
DREIUNDZWANZIG - Judy
Meine Finger sind klamm von der kühlen Septemberbrise, die über den Krankenhausparkplatz weht und die ersten vertrockneten Blätter aufwirbelt. Vincent neben mir zieht sich den Reisverschluss seiner Jacke weiter nach oben und versteckt seine Nase hinter dem Kragen. Seine Hände hat er tief in die Jackentaschen gestopft.
Ich habe ihm bereits zweimal gesagt, dass er gerne nach Hause fahren kann, wenn es ihm zu kalt ist, aber er bestand darauf, hier mit mir auf Miles zu warten. In meiner Brust breitet sich eine wohlige Wärme aus, als ich an die letzten eineinhalb Stunden zurückdenke, in denen ich den Jungen neben mir besser kennenlernen durfte. Neben dem Stück Himbeertorte und drei Tassen heißer Schokolade, durfte ich mit eigenen Augen sehen, dass Vincent ein aufgeweckter Kerl ist. Seine Augen blitzen, wenn er Schokoladentorte sieht und er scheint genau zu wissen, wie er auf andere Menschen wirkt.
Letztendlich hat er darauf bestanden, dass er die Rechnung für unseren Cafébesuch übernimmt. Was mir tatsächlich etwas unangenehm war, da ich so das Gefühl hatte, dass unser Treffen so etwas wie ein Date war. Das war aber keineswegs der Fall, es war vielmehr ein Kennenlernen, das zu einer späteren Freundschaft führen könnte. Ich habe ihm deshalb nur erlaubt zu zahlen, wenn ich dafür die nächste Rechnung übernehmen darf.
„Die nächste Rechnung", wiederholte Vincent darauf meine Worte und seine Augen blitzen wieder verschmitzt. „Hört sich schön an."
Meine Mundwinkel verziehen sich zu einem Lächeln, als ich den Geruch nach Minze neben mir einatme, den Vincent verströmt. Es ist kein penetranter Geruch, ich würde ihn als angenehm beschreiben. Er passt zu Vincent. Irgendwie könnte ich ihn mir nicht anders vorstellen.
Judy Ross, was redest du für einen Schwachsinn? Es ist nur der Duft eines Menschen. Alle acht Milliarden Menschen auf dieser Erde haben ihren eigenen Geruch.
Aus dem Augenwinkel mustere ich den Jungen neben mir. Vincent steht aufrecht und selbstbewusst da und hat einen wachen Blick. Seine Haare sind leicht zerzaust, wobei ich zugeben muss, dass ich sie noch nie anders gesehen habe. Aber es steht ihm, keine Frage.
Das laute Quietschen von einer Autobremse lässt mich zusammenzucken. Miles Wagen schlängelt sich die Auffahrt zu uns hinauf, seine Scheinwerfer leuchten grell. Mit einem leisen Seufzen, realisiere ich, dass nun die Zeit, die ich zusammen mit Vincent verbringen durfte, tatsächlich vorbei ist.
„Da kommt mein Bruder", murmle ich und wende mich dem Jungen neben mir zu. Vincent lächelt und neigt seinen Kopf zur Seite.
„Ich hoffe, dir hat es zumindest halb so gut gefallen, wie mir", erwidert Vincent. Ich nicke schnell und merke, wie sich auch bei mir ein Lächeln ins Gesicht schleicht. Ich schlucke schwer, als Vincent seine Arme ausbreitet und mich in eine feste Umarmung zieht. Mein Herz macht einen Purzelbaum und ich merke, wie es plötzlich in meinem ganzen Körper zu kribbeln beginnt. Angefangen in den Zehen meines rechten Fußes, bis zu meinem Kopf. Es ist ein angenehmes Gefühl und trotzdem macht es mir etwas Angst.
Ruckartig löse ich mich aus der Umarmung und räuspere mich. Vincent sieht mich fragend an, entspannt aber sogleich wieder seine Gesichtszüge und räuspert sich ebenfalls. „Wir sehen uns morgen?", will er von mir wissen. Ich nicke nur, winke ihm zum Abschied und stolpere zur Beifahrertür von dem Auto meines Bruders.
