ACHTUNDDREISSIG - Vince
Aufgeregt stürze ich in das Zimmer meines besten Freundes. Mein Herz trommelt wie verrückt, während ich nicht aufhören kann zu grinsen.
Easton hockt nur in Boxershorts bekleidet in seinem Sitzsack und hat seinen Controller in der Hand. Erschrocken sieht er mich an.
„Vince! Was zum Teufel?", brüllt er und springt auf. Ich lache laut, als ich meinen halbnackten Kumpel im Zimmer herumhampeln sehe, wie er sich erst ein T-Shirt und dann eine Jogginghose anzieht. Er wirft mir einen grimmigen Blick zu und lässt sich zurück in seinen Sitzsack sinken, während ich mich auf sein Bett setze und mir die geöffnete Chipstüte vom Boden schnappe.
„Ich hoffe, du hast etwas Wichtiges, ich will das Battle nicht umsonst verloren haben", grummelt East und pausiert das Spiel. Ich schiebe mir eine Hand voll Chips in den Mund und kaue geräuschvoll darauf herum, während ich meinen besten Freund mustere. Dieser lupft eine Augenbraue und sieht mich fragend an.
Beim Gedanken an Judy kann ich nicht anders, als zu lächeln. Ich merke, wie sich eine Wärme in meinem Brustkorb ausbreitet, die ich noch nie gespürt habe. Mein ganzer Körper kribbelt, als ich an die letzten Stunden zurückdenke. Mit ihr.
„Ich habe Judy geküsst", platze ich verträumt heraus. Mein Lächeln muss total bescheuert aussehen, aber das ist mir ziemlich gleichgültig.
East senkt seinen Kopf und sieht mich eindringlich an. Nicht gerade die Reaktion, die ich erwartet hätte.
„Wir sind zusammen", fahre ich fort und räuspere mich. Es fühlt sich komisch an, das zu sagen. Und gleichzeitig ist es... schön? Ich hebe meine Augenbrauen und warte auf die Reaktion meines besten Freundes. Dieser seufzt, schüttelt langsam den Kopf und legt seinen Controller zur Seite.
Dann sieht er mich ernst an.
„Denkst du wirklich, dass das das Richtige ist?", fragt er leise. Ich presse meine Lippen aufeinander. Denke an das Gespräch zurück, das er mit mir führte, als Judy und ich uns das erste Mal geküsst haben. Ich habe keine Lust, dass er mir den Tag heute doch noch vermiest, indem er mir ein schlechtes Gewissen einredet.
Deshalb nicke ich schnell.
East seufzt abermals und fährt sich durch seine Haare. Dann steht er auf und setzt sich neben mich auf sein Bett. Stumm sieht er mich an und legt sich sichtlich die richtigen Worte zurecht. Während ich neben ihm auf dem Bett sitze wie eine Salzsäule.
„Hayden ist mehr als offensichtlich noch nicht über die Trennung hinweg", sagt er schließlich. Ich zucke mit den Schultern.
„Sie ist selbst schuld", erwidere ich eine Spur zu patzig. Easton zuckt bei meinen Worten zusammen. Er nimmt mir die Packung mit den Chips aus meinen Händen und legt sie zur Seite. Sieht mir tief in die Augen und lupft eine Augenbraue.
Ich kenne diesen Gesichtsausdruck. Es ist der Ausdruck, den er immer aufsetzt, wenn er etwas haben, oder mich von seiner Meinung überzeugen will. Stumm schüttle ich den Kopf. Nicht heute. Hayden war diejenige, die mich betrogen hat. Die nicht zu uns stand, als ich ihr nicht zeigen konnte, wie sehr ich sie mochte.
„Die Trennung", fahre ich langsam fort, „ist mittlerweile schon über zwei Monate her. Ich kann nicht darauf warten, bis es ihr besser geht, um mein Leben weiterzuleben. Dafür habe ich schon zu viel verpasst."
East nickt und faltet seine Hände ineinander. Er starrt auf den Boden und denkt nach. Die anfängliche Euphorie, mit der ich zu meinem besten Freund kam, ist verflogen. Ich hätte es einerseits wissen müssen. Hätte es mir denken können. Schließlich war es beim letzten Mal auch so. Damals, als ich Judy das erste Mal geküsst habe.
„Hast du immer noch nicht verstanden, dass Hayden eine der wenigen war, die zu dir gestanden hat, als du im Koma warst und dich verteidigte, wenn sich jemand über dich lustig machte?"
