DREI - Judy
Miles und ich gehen schweigend nach Hause. Ab und zu kickt mein großer Bruder einen Stein vom Weg. Die Sonne verschwindet schon langsam hinter den Baumkronen. Miles schultert meinen Rucksack und beschleunigt seine Schritte. Er trägt mir immer mein Zeug nach Hause, auch wenn ich ihm schon so oft gesagt habe, dass er es nicht machen muss.
Und trotzdem macht er es. Weil er Angst hat, dass dir etwas zu anstrengend werden kann. Und das weißt du auch.
Immer dann, wenn seine Vorlesungen an der Uni gleichzeitig mit meinem Unterricht enden, holt er mich von der Schule ab und wir gehen zusammen nach Hause. Meistens reden wir nicht dabei, aber ich mag es trotzdem, wenn er da ist. Seit dem Vorfall wurde das Band zwischen uns noch stärker. Vor allem in den ersten Monaten war er die stärkste Stütze, die ich in meinem Leben hatte. Er war direkt vor und auch nach meinen vielen Operationen da, brachte mir meine Lieblingsfilme ins Krankenhaus und schmuggelte auch das ein oder andere Mal Burger mit viel zu fettigen Pommes in mein Zimmer, wenn ich das gesunde Krankenhausessen nicht mehr sehen konnte.
Meine Gedanken driften ab zu dem Auswahltraining der Cheerleader, das morgen stattfinden wird. Valerys Unterstützung habe ich auf jeden Fall und würde es nach ihr gehen, wäre ich schon längst im Team.
Wäre da nicht Hayden Coyn.
Ihre bissigen Worte vom Wochenende verfolgen mich jeden Tag. Ich denke an ihr gehässiges Lächeln, mit dem sie bestimmt die Worte in ihr Handy eingetippt hat. Daran, wie sie zufrieden gegrinst hat, als sie die Nachricht abgeschickt hat, um sich dann gleich wieder ihren perfekten Haaren und Nägeln zu widmen. Daran, dass es wohl ihre Leidenschaft ist, schwächeren Menschen immer und immer wieder Seitenhiebe zu verpassen, bis sie ganz aufgeben.
Ich merke, wie sich ein großer Kloß in meinem Hals bildet und atme tief durch. Mein Herz beginnt schneller zu pochen, als mir klar wird, dass ich ihr morgen gegenübertreten werde. Obwohl sie mit Sicherheit damit rechnen wird, dass ich nicht auftauchen werde. Nicht, nach den Worten, die sie mir geschickt hat.
Und dir wird es egal sein, was sie sagt. Du wolltest schon immer Cheerleaderin werden und morgen wirst du es schaffen. Für Colleen. Und für dich selbst.
Die Choreo, die sich die Gruppe ausgedacht hat, sitzt perfekt, da ich bereits seit einem Monat Zuhause übe. Sie ist nicht schwer und Gott sei Dank sind keine Sprünge dabei. Mein Bein brannte zwar nach den vielen Durchgängen wie die Hölle, aber ich rief mir immer und immer wieder ins Gedächtnis, dass ich das alles für meinen großen Kindheitstraum mache.
Und für den von Colleen. Schließlich war sie es, die dich bei den vielen Footballspielen, die sich Zac, Miles und Dad jeden Sonntag im Fernsehen anschauten, auf die Tänzerinnen aufmerksam gemacht hat. Und die sich zusammen mit dir verkleidet hat und dann peinliche Tänze vor der ganzen Familie aufgeführt hat.
Ich atme erneut tief durch und verscheuche den Gedanken aus meinem Kopf. Im Krankenhaus habe ich oft mit meinen Ärzten und Physiotherapeuten über den Traum des Cheerleadings gesprochen. Zwar war keiner wirklich begeistert davon, meinten aber auch, dass, wenn ich keine waghalsigen Sprünge oder ähnliches versuche, es eigentlich kein Problem sein sollte. Solange es nicht wehtut.
Mein Bruder und ich biegen in unsere Einfahrt ein, Miles kramt seinen Schlüssel aus der Hosentasche und sperrt die Haustüre auf. Mein Magen grummelt laut, als ich den leckeren Geruch von dem fantastischen Hähnchencurry im Hausflur rieche, das meine Mama viel zu selten kocht.