Du solltest mittlerweile wissen, dass das Laufen mit einer Prothese nicht unbedingt einfach ist und noch dazu für Außenstehende total komisch aussieht, Judy. Herzlichen Glückwunsch, den Award für einen peinlichen Abgang hast du dir hiermit gesichert.
Ich seufze schwer, als ich mich auf den Sitz neben meinen Bruder sinken lasse. Im Innenraum des Autos ist es angenehm warm und ich merke erst jetzt, wie anstrengend die letzten Stunden wirklich waren. Müdigkeit überfällt mich und auch mein linkes Bein zieht wieder schmerzhaft.
„Und, wie war es?", will Miles von mir wissen, als wir die lange, kurvige Ausfahrt wieder hinunterfahren. Ich seufze und grinse ihn breit an.
„Schön", erwidere ich. Mein Bruder lupft eine Augenbraue und wirft mir einen kurzen Seitenblick zu.
„Deine Wangen sind ganz rosig", erwidert er neckend und beißt sich auf die Unterlippe. Ich boxe ihm spielerisch gegen den Oberarm, woraufhin Miles laut aufjault. Wir kichern beide, als wir die letzten Meter nach unten fahren. Ich lehne mich tief in den weichen Sitz zurück, schließe die Augen und lasse die letzten eineinhalb Stunden noch einmal in Revue passieren.
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Zuhause höre ich schon im Flur, wie Jackie wieder eine ihrer ausgedachten Geschichten zum Besten gibt. Ich lächle, als ich sie im Wohnzimmer mit ihrem Teddy auf dem Sofa sitzen sehe. Mit ihren Händen gestikuliert sie wild und erzählt dem Stofftier, wie sie später mal als Prinzessin die Welt erobern wird. Ich nehme mir einen Moment Zeit und lehne mich gegen den Türrahmen. Die lockige Haarpracht meiner Schwester hüpft wild umher, als sie einen wilden Verfolgungsritt imitiert, bevor sie einen Siegesschrei loslässt. Ich lache leise, was sofort das Interesse von Jackie weckt. Sie dreht sich ruckartig zu mir um und grinst mich breit an.
„Judy!", ruft sie laut, klettert vom Sofa herunter und rennt mit wackeligen Schritten auf mich zu. „Hey du wilde Reiterin", lache ich und hebe sie hoch. Die Augen meiner kleinen Schwester blitzen aufgeweckt.
„Ich hab' Hunger", seufzt Jackie und sieht mich mit großen Augen an. „Mama hat Kekse gebacken", flüstert sie dann und zwinkert mir zu. Nur beim Gedanken daran, schon wieder etwas Süßes zu essen, verdoppelt sich die Himbeertorte gefühlt in meinem Magen. Trotzdem trag ich meine Schwester in die Küche, wo auch Miles sich schon über den riesigen Teller mit den Cookies hermacht.
„Hey, lass' mir was übrig", quengelt Jackie und beginnt, herum zu zappeln. Miles kichert und gibt ihr einen Keks. „Hm, lecker", schmatzt sie zufrieden und lässt sich von mir in ihren Hochstuhl sitzen. Obwohl die Küche wirklich herrlich nach den kleinen Gebäcken riecht, lehne ich den angebotenen Keks von meinem Bruder dankend ab und lehne mich stattdessen gegen die kleine Kücheninsel in der Mitte des Raums. Ich genieße solche Momente mit meinen Geschwistern. Und wenn es nur das Auffuttern von Keksen ist, für das wir später von Mama bestimmt wieder Ärgern bekommen. Erst durch den Unfall ist mir klar geworden, wie wertvoll diese Zeit zusammen ist und wie schnell sie vorbei sein kann.
