meinen Gedanken. Und vielleicht auf Vincents Handy, aber daran denke ich lieber nicht.
Ich seufze leise und denke daran, wie einsam ich mich gestern Abend gefühlt habe und dass ich eben tatsächlich irgendjemanden zum Reden brauchte - nur war Vincent dafür wirklich der Richtige? Hätte ich nicht vielleicht doch einfach besser Val oder Aly oder so schreiben sollen? War ich nicht diejenige, die irgendwie enttäuscht war von Vincents Reaktion, als ich ihm von meinem Bein erzählt habe? Ich merke, wie meine Gedanken wieder drohen, Saltos zu schlagen, weshalb ich mein Bein vorsichtig aus dem Bett schwinge. Möglichst langsam und sicher, damit ich nicht das Gleichgewicht verliere, so wie es früher oft vorkam und dann nicht nur einmal unsanft auf dem Boden aufkam. Mit zusammengepressten Lippen hieve ich mich von der Matratze hoch, stütze mich an der Wand ab und humple dann zu meiner Prothese, um mich für den Tag fertig zu machen. Dabei versuche ich, möglichst nicht an Vincent und schon gar nicht an Hayden zu denken.
_____
"Hey! Judy!" Ich drehe mich lächelnd um, als ich hinter mir die Stimme meiner besten Freundin höre. Val kommt grinsend auf mich zu, ihre Locken hüpfen vergnügt auf den Schultern bei jedem ihrer Schritte. Dicht hinter ihr läuft Lucas durch die Gänge, der ebenfalls ein breites Grinsen im Gesicht hat. "Guten Morgen", begrüße ich die beiden, als sie vor mir zu stehen kommen. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Lucas nach Vals Hand greift, wodurch meine beste Freundin rosa Wangen bekommt. Ich muss ebenfalls grinsen und beim Anblick der beiden macht mein Herz einen kleinen Sprung. Die beiden haben es endlich wohl endlich geschafft, sich die Gefühle einzugestehen. Val lehnt ihren Kopf gegen Lucas Brust, der ihr einen Kuss auf ihren Scheitel drückt. Wir verabreden uns kurz für Mittag, bevor ich die beiden lieber alleine mit ihrem Glück lasse und in die Richtung der Kantine schlendere.
Es ist noch relativ früh am Morgen, weshalb noch dementsprechend wenig Schüler in den Gängen lümmeln. Mir ist das ganz recht, ich mag es, wenn es in der Früh noch nicht so laut, hektisch und voll ist. Miles musste heute etwas früher zur Uni, weshalb er mich schon jetzt, beinahe eineinhalb Stunden vor Unterrichtsbeginn, hier abgeliefert hat. Zwar hat er sich tausend Mal entschuldigt, trotzdem bin ich ihm irgendwie dankbar dafür. So kann der Tag viel entspannter beginnen. Ich entscheide mich dazu, noch schnell bei meinem Spind vorbeizuschauen, um meine Bücher für den heutigen Tag gleich mitzunehmen, damit ich dann von der Mensa aus direkt zu meiner ersten Klasse gehen kann. Gerade, als ich dabei bin, den Zahlencode für meinen Spind einzugeben, höre ich hinter mir meinen Namen. Und die Stimme gehört einer ganz bestimmten Person.
Vincent.
Ich zucke zusammen, erlaube es mir einmal tief durchzuatmen und drehe mich dann um zu ihm. "Hey", presse ich hervor und schlucke dann schwer. Vincents Gesicht ziert ein verschmitztes Lächeln, seine Haare stehen in alle Richtungen ab und er trägt ein dunkelblaues Sweatshirt, welches er lässig an den Armen hochgekrempelt hat. Er neigt seinen Kopf zur Seite und zieht seine Mundwinkel noch ein Stückchen weiter nach oben. "Du bist also auch eine Frühaufsteherin?" Ich starre ihn perplex an. Insgeheim habe ich mich auf ein 'Ja, mir geht es gut und dir?' vorbereitet. In den hintersten Ecken meines Hirns krame ich nach den richtigen Worten, aber ich habe tatsächlich das Gefühl, als hätte ich meinen kompletten Wortschatz vergessen. Meine Fingerspitzen werden verräterisch kalt, was immer ein Zeichen der Nervosität bei mir ist und ich merke, wie sich in meinem Bauch ein verräterisches Gefühl ausbreitet. "Ja...also, eigentlich nein", bringe ich schließlich hervor. Vincent lupft eine Augenbraue und lacht leise. "Mein Bruder musste früher zur Uni, weshalb ich früher her kam, also eigentlich komme ich später, nur eben nicht heute, weshalb wir uns wohl schon zufällig jetzt treffen und ich wollte eigentlich gerade meine Bücher holen..." Ich breche apruppt ab, als ich merke, dass ich Vincent mit lauter Informationen bombardiere, die eigentlich gar nichts mit seiner Frage zu tun haben. Ich seufze und suche schnell die Bücher aus meinem Spind heraus. Vincent bleibt dabei die ganze Zeit hinter mir stehen und das schwummrige Gefühl in meinem Bauch wird immer stärker. Wahrscheinlich ist es nur der Hunger, ich hätte wirklich schon daheim frühstücken sollen. "Ich wollte gerade zur Mensa und mir eine heiße Schokolade holen", sage ich seufzend und starre auf meine Fußspitzen. Ein dunkelbrauner Fleck prangt auf dem hellblauen Stoff. Dann darf ich sie wohl heute wieder waschen. "Willst du vielleicht mitkommen?"