"Judy!" Ich drehe mich und grinse, als Jackie, meine kleine Schwester, zu mir torkelt. Sie ist eineinhalb Jahre alt. Mama war schwanger mit ihr, als alles passierte. Colleen freute sich wahnsinnig auf das Baby und suchte schon ständig im Internet nach kleinen Kleidchen, die sie Jackie anziehen könnte.
Dazu kam es nie.
Ich presse meine Augen zusammen und schüttle schnell den Kopf. Jackie klammert sich an mein Bein und grinst breit. Sie hat die gleichen blauen Augen wie mein Dad, aber die blonde Lockenmähne, die in alle Richtungen von ihrem Kopf steht, hat sie definitiv von meiner Mutter.
Ich hebe sie hoch und stupse ihr auf ihre kleine Nase. Jackie quietscht laut und klammert sich an meinem Hals fest. Mit ihr auf dem Arm gehe ich in die Küche, wo meine Mutter gerade die Auflaufform mit dem Curry aus dem Ofen nimmt.
"Judy, Liebes", sagt sie, als sie uns beide bemerkt und lächelt. "Rufst du bitte Zac? In fünf Minuten gibt es Essen. Oh, und sag Miles bitte, dass er noch etwas zu Trinken aus dem Keller holen soll." Ich nicke, setze meine kleine Schwester ab, die sofort zu ihrer Spielmatte krabbelt und gebe die Anweisungen weiter.
Zehn Minuten später sitzen wir alle am Tisch, Zac und Miles gegenüber von mir, neben mir meine Mum und Jackie. Die dampfende Auflaufform steht in der Mitte und ich puste auf das Curry, damit es etwas abkühlt.
Während Miles das Essen in sich hineinschaufelt, als hätte er seit einer Woche nichts mehr bekommen, sitzt Zac lustlos am Tisch und stochert auf dem Teller herum, ohne einen Bissen zu nehmen.
"Wie war es in der Schule, Judy?", fragt meine Mama und wischt schnell die Sauerei weg, die Jackie gerade mit ihrem Essen veranstaltet hat. Seit ein paar Wochen besteht sie darauf, selbst zu essen, nur endet es meistens damit, dass mehr auf dem Boden oder dem Esstisch, als tatsächlich in ihrem Mund landet.
"Ganz okay", erwidere ich und zucke mit den Schultern. Dann verziehe ich mein Gesicht zu einem vorsichtigen Lächeln. "Morgen findet das Auswahltraining der Cheerleaderinnen statt und ich werde wohl wirklich daran teilnehmen." Ich blicke, die ihr Gesicht sofort zu einem Lachen verzieht.
"Das ist großartig", erwidert sie und lächelt mich stolz an.
"Warum willst du dir das Drama mit Hayden Coyn antun?" Miles lässt seinen Löffel sinken und sieht mich dann mit gerunzelter Stirn an. Ich öffne meinen Mund, um etwas zu sagen, bleibe aber trotzdem stumm. Schnell schiebe ich mir einen Bissen des Currys in den Mund, um nicht antworten zu müssen. Stattdessen zucke ich nur mit den Schultern.
"Ich find's gut", klinkt sich zum Erstaunen aller Zac in das Gespräch mit ein. Der Anflug eines Lächelns erscheint auf seinem blassen Gesicht, als er meinen Blickkontakt sucht. "Wann soll ich dir morgen die Daumen drücken?" Ich zucke erneut mit den Schultern.
"Keine Ahnung", erwidere ich ehrlich, "der genaue Plan hängt erst morgen in der Turnhalle aus."
Miles grummelt etwas Unverständliches, als er sich die dritte Portion vom Curry nimmt, sagt aber nichts weiter, sondern schaufelt nur weiter das Essen in sich hinein.
"Ich finde es gut, dass du etwas Neues ausprobierst", meint Mama und nimmt meine Hand in ihre. Ich lächle und merke, wie sich etwas in meinem Herzen löst. Mit dem Daumen streicht sie leicht über meinen Handrücken.
Jackie gluckst laut, patscht mit ihrem Löffel erneut in ihr Essen und verteilt so wieder einige Spritzer um sie herum. Während Mama leise fluchend den Brei wegwischt, strahlt mich meine Schwester breit an.
Schweigend essen wir schließlich weiter. Ich starre konzentriert auf meinen Teller. Trotzdem nehme ich aus dem Augenwinkel Miles wahr, der mich durchdringlich mustert. Mit den Fingerspitzen berühre ich unauffällig das harte Plastik meiner Prothese, das ich durch den Stoff der Jeans hindurch, spüre. Der Appetit ist mir nun endgültig vergangen.