Das Öffnen der Haustür lässt mich die Stirn runzeln. Ich trete hinaus auf den Flur und sehe Zac, wie er sich aus seinen Schuhen schält. Mein Lächeln friert ein, als ich meinen großen Bruder sehe. Von Tag zu Tag habe ich das Gefühl, dass sein Zustand schlechter wird. Unter seinen Augen befinden sich Ringe, die inzwischen beinahe schwarz sind. Seine Haut ist leichenblass und der Mantel, den er vor zwei Jahren schon aussortieren wollte, weil er zu klein war, ist ihm inzwischen mindestens zwei Nummern zu groß. Ich schlucke den schweren Kloß in meinem Hals hinunter und nehme ihm stattdessen die Schlüssel ab, um sie an das kleine Brettchen neben der Haustüre zu hängen.
„Mama hat ihre Kekse gebacken, willst du auch welche? Jackie und Miles machen schon ein halbes Wettessen", presse ich schließlich heraus und atme leise aus. Zac sieht mich teilnahmslos an. Es scheint so, als würde sein Blick durch mich hindurchgehen. Er zuckt nur mit den Schultern und verschwindet dann die Treppe nach oben. Vermutlich verzieht er sich in sein Zimmer, so wie immer in letzter Zeit.
Seufzend drehe ich mich um und sehe Miles, wie er im Türrahmen steht. Seine Mine ist wie versteinert und er sieht mich ernst an. Tränen treten mir in die Augen.
„Es wird mit jedem Tag schlimmer", flüstere ich heiser und wische die erste Träne weg, die aus meinem Augenwinkel tropft. Meine Hände beginnen zu zittern und ich merke, wie mein Herz schmerzhaft zu pochen beginnt. Seinen eigenen Bruder in so einem schlechten Zustand zu sehen, ist fast genauso schlimm, wie seine Schwester zu verlieren. Zac sieht aus wie der wandelnde Tod und es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich sein Zustand noch weiter verschlechtert. Miles hat ebenfalls wässrige Augen. Er fährt sich durch seine Haare und seufzt dann zitternd.
„Miles, ich habe Angst um ihn", flüstere ich kaum hörbar. Die Tränen, die jetzt über meine Wangen rollen, wische ich nicht weg. Miles schnauft ebenfalls laut und ich sehe, wie auch bei ihm Tränen in den Augenwinkeln funkeln.
„Ich auch", erwidert er. Seine Stimme zittert verdächtig. Er atmet tief durch, wischt sich über seine Augen und deutet dann mit dem Daumen zur Treppe hinauf. „Ich...werde nach ihm sehen. Pass' du in der Zeit bitte auch Jackie auf."
Ich nicke und schlucke erneut tief. Mit steifen Schritten steigt auch Miles die Treppe hinauf zu unserem Bruder und lässt mich mit einer fröhlich quietschenden Jackie allein.
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„Alter, Zac, wenn du noch langsamer fährst, dann können wir auch gleich zu Fuß gehen", murrt Miles auf dem Sitz vor mir und schüttelt den Kopf.
„Alter, Miles", imitiert Zac ihn und wirft ihm einen kurzen Seitenblick zu. „Wenn hier die Geschwindigkeit beschränkt ist halte ich mich daran, weil ich keinen Bock habe, meinen Führerschein abzugeben." Miles brummelt etwas Unverständliches, während Zac das Radio etwas lauter stellt. Colleen neben mir kichert leise und auch ich werfe ihr einen verschmitzten Blick zu. Wir sind auf dem Weg zu einem Lacrosse Spiel unserer Heimmannschaft, den Montgomery Wolfs, gegen irgendeine Mannschaft aus Virginia. Miles und Zac wollten sich das Spiel unbedingt ansehen und da Colleen und ich keine Lust hatten, heute allein Zuhause zu sein, kamen wir, nachdem wir Papa angebettelt haben, letztendlich einfach mit.
„Mädels, zur Info", sagt Zac mit seiner ich-bin-der-große-Bruder-Stimme, „unsere Mannschaft hat blaue Trikots, die Charlottesville Canibals rote Trikots. Bitte nicht das falsche Team anfeuern, wie Miles letztens."
Miles boxt Zac gegen den Oberarm, woraufhin Zac gekünstelt aufjault.