Judy Ross, bist du von allen guten Geistern verlassen? Erinnerst du dich daran, dass Hayden Coyn, die zufällig auf die gleiche Schule geht, dich daran erinnert hat, dass du dich von ihrem Freund fernhalten sollt? Und jetzt fragst du ihn, ob ihr nicht zusammen eine heiße Schokolade trinken wollt? Versteht du eigentlich, dass du dich immer mehr ins Schlamassel hineinreitest? Halte ihn auf Abstand, Mädchen! Er tut dir nicht gut und du ihm auch nicht!
Ich schlucke schwer und presse meine Lippen fest aufeinander. Vincent zieht seine beiden Mundwinkel nach oben und grinst. "Warum nicht", erwidert er und schultert seinen Rucksack. Mit selbstbewussten Schritten marschiert er voraus, während ich meine Spindtür schließe und ihm seufzend folge.
_____
Wenige Minuten später stellt Vincent eine dampfende Tasse mit heißer Schokolade vor mir ab. Er lässt sich auf die Sitzbank gegenüber von mir fallen und rührt dann das kleine Sahnehäubchen unter die heiße Milch. Ich lege meine Hände um das warme Keramik und genieße den süßen Duft, der von unseren warmen Getränken aufsteigt. In der Mensa selbst ist noch nicht viel los. Einzelne Tische sind von Schülern belegt, die sich entweder ruhig unterhalten oder noch etwas lernen. Vincent nippt an seiner Tasse und verzieht dann das Gesicht, was mich zu kichern bringt. "Heiß", keucht er und kneift seine Finger fest zusammen. Ich kichere nochmal leise und rühre dann in Gedanken versunken meine heiße Schokolade um. Die Sahne schmilzt langsam, so wie ich den Kakao am liebsten mag. "Jetzt sitzen wir hier, die die Hühner auf der Stange", brummt Vincent und lächelt mich an. Ich nicke langsam und seufze dann. Es ist wirklich ungewohnt, die große Halle, die mittags gefühlt aus allen Nähten platzt, so leer zu sehen. Aber irgendwie auch beruhigend.
Ein stechender Schmerz schießt durch mein Bein, der mich kurz zusammenzucken lässt. Vincent runzelt die Stirn, wendet dann aber doch seinen Blick wieder von mir ab und mustert die Schüler um uns herum. Aus dem Augenwinkel beobachte ich ihn dabei. Dabei fallen mir zwei kleine Muttermale an seinem Hals auf, die genau übereinander sind. Seine Haare funkeln golden in der Morgensonne, seine Hände hat er mittlerweile ebenfalls um seine Tasse gelegt. Mein Herz beginnt verräterisch schnell zu pochen und ich wende schnell meinen Blick von ihm ab, bevor er merkt, dass ich ihn die ganze Zeit ansehe. Ich räuspere mich leise, was Vincents Aufmerksamkeit wieder auf mich lenkt. Er grinst dabei leicht und nippt erneut an seinem Kakao. Ich wippe nervös mit dem Fuß unter dem Tisch und knabbere auf meiner Unterlippe. Mit jeder Sekunde die vergeht, fühle ich mich unwohler, da wir uns kein bisschen unterhalten. Vincent scheint es ähnlich zu gehen, erst fährt er sich durch die Haare, bevor er sich seinen Nacken massiert und dann leise seufzt.