Stattdessen breitet sich in mir Angst aus. Angst, vor dem nächsten Tag.
_____
Mit zitternden Fingern schnüre ich die Schnürsenkel meiner Turnschuhe zu. In der Umkleide summt es wie in einem Bienenstock. Mindestens fünfzig aufgeregte Mädchen rennen in dem kleinen Raum herum. Ich blicke hektisch zur Uhr und sehe, dass mir nur noch fünf Minuten bleiben. Aus der Turnhalle höre ich laute Musik. Bis jetzt habe ich mich noch nicht getraut, einen Blick in die Halle zu werfen. Mir ist schon jetzt schlecht genug und der Anblick von Hayden würde mich bestimmt noch nervöser machen.
Ich stehe langsam auf und wische mir meine nassen Hände am Oberschenkel ab. Im Kopf gehe ich nochmal alle Bewegungen durch, während ich mir meine Haare zu einem straffen Zopf hochbinde. Die Sekunden vergehen viel zu schnell und mit jedem Zucken des Sekundenzeigers steigert sich meine Aufregung gefühlt um das Vierfache. Ich sehe ein paar Mädchen aus meiner Jahrgangsstufe, die mir aufmunternd zulächeln und die Daumen nach oben recken.
Ich drücke mich durch zur Turnhallentür, wo schon viele Mädchen aufgeregt gackern und sich Mut zusprechen. Tief durchatmend öffne ich die Tür und sofort strömt mir die stickige Luft der Halle entgegen.
Ich beiße mir auf die Lippen, als ich mit wackeligen Knien den weichen Hallenboden betrete und die schwere Tür hinter mir ins Schloss fallen lasse. Im ersten Moment werde ich geblendet von den hellen Deckenlampen. Ich blinzele mehrere Male, bis die vielen tanzenden Bären, die an die Wände gemalt wurden, schärfer werden. Darüber befindet sich das Logo der Brixton High.
Ich gebe zu, eigentlich bin ich gern hier drin. Der Sportunterricht an meiner Schule ist wirklich okay und die meisten Veranstaltungen, sei es eine Kuchengala oder ein Basketballspiel der Brixton's Wild Bears, sind meistens sogar ziemlich lustig.
Aber heute würde ich am liebsten sofort wieder den Rückzug antreten.
Laute Musik dröhnt mir entgegen und ich gehe langsam zum hinteren Teil, wo ich schon ein Mädchen sehen kann, das die Choreo wirklich perfekt tanzt.
Mein Blick wandert weiter und ich merke, wie mir förmlich jegliche Farbe aus dem Gesicht weicht. An einem zum Jurytisch gebastelten Kasten sitzen drei Mädchen, die mir äußerst bekannt vorkommen.
In der Mitte sitzt Hayden, ihre Haare fallen in weichen Locken über ihren Rücken, während sie konzentriert auf die Bewegungen des Mädchens achtet. Links und rechts von ihr sitzen die beiden Zwillinge Josie und Amber Spencer. Sie sind so etwas wie Haydens größte Verehrerinnen, was diese schamlos ausnutzt.
Alle drei tragen sie die knappen Cheerleadingdressen und beraten sich, nachdem das Mädchen zu Ende getanzt hat. Ich verschränke meine Arme vor der Brust und atme tief aus. Die einzelnen Bewegungsabläufe spielen sich erneut in meinem Kopf ab und ich denke daran, was Mama heute Morgen zu mir gesagt hat.
Ich weiß, dass du es nicht nur für dich machst. Ich bin mir sicher, Colleen wird heute auch da sein. Ihr beide schafft das.
Tränen steigen mir in die Augen, als ich an die drei Sätze denke. Schnell blinzle ich sie weg, damit mich keiner so sieht. Auf keinen Fall möchte ich vor Hayden weinen. Tief durchatmend sehe ich, wie sich das Mädchen vor mir kreischend freut, als sie erfährt, dass sie von nun an zu den Cheerleaderinnen gehört. Sie bedankt sich überschwänglich bei Hayden und ihren Anhängerinnen und springt dann fröhlich in die Richtung des Hallenausganges.