„Es war übrigens Zac, der einen Punkt der anderen gefeiert hat", seufzt Miles und schüttelt den Kopf. „Und das mitten unter all den eingefleischten Fans."
Colleen lacht laut und schüttelt den Kopf. Schweigend durchqueren wir eine kleine Ortschaft, bevor wir schließlich auf den Highway gelangen und Zac die Geschwindigkeit beschleunigt. Ich lehne mich in meinem Sitz zurück und starre aus dem Fenster. Die Landschaft zieht an uns vorbei und wieder einmal merke ich, wie froh ich bin, in Alabama zu leben. Weite Wiesen erstrecken sich neben der Straße und es scheint so, als würden wir jeden Moment auf einen der vielen Berge der Alabama Hills fahren. Die Szenerie mit dem Sonnenuntergang und den Bergen, würde für viele Menschen das perfekte Instagram-Motiv sein. Für mich ist es Alltag. Trotzdem schätze ich diese wunderschöne Natur immer wieder aufs Neue.
„Gestern habe ich übrigens Jordan endlich verklickert, dass das mit uns beiden nichts werden kann. Ich meine, als er mir sein Liebesgeständnis gemacht hat, war er erstens betrunken und hat zweitens kurz darauf mit Cortney geknutscht. Der kann das gar nicht ernst meinen. Und deshalb habe ich ihn ein für alle Mal abserviert", erzählt Colleen stolz unseren Brüdern. Jordan Jones ist ein Junge, der zwei Stufen über uns geht und ungefähr das, was einen Bad Boy beschreibt. Er sieht unglaublich gut aus, ist ziemlich beliebt an der Schule und hatte schon mehr Freundinnen, als er vermutlich aufzählen kann. Denn, zu der intelligenten Sorte zählt er nun mal wirklich nicht.
Miles nickt anerkennend und fährt sich durch seine Haare. „Ich wette, er steht spätestens morgen wieder bei dir am Spind und bittet dich darum, die ganze Sache nochmal zu überdenken."
Meine Zwillingsschwester schüttelt heftig den Kopf. „Auf keinen Fall lasse ich mir von dem den Kopf verdrehen. Wo es doch zurzeit mit Nolan so gut läuft."
Ich sehe meine Schwester von der Seite an, wie sie, wild gestikulierend, von ihrem aktuellen Schwarm erzählt. Ein kleines Fünkchen Eifersucht macht sich in mir breit. Ich liebe Colleen dafür, dass sie so aufgeweckt und lebhaft ist und trotzdem würde ich gerne mal die Aufmerksamkeit von den Jungs an der Schule bekommen, die ihr zu Teil ist. Colleen sagt immer, ich wäre zu schüchtern. Ich müsste nur noch etwas mehr aus mir herauskommen.
„Hey, Judy", höre ich Miles plötzlich. Ich blicke auf und sehe, wie mein Bruder das Radio lauter dreht. Aus den Lautsprechern tönt die Melodie eines Liedes, das mir sehr gut bekannt ist. Ich merke, wie mein Kopf die Farbe einer Tomate bekommt und presse meine Augen zusammen.
Zac gackert im gleichen Moment los, wie auch Miles den Refrain furchtbar schief zu grölen beginnt.
„Zu dem Lied hast du wie ein übergewichtiges Nilpferd mit einem Stock im Hintern getanzt", prustet Zac und gackert erneut von vorne los. Miles gibt unterdessen seine schreckliche Gesangseinlage weiter preis, während ich die Augen verdrehe.
„Gar nicht wahr", erwidere ich und schiebe meine Unterlippe nach vorne. Colleen greift meine Hand und drückt sie fest.
„Wenigstens hat Judy sich getraut zu tanzen, während ihr nur mit eurem Bier dagesessen seid", setzt sie sich für mich ein. Ich lächle ihr dankbar zu und starre erneut aus dem Fenster. Der Mond leuchtet mittlerweile vom Himmel und wartet nur darauf, bis die Sonne endlich gänzlich untergegangen ist.