Ich schüttle schnell den Kopf. Merke, wie sich Wut in meinem Bauch anstaut. East weiß, dass er mich so schnell überzeugen kann. Indem er ruhig bleibt und mir ins Gewissen redet.
„Wenn sie wirklich zu mir gestanden hätte, hätte sie nicht fremdgevögelt", zische ich und balle meine Hände zu Fäusten. „Außerdem hat sie Leute um sich herum fertig gemacht!"
Mein bester Freund atmet lange aus und nimmt dann meine Hand. Öffnet die Faust und neigt seinen Kopf zur Seite. Ich wünschte, es wäre Judy, die meine Hand hält. Ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen. Zwei Stunden würden schon reichen. Dann wäre ich nochmal bei ihr, könnte sie nochmal festhalten, sie küssen, sie...
Ich atme frustriert aus und vergrabe mein Gesicht in meinen Händen. East legt eine Hand auf meine Schulter, die ich sogleich wieder abschüttle. Er fällt mir gerade irgendwie in den Rücken, oder? Ich weiß, was ich mache, ich weiß, dass ich Judy will! Er muss als mein bester Freund zu mir halten, verdammt!
„Wir hatten diese Diskussion schon einmal", stellt East leise fest. Ich nicke langsam.
„Ich mag Judy wirklich." Ich weiß nicht, ob ich das wirklich zu East oder viel mehr zu mir sage. Es ist viel mehr eine Feststellung. Ich nicke und bestätige so meine Aussage. „Sie ist mir wichtig." Mein Blick wandert zur Seite zu meinem besten Freund. Er hat seinen Lippen aufeinandergepresst und sieht mich an. Traurig? Hoffnungslos? Ich kann es ehrlich gesagt nicht genau deuten.
„Judy versteht mich", versuche ich weiter, meinen besten Freund zu überzeugen. „Sie ist auch irgendwie anders. Genauso wie ich."
„Du kennst sie doch kaum", widerspricht mir East. Ich schüttle schnell den Kopf.
„Du doch auch nicht."
„Ich habe auch keinen Grund dazu, oder?" Er sieht mich fragend von der Seite an. Ich verdrehe meine Augen. Er schafft es wirklich und vermiest mir den Tag doch noch irgendwie.
„Du hast keine Ahnung", brumme ich. Mein bester Freund seufzt und lässt nach hinten auf das Bett sinken. Dann vergräbt er sein Gesicht in seinen Händen. Ich schnaube, möchte aufstehen und nach Hause fahren. Ich bin ehrlich gesagt wütend auf ihn. Eigentlich kam ich zu ihm, damit er sich mit mir freuen kann. Was sich jetzt, da ich darüber nachdenke, auch vollkommen bekloppt anhört.
Eastons Hand schellt nach vorne zu meinem Handgelenk und zieht mich zurück auf die Matratze.
„Lass mich los", fauche ich und fuchtle wild mit meinem Arm herum.
„Verdammt, Vince!" East stützt sich auf seine Unterarme und funkelt mich aufgebracht an. Ich zucke zusammen. Mein bester Freund starrt hinauf zur Zimmerdecke. Er presst seine Kiefer aufeinander. Öffnet den Mund, um etwas zu sagen.
„Du musst vorsichtig sein", flüstert er. Ich sehe ihn verwirrt an. East verdreht die Augen und knurrt dann leise.
„Du sieht alles durch die pinke Brille und hast keine Ahnung, was sich dahinter befindet. Du musst auf dich aufpassen."
Ich lache leise. East macht sich lächerlich. Ich weiß nicht, was sein Problem ist, aber er hat definitiv eines. Und wenn er ein Problem mit Judy an sich hat, dann kann ich ihm leider auch nicht helfen. Ich kenne sie besser als er. Ich weiß, wer sie ist. Und er nicht.
„Schwachkopf", murmle ich. Ich kann East nicht ernst nehmen. Nicht, wenn er sich so naiv aufführt.
„Vince!" Er zischt meinen Namen und lässt mich zusammenzucken. Mit großen Augen sieht er mich an. Greift wieder nach meinem Handgelenk und hält mich fest.
„Glaub mir verdammt nochmal wenn ich dir sage, dass du nicht weißt, wer sie ist. Du weißt nicht..."