"Wie alt bist du eigentlich?", platzt es schließlich aus mir heraus und im gleichen Moment könnte ich mich dafür in einer Ecke verkriechen. Im Ernst jetzt? Eine Frage nach seinem Alter? Fällt mir wirklich nichts besser ein? Ich merke, wie mir die Röte ins Gesicht schießt und nehme schnell einen Schluck von meinem Kakao, der inzwischen angenehm warm ist. "Achtzehn", erwidert Vincent und lupft eine Augenbraue. "Und du?" "Siebzehn", platzt es aus mir heraus. Ich presse meine Lippen fest aufeinander und verbiete es mir so, ein weiteres Thema anzuschneiden. Vincent neigt seinen Kopf zur Seite und mustert mich. "Siebzehn", wiederholt er leise und lächelt dabei. "Dann bist du in der elften, oder?" Ich nicke und fokussiere mich dann auf ein relativ jung aussehendes Mädchen mit hellen Locken, das sich tief über ein dickes Buch beugt. Die Stille legt sich wieder über uns wie ein Teppich. Ich seufze leise und weiche Vincents Blick absichtlich aus. Es ist mir verdammt unwohl, dass wir keinerlei Gesprächsthemen haben und ich könnte mich innerlich dafür ohrfeigen, dass ich Vincent gefragt habe, ob wir uns nicht zusammen unseren Kakao kaufen könnten. Hätte ich ihn nicht eingeladen, würden wir jetzt nicht hier, in dieser unangenehmen Situation, sitzen. Der Junge gegenüber von mir fummelt sein Handy aus der Hosentasche und scrollt durch seine Nachrichten. Dann kratzt er sich wieder im Nacken und schiebt das Handy zurück in die Tasche. Er kneift seine Augen fest zusammen und räuspert sich dann.
"Judy, wenn ich im Krankenhaus falsch reagiert habe auf...", er bricht kurz ab und sucht sichtlich nach den richtigen Worten. "Auf mein Bein?", frage ich mit pochendem Herzen und balle meine rechte Hand zu einer Faust. Bilder, wie wir in einer ganz ähnlichen Situation im Krankenhaus uns gegenübersaßen, schießen mir durch den Kopf. Ich konzentriere mich fest auf Vincent, um nicht an die Worte zu denken, wie wir miteinander gesprochen haben und daran, wie sehr er mich mit seinem letzten Satz verletzt hat. "Ja, genau", erwidert er glücklicherweise schnell und nickt dann. "Das Ding ist, ich habe mich so lange auf meinen eigenen Gesundheitszustand konzentriert und immer nur vor Augen gehabt, dass ich gesund werde und wie schwer ich es halt zur Zeit habe, dass ich ganz vergessen habe, dass auch andere Personen, so wie...." Vincent bricht ab und kratzt sich im Nacken, dabei rümpft er seine Nase und seufzt leise. "Ich?", helfe ich ihm weiter. Vincent nickt erneut. "So wie du, auch Probleme haben. So dumm sich das anhört, aber ich muss erst wieder lernen, dass ich nicht der Einzige bin, der ein kleines Handicap hat. Deshalb sei bitte nicht sauer auf mich, wenn ich vielleicht etwas falsch auf dein Bein reagiert habe. Es war wirklich nicht meine Absicht und es tut mir leid." Er räuspert sich und nippt schnell an seinem Kakao. Ich sehe ihn mit großen Augen an und presse meine Lippen fest aufeinander. Ich hätte mit vielem gerechnet, nur nicht damit. Ich schlucke schwer und sehe Vincent an. "Ehrlich gesagt", setze ich an und lache dann nervös. "Hätte ich schon eine andere Reaktion erwartet...aber ich kann dich auch irgendwie verstehen." Meine Hand zittert leicht und ich balle sie schnell zu einer Faust. Mein Herz trommelt gegen meinen Brustkorb und wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich annehmen, dass ich gerade einen Triathlon hinter mir habe.
Träum weiter, ein Triathlon mit Prothese. Wer wach, Judy. Und sei ehrlich zu dir. Der Grund, weshalb dein Herz verrückt spielt ist die Person gegenüber von dir. Punkt. Gesteh es dir endlich ein.
Vincent nickt und lächelt mich erleichtert an. "Danke, ich habe ehrlich gesagt auch erst im Auto realisiert, was ich für ein Arsch war. Und dass es komplett falsch war, was ich zu dir gesagt habe. Tut mir wirklich leid." Ich lächle schwach und nippe erneut an meiner inzwischen nur noch lauwarmen Schokolade. Vincent rührt nachdenklich in seiner Tasse um und vermischt so die Sahne mit der Milch. Igitt.