„Wenigstens waren wir nicht so fertig wie Andy", ergänzt Miles kichernd, „der hing schon um halb neun kotzend überm Zaun und wusste nicht mehr, wo oben und unten war." Andy ist der beste Freund meines Bruders, stammt aus einer recht wohlhabenden Familie und durfte erst vor einem halben Jahr das erste Mal Alkohol trinken. Seitdem übertreibt er es immer, wenn er mit seinen Kumpels unterwegs ist und hält meistens nicht mal eine Stunde durch, bevor er sich übergeben muss.
„Um halb neun?", wiederholt meine Zwillingsschwester neben mir. „Da fing doch die Party noch nicht mal wirklich an." Miles nickt vor mir heftig und zuckt mit den Schultern.
„Mehr als ein Bier packt der eben noch nicht. Und ganz eventuell habe ich etwas nachgeholfen." Ich verdrehe die Augen und auch Colleen seufzt laut. Miles ist von uns vieren definitiv der Partykönig. Ein Wochenende ohne Alkohol gibt es bei ihm quasi nicht. Wäre ja nicht schlimm, wenn er sich zumindest unter der Woche zusammenreißen würde. Aber auch da schwänzt er die meiste Zeit seine Uni-Kurse und bringt Papa deswegen oft zur Verzweiflung.
„Miles, denkst du nicht, es wäre langsam an der Zeit, deinen Alkoholkonsum etwas herunterzuschrauben und dir langsam Gedanken um deine Zukunft zu machen?" Zac seufzt und schüttelt den Kopf. „Du hast dieses eine halbe Jahr mehr Kurse im College verpasst, als ich in meinen ganzen zwei Studienjahren."
Miles seufzt und sieht meinen Bruder genervt von der Seite an. „Zac, wenn du nur ein einziges Mal den Stock aus deinem Hinter bekommen könntest, würde ich viel mehr Zeit mit dir verbringen wollen." Zac grummelt etwas und seufzt dann laut.
„Ich habe mir schon gedacht, dass jemand was unter die Bowle gemischt hat", wechselt meine Schwester neben mir wieder das Thema. Wir beide wissen ganz genau, dass es ein langer Abend werden kann, wenn Miles und Zac sich jetzt anfangen zu streiten.
„Ja, den guten Wodka", antwortet Zac knapp und wirft Miles einen knappen Seitenblick zu. Dieser zuckt mit den Schultern und rutscht in seinem Sitz etwas nach unten.
„Keine Party ohne Bowle mit Alkohol."
Colleen kichert und auch ich muss grinsen. Miles liebt das Feiern, schert sich nicht viel um die Uni und meistens sieht man ihn am Wochenende kaum. Dafür ist er überall bekannt, schafft alles, was er sich in den Kopf gesetzt hat und wenn man ihn braucht ist er immer für einen da – nur meistens nicht ganz nüchtern.
Zac fährt uns weiter durch das nächtliche Stadtleben. Ganz in der Ferne kann man schon das Stadion sehen, in dem wir uns heute Abend die Stimme heiser brüllen wollen. Meine Vorfreude steigt nun doch irgendwie, als ich an die einheizende Stimmung, die gute Laune und den Geruch nach Hot dogs denke.
Plötzlich geht alles ganz schnell. Es hätte eigentlich gar nicht passieren dürfen. Aus dem Augenwinkel sehe ich unsere grüne Ampel. Ein Auto, das uns entgegen kommt. Und noch eines, das die Kreuzung, in der wir uns gerade finden, viel zu schnell anfährt.
Es müsste doch stehenbleiben.
Scheinwerfer blitzen auf.
Das entgegenkommende Auto wird gerammt, wird gegen uns geschleudert. Direkt dort, wo Colleen sitzt. Meine Schwester schreit. Wirft sich über mich. Glas splittert. Und dann heben wir ab. Fliegen. Überschlagen uns. Ich schreie. Colleen schreit. Glas splittert. Rauch steigt auf. Und dann ist alles schwarz....