„Easton. Judy ist nicht Hayden, okay? Judy wird mich nicht so fallen lassen wie sie", unterbreche ich ihn und sehe ihn warnend an. Mein bester Freund verengt seine Augen zu Schlitzen. „Wenn du mir nicht gönnst, dass ich endlich wieder glücklich bin, dann sag es mir gleich."
„Zum Teufel Vince, wenn ich dir eines gönne, dann das!" East springt auf und läuft aufgebracht in seinem Zimmer auf und ab. Stumm verfolge ich ihn, wie er von der einen Seite zur anderen läuft. Seine Hände zu Fäusten geballt.
„Ich will dir nur sagen, dass nicht alles Gold ist, was glänzt! Manchmal kann dich dieses Gold auch zerstören!" Er bleibt stehen und sieht mich schwer atmend an. Ich lupfe eine Augenbraue und verstehe nicht so ganz, warum ihn diese Judy-Thema so sehr aufbrausen lässt. Ich weiß, dass er nicht will, dass nochmal so etwas passiert, wie mit Hayden. Und das ist okay. Ich möchte da selbst nicht noch einmal durch. Aber ich weiß, dass ich Judy vertrauen kann und sie nicht das Gleiche tun wird, wie meine Exfreundin.
Ich verschränke die Arme vor meiner Brust. Ich werde nicht nachgeben. Ich werde zu ihr stehen. So wie sie es verdient.
„Das Leben ist so verdammt kurz, East", sage ich ganz leise und ruhig. Heftig atmend sieht mich mein bester Freund an. „Ich habe mir im Krankenhaus geschworen, dass ich sobald ich raus bin das mache, was mich um Himmels Willen einfach nur noch glücklich mach. Nicht mehr und nicht weniger. Und Judy macht mich glücklich!"
Mit jedem meiner Worte, wird meine Stimme lauter. Ich werfe East einen wütenden Blick zu, bevor ich schließlich aufspringe.
„Hau ab", knurrt dieser und zeigt zur Tür. „Verpiss dich, aber komm ja nicht angekrochen, wenn du merkst, wer sie wirklich ist!"
Einen kurzen Moment verharre ich. East und ich haben uns noch nie so angemacht, wie jetzt gerade. Scheiße, ich kann mich nicht einmal daran zurückerinnern, wann wir das letzte Mal ansatzweise gestritten haben. Wir waren immer der gleichen Meinung, haben uns immer gegenseitig unterstützt.
Deshalb tut es mir fast etwas weh, als ich ihn in seinem Zimmer stehen lassen. Heftig atmend, aufgewühlt.
Die wütende Hälfte, die ihn aber am liebsten gerade in der Luft zerfetzen würde, überwiegt aber trotzdem. Mit einem lauten Rumps fällt die Tür hinter mir ins Schloss und ich atme tief durch.
____
Ich sitze auf einer Bank im Stadtpark. Obwohl es mittlerweile stockfinster und arschkalt ist, wollte ich noch nicht nach Hause gehen. Das Gespräch mit East hat mich zu sehr aufgewühlt und Mama würde sofort merken, dass etwas nicht stimmt. Und dann müsste ich ihr alles erzählen. Und darauf habe ich nun wirklich keine Lust.
Es ist saukalt hier draußen. Trotzdem bleibe ich sitzen. Wenn es mich friert, sind meine Gedanken langsamer. Ich starre den Strauch gegenüber von mir an. Er sieht kahl und trostlos aus. Die Blätter hat er längst verloren. Er sieht beinahe tot aus und trotzdem erwacht in ihm im Frühjahr neues Leben.
Was labere ich hier eigentlich.
Automatisch denke ich wieder an East. Seitdem ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, kommt es mir so vor, als würden wir uns mehr und mehr voneinander entfernen. Früher waren wir unzertrennlich. Holden und Stones. Die Nummern Vier und Dreiundzwanzig in der Lacrosse-Mannschaft. Zusammen unschlagbar. Wir feierten zusammen, wir ärgerten uns zusammen über Niederlagen und trainierten dann zusammen umso härter.
Wenn einer von uns Mist baute, badeten wir es zusammen aus. Wir teilten alles. Gut vielleicht nicht unbedingt Hayden, sie war einzig und allein meine Freundin. Trotzdem wussten wir alles voneinander. East war für mich viel mehr wie ein Bruder. Ist es noch immer.