Stumm schaue ich ihr hinterher, bevor ich mich dann wieder zu den drei Mädchen umdrehe, die leise tuschelnd ihre Köpfe zusammengesteckt haben.
Jetzt bin ich an der Reihe.
Mein Körper zittert, als ich zaghaft einen Schritt nach dem nächsten mache. Hayden schreibt eifrig etwas in ihr Notizbuch, sodass sie mich anfangs gar nicht wirklich wahr nimmt. Ich räuspere mich zaghaft und balle meine Hände zu Fäusten. Meine Fingernägel graben sich in meine Handfläche.
Ruhig, Judy. Colleen ist da. Sie wird dir helfen.
Ich schlucke schwer und versuche das leichte Beben meines Kinnes zu ignorieren. Hitze steigt mir ins Gesicht, als Hayden aufblickt und die Stirn runzelt. Die drei mustern mich.
Allen voran Hayden Coyn.
Wieder wird mir bewusst, wie hübsch sie ist. Ihre blonde Lockenmähne umrahmt ihr schmales Gesicht. Ihre Augen haben einen sanften Blauton, sie sind nicht zu groß, nicht zu klein, gerade perfekt. Ihre langen Fingernägel trommeln auf dem Leder des Kastens, während Amber mich ungläubig anguckt und Josie hämisch eine Augenbraue lupft. Ich fühle mich, als wäre mein Körper plötzlich zu Stein geworden. Stumm stehe ich vor ihnen und merke, wie die Blicke mich förmlich auffressen.
"Judy Ross", höre ich Josies hohe Stimme durch die Halle schallen. Ich nicke und beiße mir auf die Lippe. Versuche, ihr tief in die Augen zu schauen und schaffe es doch nicht.
Colleen, wo bist du?
Josie schüttelt ungläubig den Kopf und sieht mich mit einem messerscharfen Blick an. "Dir ist schon klar, dass das hier ein Auswahltraining für die Cheerleaderinnen ist und kein Vorsprechen für einen Buchclub, oder die Theater AG, oder?" Ihr Mund verzieht sich zu einem hämischen Grinsen, während ich merke, wie mir alle Farbe aus dem Gesicht weicht.
"Das weiß ich, aber...", versuche ich mit heiserer Stimme zu erklären. Amber unterbricht mich mit einem lauten, viel zu schrillen Lachen. Sie wirft ihre braunen Strähnen nach hinten und verschränkt ihre Arme vor der Brust. Mein Blick wandert zu Hayden, die mich eiskalt ansieht.
Selbst jetzt, mit ihrer verkniffenen Miene, sieht sie wunderschön aus. Ich weiß, dass jeder Junge an unserer Schule schon mindestens einmal für sie geschwärmt hat. Und doch lässt sie jeden abblitzen. Valery hat mir erzählt, dass sie zwar früher einen Freund hatte, aber sich nicht sicher ist, ob die beiden noch immer ein Paar sind. Selbst zum Homecoming-Ball im letzten Jahr soll sie ohne Begleitung gekommen sein.
"Bitte schicke uns die nächste", fertigt mit Josie mit einer abwertenden Handbewegung ab und widmet sich wieder ihren Notizen vor sich. Mit leicht geöffneten Mund starre ich sie an und schüttle dann entschieden den Kopf.
"Ich habe mich wirklich vorbereitet", sage ich leise und verschränke meine Finger ineinander. Hayden lupft unglaubwürdig eine Augenbraue. Mein Herz pocht schnell gegen mein Brustkorb und ich entlaste vorsichtig mein linkes Bein. Mein rechtes Knie knackt dabei und ich merke erneut, wie angespannt ich eigentlich bin.
"Süße", hallt schließlich Haydens Stimme durch die Halle. Auf meinen Armen breitet sich eine Gänsehaut aus und ich merke, wie meine Finger eiskalt werden.
War es nicht gerade noch stickig hier in der Turnhalle? Warum ist es jetzt plötzlich eiskalt?
"Heb' dir die Energie lieber für später für den Heimweg auf. Du wirst es nicht schaffen und das weißt du. Also warum unnötig Kraft verschwenden?"
Ich schlucke und schüttle wieder verzweifelt den Kopf.
"Ich habe wirklich hart gearbeitet", versuche ich zu erklären. "Und ich möchte es zumindest versuchen." Amber schnaubt laut und ihre Schwester verdreht die Augen. Hayden verschränkt ihre dürren Arme vor der Brust und seufzt dann. Sie blickt zu Josie, die sofort zu verstehen scheint.