Ich sitze zitternd in meinem Bett. Mein Herz trommelt wie verrückt gegen meinen Brustkorb. Tränen rollen über meine Wangen, während ich immer wieder daran denke, wie sich meine Schwester über mich geworfen hat. Ihre Schreie hallen in meinen Gedanken wider. Ich atme schnappartig, halte mich an dem Spannbetttuch meines Bettes fest.
Plötzlich öffnet sich die Tür zu meinem Zimmer und Mama und Miles stehen im Türrahmen. Beide sehen mich geschockt an, während ich leise zu schluchzen beginne. Mit meinen zitternden Händen versuche ich, die vielen Tränen aus meinem Gesicht zu wischen, die nun unkontrollierbar aus meinen Augen strömen.
Mama kommt zu mir, setzt sich neben mich und drückt mich an sich. Ich atme ihren Geruch ein, drücke mich fest an sie und zähle leise bis zehn. Das habe ich auch immer im Krankenhaus gemacht, damals, direkt nach dem Unfall. Eine Krankenschwester meinte damals, dass nach dem Zählen der Schmerz leichter wird. Dann weiß er, dass es Zeit ist, zu gehen.
„Ich habe Colleen gesehen", flüstere ich heiser, „ich habe vom Unfall geträumt und habe Colleen gesehen." Mama streicht mir über den Kopf, während Miles wie festgenagelt im Türrahmen steht und mich stumm anblickt. Die Schreie meiner Zwillingsschwester hallen durch meinen Kopf. Das laute Quietschen der Bremsen setzt sich wie ein Tinnitus fest.
Durch mein linkes Bein schießt ein stechender Schmerz, ich krümme mich zusammen und schreie weit auf. Mein ganzer Körper ist erfüllt von diesem Schmerz. Den ich auch damals im Krankenhaus jeden Tag gespürt habe. Mama verstärkt ihren Griff um mich und flüstert mir beruhigende Worte ins Ohr, von denen ich keines verstehen kann. Wortfetzen von unserem unbeschwerten Gespräch, das laute Lachen von Zac, die Vorfreude in mir, all das spielt sich in mir drin ab wie ein Film. Und jede einzelne Szene verstärkt den Schmerz in mir.
„Mama?" Ich blicke auf und sehe Jackie im Türrahmen. Sie sieht und ängstlich an. Hat ihren Teddy in der Hand. Miles presst seine Lippen zusammen und bringt sie weg. Sie soll das nicht sehen. Sie weiß von dem meisten nichts. Nur, dass sie eine große Schwester im Himmel hat, die als Engel auf sie aufpasst.
Der Schmerz in meinem Brustkorb explodiert und ich krümme mich in den Schoß meiner Mutter zusammen. Ihre Worte durchdringen die Wand der Angst und Verzweiflung nicht, die sich gerade vor mir aufgebaut hat. Immer wieder spielen sich die Szenen des Traumes vor meinen Augen ab. Immer wieder höre ich Colleen rufen. Spüre das Gefühl des Fliegens, als wir uns überschlagen haben.
„Colleen hat sich auf mich geworfen, als es passierte", schluchze ich und kralle mich an dem weichen Pullover fest. „Sie hat mich gerettet. Sie hat den ganzen Schaden abbekommen. Ich hätte sie beschützen müssen. Ich hätte auf sie aufpassen müssen, dann würde sie noch leben, Mama."
Ich werde von einer Welle des Schluchzens überrollt und widerstehe dem Drang zu schreien. Jackie soll nichts mitbekommen.
„Judy." Die Stimme meiner Mutter ist so leise wie ein Windhauch. Ich blicke auf und sehe, wie auch in ihren Augen Tränen aufblitzen. „Hör bitte auf, sowas zu sagen." Sie streicht mir über meinen Haarschopf und neigt ihren Kopf zur Seite. „Du hättest in diesem Moment nicht anders handeln können. Dieser Moment hätte nie passieren dürfen. Du darfst dich nicht an den Gedanken daran kaputtmachen, was hätte passieren können. Du lebst, Judy. Du hast so stark gekämpft, um wieder zurück ins Leben zu finden. Lass' das nicht durch deine Gedanken zerstören."