Frustriert knurre ich und stehe von meiner Bank auf. Meine Knie sind eiskalt und ich laufe kleine Kreise, um mich etwas warm zu machen.
East und ich sind das, was man in den kitschigen Zeitschriften als BFF bezeichnet. Wir waren unzertrennlich, hatten immer die gleiche Meinung und genossen das Leben in vollen Zügen. Verdammt, warum rede ich hier überhaupt in der Vergangenheitsform? Sind wir das denn nicht noch immer?
Tränen sammeln sich in meinen Augen, als ich an das letzte Lacrossespiel am Abend vor jener Nacht zurückdenke. Ich blinzle sie schnell weg. Ich will nicht mehr weinen, ich habe es so satt, dass ich bei jeder kleinsten Erinnerung anfange zu flennen.
Scheinwerfer blitzen vor meinen Augen auf. Die Jubelschreie der vielen Fans, die gekommen waren, um uns anzufeuern. Ich stand neben East, bevor wir auf das Feld liefen um uns aufzuwärmen und uns feiern zu lassen. Wir standen stumm nebeneinander, sahen uns aber kurz bevor es losging in die Augen. Unsere Art, um uns gegenseitig Glück zu wünschen, unsere Art, um uns gegenseitig aufzuheizen und unsere Art, um uns gegenseitig zu versprechen, den Gegner den verdammten Arsch aufzureißen.
Dunkelheit schiebt sich vor meine Gedanken und ich höre Reifen quietschen. Höre das Splittern von Glas, merke, wie wir uns überschlagen. Wie East laut flucht. Und nach meinem Namen ruft. Spüre, wie kalte Finger nach mir tasten, während ich einfach nur unglaublich müde wurde. Und die Dunkelheit mich übermannte. Dabei wollten wir doch nur unsere Lieblingsmannschaft anfeuern. Wir waren fast da. Hatten von den insgesamt fünf Stunden Fahrzeit nur noch eine Halbe vor uns. Konnten schon erahnen, wo das Stadion stehen würde. Verdammte Scheiße.
Ich kauere auf dem Boden. Habe die Arme fest um meine Knie geschlungen und wippe nach vorne und zurück. Stumm lasse ich zu, wie Tränen über meine Wangen laufen. Innerlich ärgere ich mich darüber, dass ich es wieder zugelassen habe, dass ich weine.
Der Boden ist kalt und hart. Meine Beine zittern und ich spüre, wie die Anstrengung des Tages an meinen Kräften zehrt. War ich wirklich vor zwei Stunden noch bei Judy und habe sie geküsst? Es kommt mir vor, als wäre es schon tagelang her. Dabei habe ich sie noch vor zwei Stunden in den Armen gehalten und fühlte mich wie der glücklichste Mensch auf Erden.
Bullshit.
Ich atme tief ein und aus und versuche mich zu beruhigen. Ich war oft so aufgebracht, wenn ich Physiotherapie im Krankenhaus hatte. Ich lag oft auf der dunkelgrünen Liege und konnte mich nicht entspannen, weil in meinem Gehirn Gedanken umherwirrten. Irgendwann wusste Sam, was los war mit mir und baute immer wieder kleine Atemübungen in die Stunde ein, bis es mir besser ging.
Stumm starre ich den kleinen Rauchwölkchen hinterher, die aufsteigen. Aus meinem Mund kommen. Mein Blut durch meinen Körper transportierten und sich dann wieder verpissen.
Ich bin unglaublich wütend. Auf mich, auf East, selbst auf Hay. Natürlich auf Hay. Schließlich hat sie mit drei Jungs geschlafen, während du jeden verdammten Atemzug um dein Leben gekämpft hast.
Ich balle meine Hand zu einer Faust und schlage auf den harten Boden unter mir. Ein vertrockneter Zweig sticht in meine Haut, aber das interessiert mich nicht. Heiße Tränen rollen über meine Wangen. Am liebsten würde ich jetzt zu East fahren und mit ihm reden. Mir seinen guten Rat anhören.
East weiß immer, was das Richtige ist und kann mir immer helfen. Egal wie schlecht es mir geht.
Aber ich kann nicht. Ich kann nicht einfach wieder angekrochen kommen und um Verzeihung betteln. Warum sollte ich auch? Schließlich habe ich doch gar nichts falsch gemacht, oder?
Ich stehe alleine da. Obwohl. Nicht ganz.
Ich habe Judy an meiner Seite.
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