"Bei uns geht es nicht nur um Talent", setzt Josie zum nächsten Hieb an. Ich halte die Luft an, denn ich weiß ganz genau, was jetzt kommt. Josie lächelt falsch und verengt ihre Augen zu dünnen Schlitzen. "Sondern auch um Aussehen. Und ganz ehrlich, im Punkto Aussehen kannst du mit diesem Ding da...", sie deutet mit dem Kugelschreiber auf den Abdruck meiner Prothese, die sich ganz eindeutig durch die enge Leggins zeigt, "...nicht punkten."
Hayden nickt und lächelt Josie zufrieden an.
"Außerdem können wir keine Einschränkungen beim Training brauchen", setzt Amber der Aussage von Josie noch einen hinterher. Ich starre die drei Mädchen stumm an und merke, wie mir Tränen in die Augen steigen.
Colleen ist nicht da. Sie würde dir helfen. Sie ist nicht da. Sie ist nicht da.
In meinem Hals bildet sich ein Kloß und ich weiß, wenn ich jetzt etwas sagen würde, dann würde ich auf der Stelle losweinen.
Nicht vor diesen Monstern.
"Süße, ich habe dir doch geschrieben, dass du gar nicht erst kommen brauchst", ergreift nun Hayden erneut das Wort. Ihr Lächeln ist noch künstlicher als zuvor. "Du kannst jetzt gehen."
Ich schüttle den Kopf und wische mir meine Hände erneut an der Leggins ab.
"Nein", wehre ich mich. "Ich habe so lange dafür geübt, um euch heute zeigen zu können, was ich kann. Gebt mir doch bitte zumindest eine Chance."
Hayden verdreht ihre Augen, als ich sie bittend anblicke und schreibt wieder etwas in ihr Notizbuch, ohne mich weiter zu beachten. Mein Herz trommelt wild gegen meinen Brustkorb, während mir immer mehr klar wird, dass all die Mühe der letzten Monate wohl mehr oder weniger umsonst war.
"Was verstehst du nicht daran, wenn wir sagen, du kannst jetzt gehen?", zischt Amber. Josie dreht sich um und winkt das nächste Mädchen zu sich, während ich wie erstarrt vor den Dreien stehe. Nur Amber gibt mir mit einem Wink zu verstehen, dass ich verschwinden soll.
Meine Fingernägel graben sich in meine Handflächen, während ich merke, wie vor meinem Sichtfeld alles verschwimmt.
Hastig mache ich Platz für das nächste Mädchen und renne, so schnell es mit einem künstlichen Bein geht, aus der Halle. Mit den Handballen wische ich mir die Tränen aus dem Gesicht. In der Umkleide mache ich mir nicht die Mühe, meine Straßenschuhe anzuziehen, sondern stopfe einfach alles in meine Tasche.
Ich ignoriere die fragenden Blicke der anderen. Stattdessen haste ich einfach nur eilig aus dem Raum, hinaus zum Parkplatz, wo Miles schon auf mich wartet.
Sein Lächeln erstarrt, als er mich sieht. Laut schluchzend bleibe ich vor ihm stehen und lasse meine Sporttasche auf den Boden sinken. Ohne lang zu überlegen schließt er mich in seine Arme und drückt mich fest an sich.
Und das wars.
Mein Tränendamm bricht nun endgültig und mein Körper wird von einem heftigen Beben eingenommen. Mein Bruder streicht mit seinen Händen über meinen Rücken. Ich schluchze laut. Mir ist bewusst, dass wir nicht die Einzigen auf dem Parkplatz sind, doch das ist mir in diesem Moment komplett egal.
"Sie haben mir nicht einmal die Chance gegeben", schluchze ich und presse meine Augen fest zusammen, als wieder das garstige Lächeln der Drei vor meinem inneren Auge auftaucht. "Sie wollten mich nicht einmal vortanzen lassen. Sie haben mich einfach wieder weggeschickt!" Ich schniefe laut und merke, wie mir Hitze in meinen Kopf steigt. Meine Finger sind eiskalt und mein Knie zittert unkontrolliert.
Miles seufzt.
"Das sind alles Idioten, Judy. Keiner von denen weiß, wie es ist, ein Bein zu verlieren. Ich weiß es doch selbst nicht. Keiner von diesen Möchtegern-Stars versteht, wie es dir geht."