Ich zupfe nervös an meinen Haarspitzen und denke darüber nach, was ich als nächstes sagen kann, da sich schon wieder diese erdrückende Stille über uns zu legen droht. "Wie...wie lange lagst du denn im Koma?", frage ich deshalb leise. Der Junge gegenüber von mir zuckt leicht zusammen und als er seinen Blick hebt, bilde ich mir ein, dass sich ein dunkler Schatten über seine Augen gelegt hat. "Acht...Monate", antwortet er mir knapp und räuspert sich dann. "Aber wenn ich ehrlich bin, würde ich gerne über etwas anderes reden, als über die letzten anderthalb Jahre...zumindest meinerseits." Sein Lächeln, das vorher noch so ehrlich gewirkt hat, ist verrutscht und sieht nun eher gequält als freundlich aus. Er presst seine Lippen aufeinander und räuspert sich erneut. Dann nimmt er große Schlucke von seiner Tasse und weicht meinem Blick gekonnt aus. "Verstehe", erwidere ich schnell, "ich mag es auch nicht, über den Unfall ausgequetscht zu werden." Vincent mustert mich mit schief geneigten Kopf und kratzt sich im Nacken. Dann lehnt er sich im Stuhl zurück und verschränkt die Arme vor seiner Brust. "Kann es sein, dass du erst nach...dem Unfall hergezogen bist? Ich habe dich vorher noch nie gesehen." Ich räuspere mich schnell und blicke auf meine Oberschenkel. Bilder von unserem Umzug schießen mir durch den Kopf. Als ich Colleens Schrank ausgeräumt habe und entscheiden musste, was ich von ihr als Andenken mitnehmen möchte und was in Alabama bleiben muss. Wie sehr Miles und ich gestritten haben, als ich die Kleider von den Homecoming Bällen bei Papa lassen wollte, da mich der Anblick zu sehr verletzt hat. Zac, der jedes Mal wie ein Geist danebenstand und Papa, der alles hilflos mit angesehen hat und dabei viel zu viel Alkohol getrunken hat.
"Ich...äh", setze ich vorsichtig an und schlucke dann schwer. Ich meinem Hals hat sich ein riesiger Kloß gebildet und ich spüre ein verdächtiges Brennen in meinen Augen. "Nach...dem Unfall, bin ich mit meinen beiden Brüdern hierher zu unserer Mutter gezogen", sage ich leise und verschränke meine Finger ineinander. "Meine Eltern sind geschieden, Papa lebt in Alabama und Mama hier, mit meiner kleinen Schwester. Für Dad war damals alles zu viel und Mama hat alles möglich übernommen, hat sich um die Behandlungen für...mein Bein gekümmert und...hat alles irgendwie besser weggesteckt." Ich zucke mit den Schultern und schaue schnell wieder auf meine Oberschenkel, um Vincent nicht sehen zu lassen, wie schwer mir all diese Details fallen. Bilder von Colleens und meinem Zimmer schießen mir durch den Kopf, das Zimmer, in das ich mich so lange geweigert habe, zu gehen, nachdem meine Schwester gestorben ist, sodass ich immer bei Miles schlief. Die vielen Blumen auf den Fensterbänken, die Colleen immer gepflegt hat und dann verdurstet sind. Die hellen Vorhänge, die Colleen damals ausgesucht hat, weil ihr die hellblauen mit den Teddybärchen nicht mehr gefielen. Oder selbst unsere Tagesdecken, meine in weiß, ihre in gelb, die sie uns mal zu Weihnachten geschenkt hat. Colleen liebte es, Räume zu verschönern, ihnen Leben einzuhauchen. In jedes einzelne Stück steckte sie so viel Sorgfalt, überdachte alles dreifach und überzeugte dann mit dem Ergebnis, sodass ich einfach nicht mehr in unserem damaligen Zimmer schlafen konnte. Alles, wirklich jedes kleine Staubkorn, erinnerte mich an meine Zwillingsschwester.
"Ich bin inzwischen seit fast einem Jahr hier", sage ich leise, "und mir gefällt es hier wirklich. Am Anfang hätte ich das nie gedacht, aber glücklicherweise habe ich schnell Anschluss gefunden." Vincent greift über den Tisch nach meiner Hand und drückt sie fest. Bei seiner Berührung zucke ich zusammen und sehe mit großen Augen seiner Finger an, die meinen Handrücken umschließen. Meine gesamte Hand beginnt zu kribbeln und ich schlucke schwer, als ich aufblicke. "Es freut mich wirklich für dich, dass es dir hier gefällt, Judy", erwidert er und lächelt mich warm an. Ich atme stoßweise und lächle ihn ebenfalls an. Meine Handflächen werden langsam nass und ich schlucke erneut schwer. Vincent lässt meine Hand los und fährt sich erneut durch seine braunen Haare, die ihm wirr vom Kopf stehen.