Mama verschwimmt vor meinen Augen, während immer wieder Tränen aus meinen Augenwinkeln kullern. Die Ungewissheit, wie es Colleen jetzt geht, ob der Gedanke vom Himmel wirklich stimmt, oder ob sie nur eine leblose Hülle unter der Erde ist, frisst mich auf. Es ist nicht die Trauer, die mich so sehr kaputtmacht, sondern die Angst, dass meine Zwillingsschwester leidet. In diesem Moment. Sie fehlt mir.
„Ich möchte nur noch einmal mit ihr reden, Mama", flüstere ich heiser. „Ich will wissen, wie es ihr geht. Sie noch einmal lachen hören."
Ein langer Schatten fällt ins Zimmer. Ich blicke auf und sehe Zac, mit einem Glas Wasser im Türrahmen stehen. Bei unserem Anblick werden seine Atemstöße immer heftiger. Er sieht uns an, verzieht sein Gesicht zu einer schmerzverzehrten Miene und dreht sich dann aprupt um. Mit schnellen Schritten entfernt er sich von uns, bevor wir ein lautes Scheppern hören. Vermutlich das Glas mit Wasser. Danach knallt eine Tür mit lautem Schlag zu.
Mama seufzt und streichelt mir über den Kopf. „Ich glaube, ich muss mich um deinen Bruder kümmern", flüstert sie. „Geh bitte zu Miles, ja? Du kannst ja bei ihm schlafen... er hat bestimmt nichts dagegen."
Sie seufzt erneut, steht auf und verlässt das Zimmer. Ich drehe mich wieder auf den Rücken. Stumm kullern Tränen über mein Gesicht. Sie hinterlassen brennende Spuren. Es tut weh. Wie alles in mir gerade. Jede kleine Zelle schreit nach meiner Zwillingsschwester. Ich rolle mich zur Seite und vergrabe mein Gesicht im nassen Kopfkissen. Es wird leichter, haben sie im Krankenhaus und bei der Psychotherapie gesagt, du wirst den Schmerz langsam loslassen.
Jetzt, in diesem Moment wird mir bewusst, dass es niemals leichter werden wird. Es wird immer schlimmer. Mit jedem Tag, an dem ich meine Schwester nicht sehe, tut es mehr weh. Ich vermisse sie immer mehr.
Ich ziehe meine Decke über den Kopf und warte so, bis mich der Schlaf wieder überrollt.
_____
Am nächsten Tag darf ich von der Schule Zuhause bleiben. Ich liege bis beinahe Mittag in meinem Bett und starre an die Decke. Mein Handy liegt ausgeschaltet neben mir. Ich weiß, dass sich Val nur unnötig Sorgen machen würde, wenn ich ihr schreibe, dass es mir nicht gut geht.
Meine Wangen brennen noch leicht von letzter Nacht und ich fühle mich total erschöpft, obwohl ich nach dem Traum doch wieder schnell eingeschlafen bin. Ich habe mich noch nicht im Spiegel angeschaut, ich will gar nicht wissen, wie schrecklich ich aussehe. Meine Vorhänge sind noch zugezogen. Nur etwas Musik habe ich mir ganz leise angemacht.
Irgendwann, es müsste ziemlich genau Mittag sein, höre ich ein leises Pochen an der Tür. Ich setze mich auf und runzle die Stirn. Miles steht im Türrahmen, mit zwei Kartons Pizza in der Hand und sieht mich vorsichtig an. Ich lächle, und rücke ein Stück in meinem Bett zur Seite.
Mein Bruder kriecht zu mir unter die Decke und reicht mir dann einen der Kartons. Der Duft, der sich langsam in meinem Zimmer verbreitet, lässt meinen Magen ein lautes Knurren von sich geben, was uns beide schmunzeln lässt.
„Danke", flüstere ich heiser und klappe den Karton auf. Eine riesige Pizza Funghi liegt vor mir. Miles stopft sich einige Kissen in den Nacken und hat schon beinahe das erste Stück verputzt, als er sich den Fernsehschalter schnappt. Er zappt durch die Programme, bis er bei einer Wiederholung einer alten Quiz-Show hängen bleibt, die wir uns einen Moment lang ansehen und dabei essen.
„Wie geht es dir?", durchbricht mein Bruder schließlich das Schweigen und sieht mich eindringlich von der Seite an.
Ich zucke mit der Schulter und seufze dann. „Schon besser", antworte ich. „Tut mir leid, dass ich euch heute Nacht aufgeweckt habe."
„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, Judy. Du vermisst Colleen und das ist okay. Ich vermisse sie auch. Wir alle vermissen sie. Und wir alle haben diese Alpträume." Miles starrt auf seine Pizza und nimmt sich schließlich ein weiteres Stück. „Wichtig ist nur, dass wir zusammen darüber reden und uns nicht so verschließen..." Er runzelt die Stirn und schüttelt dann den Kopf. Ich weiß, dass er in diesem Moment an Zac denkt.
Ich konzentriere mich auf den Kandidaten vor uns, der bereits bei der 1.000€-Frage ausscheidet und nehme mir ein weiteres Stück meiner Pizza. „Hat Jackie noch etwas gesagt, als du sie ins Bett gebrachst hast?", will ich von meinem Bruder wissen.
Miles grinst und nickt dann. „Ob ich ihr etwas vorsingen kann." Ich muss lachen und sehe Miles fragend von der Seite an. „Natürlich habe ich dann etwas gesungen", erwidert er und sieht mich ungläubig an. „Willst du mir etwas weismachen, dass du ihr einen Wunsch abschlagen könntest?"
Ich lache laut bei dem Gedanken an meinen großen Bruder, wie er irgendwelche Schlaflieder zu seinem Besten gibt. Und irgendwie... tut dieses Lachen gut. Miles knufft mir gegen den Oberarm und schnappt sich dann mein Handy. Seufzend schaltet er es ein und verteilt gleichzeitig das ganze Fett seiner Pizza auf meinem Display.
Die Heiterkeit von gerade eben verfliegt genauso schnell wie sie gekommen ist. Den Benachrichtigungstönen zufolge, habe ich einige Nachrichten bekommen. Das Stückchen Pizza, das ich gerade hinunterschlucken wollte, bleibt in meinem Hals stecken. Mein Bruder runzelt die Stirn und sieht mich dann fragend an.
„Val hat einen kleinen Knall, oder? Du hast ganz genau dreiundvierzig Nachrichten von ihr." Ich seufze und zucke mit den Schultern.
„Ich schätze, das ist ganz normal bei ihr."
Miles überfliegt die Benachrichtigungen, die ich von ihr bekommen habe und sieht mich plötzlich grinsend von der Seite an. Ich kenne diesen Ausdruck sehr genau. Den machte er sonst immer beim Feiern, wenn er ein Mädchen entdeckt hatte, mit dem er flirten wollten.
„Judy Diana Ross, wer zur Hölle ist ‚Vincent Holden'?"
Ich verschlucke mich und reise dann meine Augen weit auf.
„Woher kennst du den Namen?"
Miles hält mir grinsend mein Handy entgegen, wo zwischen den ganzen Nachrichten von Val eine von Vincent steht. Mein Herz beginnt schneller zu pochen, als ich meinem Bruder das Telefon abnehme, um den Text durchzulesen.
Vincent:
Hey, ich hab dich heute noch gar nicht gesehen. Deine Freundin meinte, du bist Zuhause, aber weiß auch nicht wirklich was los ist. Alles okay?
Miles sieht mich prüfend von der Seite an. Ich lächle und seufze dann. Mein Herzschlag beschleunigt sich erneut und ich merke, wie auch meine Hände leicht zu zittern beginnen. Miles wendet seinen Blick schließlich von mir ab und zappt weiter durch das Fernsehprogramm. Ich starre noch kurz auf die Nachricht vor mir, bevor ich sie schließlich öffne und zurückschreibe.
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