Ich schüttle heftig den Kopf und winde mich aus den Armen meines Bruders. Auf seinem dunkelroten T-Shirt zeichnen sich die Spuren meiner Tränen ab.
"Ich möchte nicht anders sein, Miles. Ich will dazugehören. Und nur weil ich dieses Plastikding habe, kann ich nicht wie ein ganz normales Mädchen sein!" Meine Stimme wird immer lauter und schriller, während erneut unkontrolliert Tränen über meine Wangen fließen. Miles legt mir seine beiden Hände auf die Schultern und sieht mir tief in die Augen.
"Du hast etwas, was keiner von diesen Mädchen hat, Judy, und das ist ein gutes Herz. Du hast in dem letzten Jahr so hart gekämpft und so sehr an dir gearbeitet. Lass dir das von diesen Hohlbirnen nicht schlecht reden. Du bist perfekt, so wie du bist. Ob mit, oder ohne Bein."
Wieder schüttle ich den Kopf und weiche seinem Blick aus.
"Du verstehst das nicht", flüstere ich. "Es war nicht nur, weil ich es wollte. Ich wollte es für Colleen machen. Und nicht einmal das schaffe ich."
Mein Bruder seufzt leise. Er starrt auf den Boden. Seine sonst so ruhigen, dunkelbraunen Augen glitzern nun ebenfalls verdächtig, als er die nächsten Worte ausspricht.
"Colleen ist tot, Judy. Sie lebt nicht mehr und wenn sie gesehen hat, was du alles geleistet hast, dann kann ich dir sagen, dass sie stolz auf dich ist. Du hast zurück ins Leben gefunden. Und du hast es heute versucht. Es geht nicht immer nur um unsere Schwester, oder darum, alles zu schaffen, was du dir vorgenommen hast. Du musst auch an dich denken."
Meine Hand zittert, als ich mir eine nasse Strähne aus dem Gesicht streiche. Miles wischt sich über seine Augenwinkel, während ich über seine Worte nachdenke. Mein Herz pocht schmerzhaft in meiner Brust. Ich atme stoßweise ein und aus und blicke dann hinauf in den Himmel. Dort, wo jetzt gerade hoffentlich meine Schwester zu mir nach unten blickt.
"Das war das Einzige, von dem ich wirklich wusste, dass sie es wollte. Wir wollten zusammen zu den Cheerleadern gehen und zusammen in der Zwölften für unsere harte Arbeit geehrt werden. Und jetzt bin ich die Einzige von uns beiden, die das noch hätte machen können. Und selbst dazu bin ich nicht fähig."
Mir laufen wieder Tränen über die Wangen, die ich schnell wegwische. Miles starrt mich verzweifelt an, ringt damit, die richtigen Worte zu finden. Die erste Träne löst sich aus seinem Augenwinkel und rollt seine Wange hinunter.
"Du hast so viel geleistet. Du bist stärker als jeder andere Mensch, den ich kenne. Lass dich doch durch so etwas nicht runter ziehen. Durch so ein idiotisches Training, das noch dazu unter Coyns Leitung stattfindet. Du bist tausend Mal stärker als diese blonde Kuh und du lässt dich durch sie runterziehen?" Ich schüttle den Kopf und verschränke die Arme vor der Brust.
"Du verstehst das nicht", flüstere ich. "In dieses Team kommt man nicht durch Stärke, sondern durch Talent und Aussehen. Und anscheinend habe ich nichts davon."
Ich bücke mich, hebe meine Sachen auf und trete den Heimweg an. Miles ruft mir hinterher, aber ich ignoriere ihn. Keine zwei Sekunden später, höre ich, wie er mir hinterherjoggt und mir die Tasche abnimmt. Seinen Blick richtet er konzentriert auf die Straße. Ich weiß, dass er in Gedanken gerade jedes einzelne Wort wiederholt, das wir gerade ausgetauscht haben. Und dass er sich überlegt, was er noch hätte sagen können.
Ich blicke hinauf in den Himmel und merke, wie sich mein Herz beim Anblick des strahlenden Blaus und der hellen Sonne zusammenschnürt. Dort oben, da ist meine Zwillingsschwester. Die meinen kläglichen Versuch gesehen hat. Zumindest hoffe ich, dass sie die Zeit bei mir war.
Es tut mir so leid, Colleen.
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