"Was hast du in der ersten Stunde?", krächze ich und versuche so, meinen verräterisch hohen Pulsschlag wieder in den normalen Bereich zu bekommen. Wow, Judy, deine Fragen werden immer besser. Frag ihn am besten noch, welche Schuhgröße er hat, oder was seine Lieblingsfarbe ist. Oder, gib ihm dein Freundebuch, dann kann er da seine Hobbys eintragen.
"Bio", antwortet Vincent erstaunlich schnell. Ich rümpfe die Nase und lupfe meine rechte Augenbraue. "Ich erinnere mich noch an den Tag der Erlösung, als ich das Fach abgewählt habe." Vincent lacht schallend auf. Dabei wirft er seinen Kopf ein Stückchen nach hinten und kneift seine Augen zusammen. Sein Brustkorb bebt dabei. Meine Güte, wenn er lacht, sieht er noch besser aus, als er es ohnehin schon tut. Ich ohrfeige mich innerlich für diesen Gedanken und ermahne mich selbst dazu, nicht zu vergessen, dass seine Freundin Hayden Coyn ist, die nur darauf wartet, mich wieder fertig machen zu können. "Das höre ich von den meisten, denen ich erzähle, dass ich noch Bio habe", erwidert der Junge gegenüber von mir. "Dabei mag ich dieses Fach so gerne. Findest du es nicht faszinierend, was unser Körper alles drauf hat? Was die Natur in uns, als Menschen geschaffen hat? So viele Dinge, die wir eigentlich gar nicht wahrnehmen, geschehen hier in uns drin..." Er klopft auf die Stelle, wo das Herz ist und lächelt mich dabei an. Seine Augen funkeln dabei, während ich ihn nur skeptisch anlächle. "Ohja und ich erinnere mich noch daran, wie unsere Lehrerin uns jedes kleinste Detail der DNA in die Köpfe geprügelt hat oder als wir uns die vielen Filme über Verhütung ansehen mussten." "Das ist was komplett anderes", setzt Vincent an, wird dann aber von einem kräftigen Schlag auf seine Schulter unterbrochen. Ich zucke zusammen und blicke auf zu der Person, zu der die kräftige Hand gehört.
Eisblaue Augen und ein verschmitztes Grinsen starren mich an. Ich schlucke schwer und ringe mich zu einem Lächeln ab. Vor mir steht niemand anderes als Easton Stones, der Captain der Lacrosse-Mannschaft an meiner Schule und der Schwarm von jedem durchschnittlichen Mädchen, das nicht älter ist als er. Und ja, ich gebe es zu, ich fand ihn ganz am Anfang auch ziemlich....adrett. Um es gelinde auszudrücken. "Idiot", murmelt Vincent und grinst seinen - ich vermute Mal - Kumpel an. Easton grinst ebenfalls und sieht mich dann neugierig an. "Ihr kennt euch bestimmt schon, oder?", fragt Vincent und wie auf Knopfdruck schütteln sowohl Easton, als auch ich den Kopf. Wobei es bei mir gelogen ist, jeder kennt Easton Stones. Dass ich ihm noch nie aufgefallen bin, wundert mich stattdessen weniger. "East, Judy - Judy, East", stellt Vincent uns deshalb gegenseitig vor. "Freut mich, Judy", erwidert Easton und lächelt mich freundlich an, während ich nur ein steifes Nicken zustande bringe.
"Vince, der Coach möchte mit dir reden", wendet er sich seinem Kumpel zu. Vincent runzelt die Stirn und sieht Easton fragend an. Dieser zuckt mit den Schultern und verschränkt seine Arme vor seiner - wohlgemerkt breiten - Brust. Schnell wende ich meinen Blick ab und rühre den Rest meiner heißen Schokolade um. "Tut mir echt leid, Judy", verabschiedet sich der Junge gegenüber von mir und klaubt seinen Rucksack vom Boden auf. Ich schüttle nur den Kopf und lächle leicht. "Ich schreibe, dir, okay?" Er wartet meine Antwort schon gar nicht mehr ab, sondern dreht sich sofort um und eilt mit schnellen Schritten zum Ausgang der Mensa. Easton hinterher.
Als die beiden den Raum verlassen haben und ich mir sicher bin, dass keiner hersieht, erlaube ich es mir, breit zu lächeln. In meinem Herzen breitet sich eine Wärme aus, die sich im ganzen Körper spürbar macht, als ich an Vincents letzte Worte denke: Ich schreibe, dir, okay?
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro