Mein Leben mit Neandertalern
Eins möchte ich gleich mal klarstellen: Menschen sind dumm, ob alt oder jung. Das schließt niemanden aus. Nicht meine Familie, nicht meine beste Freundin, nicht meine Lehrer und nicht meinen Möchtegern-Stalker. Nur mich. Offensichtlich. Wie erbärmlich müsste ich schon sein, um mich selbst als dumm zu bezeichnen?
Meine Mutter ist vermutlich die Dümmste von allen. Ich glaub nicht, dass ich ihr sonderlich wichtig bin. Wenn sie zu Hause ist, ist sie meistens nur am Handy. Möchte ich mit ihr reden, heißt es 'Nein', die Arbeit hat sie zu sehr ausgelaugt. Mit ihr in der Wohnung läuft der Fernseher auf Dauerschleife. Realityshows und Serien wie 'Amore unter Palmen' stehen bei uns täglich auf dem Programm. Keine Ahnung, wann wir zuletzt gemeinsam das Haus verlassen haben. Einkäufe ausgeschlossen.
Ich weiß, was ihr euch denkt: Gönn ihr doch die Ruhe. Sie ist erledigt. Und ja, anfangs habe ich das auch gedacht. Dann begann sie, sich mit diesem Kerl zu treffen. Mehrmals in der Woche, manchmal sogar mitten in der Nacht. Sie geht Samstagabends, verspricht mir Sonntagmittags, spätestens wieder zu Hause zu sein, um Zeit mit mir zu verbringen und taucht dann erst Montagnachmittag auf.
Ihre Liebe zu mir ist deutlich zu spüren. (Beachtet den Sarkasmus.) Ich bin nur von Bedeutung, wenn ich abliefere, und selbst dann mit glatten Einsern und einer Handvoll Stipendien in der Hosentasche ist meine Arbeit nur ein kleines Lob wert. Eine Hand kurz auf der Schulter, ein knappes 'Mach weiter so'. Leere Versprechen sind auch schon lange keine Seltenheit mehr.
Was ist mit meinem Vater, fragt ihr euch? Tja, der ist schon vor Jahren abgehauen und hat mit so einer rothaarigen Hure von einer Frau meinen Ersatz gezeugt. Er hat dem Kind sogar den Namen gegeben, den er für mich vorgesehen hatte. Ob er ihn trotzdem noch Sebastian nennen würde, wenn Mutter sich nicht mit Liam durchgesetzt hätte? Würde es dann zwei Sebastian Caddels geben? Vermutlich.
Ich lege mein Kopf in die Hände. Ich sollte in der Schule nicht an diese Dinge denken. Es lenkt mich nur ab. Wenn der Unterricht nur etwas spannender wäre.
Gelangweilt ramme ich einen Bleistift in meinen Radiergummi. Immer und immer wieder steche ich auf ihn ein. Ich mag Schule, ungelogen, doch Mrs. G hat die Gabe, jeden mit ihrem Gesäusel einzuschläfern. Zumindest ist es nur Biologie. Ich plane nicht, darin zu maturieren, und der Stoff ist leicht genug, dass für Tests und Wiederholung eine Kaffeepause zum Lernen ausreicht.
Ich senke meinen Blick, als mein Handy in der Hosentasche vibriert. Ich kann mir schon denken, wer es ist - auch wenn ich ihm nie meine Nummer gegeben habe - und ignoriere es. Eins ist klar, meine Mutter würden mir um diese Uhrzeit nie schreiben, Vater ohnehin nicht, da könnte auch eine Atombombe einschlagen. Bildung ist wichtiger als solche Lappalien.
Erneut sendet mein Handy Vibrationen durch mein Bein. Und gleich noch einmal. Nicht gerade berauschend bei einem Muskelkater. Der morgentliche Sportunterricht eines jeden Donnerstags hat schon jetzt seine Spuren hinterlassen. Kniebeugen sind es diesmal gewesen. Nur für mich. Eine ganze Stunde. Rauf, runter, rauf, runter - halten. Rauf, runter, rauf, runter - halten.
Dabei habe ich überhaupt nichts getan. Es ist nicht meine Schuld, dass Mr. Jackson eine Antwort verlangt hat. Und jetzt einmal ehrlich, was sonst hätte ich auf die Frage, 'Bist du körperlich beschränkt oder einfach zu blöd für eine simple auf und ab Bewegung?' erwidern sollen außer 'Ich nicht, aber es würde zumindest erklären, warum ihre Frau es mit dem Geschichtslehrer treibt'? Er hat mich praktisch dazu gezwungen. Genauso wie er mich zu den Kniebeugen gezwungen hat.
'SoNSt gEhT eS zUM dIreKToR.' - Arsch. Wegen ihm wird Hocken für den Rest der Woche nicht mehr möglich sein. Ich hab mir schon hoch dosiertes Magnesium in der Apotheke bestellt. Hoffentlich bringt das was.
Zum fünften Mal schon vibriert mein Handy. Kapiert er nicht, das ich im Unterricht sitze? Meinen Stundenplan hat er ja teilweise - wir haben einige Überlappungen. Er müsste eigentlich auch hier sein, dieser Schulschwänzer. Irgendwann krieg ich das auch noch in seinen Schädel rein - Schule ist wichtig. Das Rauchen habe ich ihm ja schon abgewöhnt. Und damit meine ich, ich habe ihn ignoriert, bis er klein beigegeben hat. Na ja, mehr ignoriert, als ich es ohnehin schon mache. Für einen selbst proklamierten Badboy ist er extrem leicht zu beeinflussen. Vielleicht liegt das aber auch nur an seiner schrägen Obsession mit mir.
Als eine weitere Nachricht eintrifft, fische ich rasch mein Handy heraus, mute es und stecke es mir dann wieder in die Hosentasche. So, das war's. Jetzt herrscht Ruhe. Dämlicher Möchtegern-Stalker.
Fünfzehn Minuten später klopft es an dem vordersten Fenster des Klassenzimmers. Mein zweiter Schatten beugt seinen Kopf herein, als die Professorin verwirrt das Fenster öffnet.
Lasst mich euch bekannt machen: Der Irre, der seinen Kopf gerade durch das Fenster steckt, heißt Jake Bandello. Er ist so ziemlich das, was man sich unter einem Neandertaler vorstellt. Zwar weniger dumm als meine Eltern, aber er stand definitiv hinten in der Schlange, als Gott den Intellekt verteilte.
Die Schule reist sich immer das Maul über ihn auf. Angeblich hat er es mit vierzehn mit seiner Kunstlehrerin getrieben. Einen Jungen soll er auch einmal krankenhausreif geschlagen und ein Mädchen begrapscht haben. Oh! Und nicht zu vergessen, die Gerüchteküche meint auch, dass er Teil einer kriminellen Organisation ist. Warum er dann noch nicht im Knast gelandet ist? Daddy-Dearest natürlich. Seine Familie ist nämlich stinkreich.
Alles reiner Blödsinn, so viel kann ich vorwegnehmen. Seine Familie ist nicht einmal reich, eher obere Mittelschicht, und das brutalste, was ich je von ihm mitgekriegt habe, war, wie er jemand anderem (verdient) eine reingehaut hat. Ja, es war ein Kerl, aber dieser ist nicht im Krankenhaus, sondern bei der Schulärztin gelandet. Ein Coolpack später und er war wieder Fit wie ein Turnschuh.
Jake ist mehr eine Nervensäge als eine wirkliche Gefahr. Mrs. G empfindet da ähnlich.
"Jake", sagt sie, "das ist höchst unkonventionell. Was machst du eigentlich da draußen? Du solltest gerade bei mir im Unterricht sitzen."
"Eh, unwichtig." Dann filtert er mich aus der Menge heraus. Kein schweres Unterfangen, da ich in der ersten Reihe sitze. "Hey, Erdbeershake! Ignorieren geht nicht."
"Jake", ermahnt ihn Mrs. G erneut, "entweder du setzt dich auf deinen Platz oder du gehst und machst, was auch immer es ist, dass du so machst. Gene sind schon schwer genug zu lernen, ohne das du den Unterricht störst." Sie macht sich daran, das Fenster zu schließen, doch Jake hält es locker mit einer Hand offen. Mrs. G hat weder die Kraft noch das Durchsetzungsvermögen, um sich gegen ihn zu behaupten.
"Ja, ja - gleich", sagt er zu ihr. Dann dreht er sich wieder zu mir. Keine Ahnung, warum er mir dauernd hinterherdackelt. "Liam, warum gehst du nicht ran?", winselt er beinahe.
Zwei Jahre 'kenne' ich ihn jetzt schon und ich verstehe noch immer nicht, warum alle so eine Heidenangst vor ihm haben. Er ist ein Welpe von einem Badboy. Zumindest für mich. Vielleicht ist mein Intellekt seinen Muskeln aber auch nur komplett überlegen. Brain trumps brawn and all that, wie meine Englischprofessorin so schön sagen würde. Die Frau ist streng, aber meine Güte, wie sehr ich ihren Unterricht liebe. Bei ihr darf ich debattieren, bis ich umfalle.
"Weil mir", beginne ich mit hochgezogener Augenbraue, "anders als dir meine Ausbildung wichtig ist?" Ich mache eine verscheuchende Geste mit der Hand. "Und jetzt kusch. Wir reden später."
"Später?", wiederholt er zweifelnd und, na gut, irgendwie gerechtfertigt. Ich habe ich ihn schon oft genug sitzen lassen. Eigentlich immer. Und bevor irgendjemand sagt, dass Freunde das nicht machen, wir sind keine Freunde. Freunde übergießen einander nicht mit Erdbeermilch, noch verstecken sie deine Lernmaterialien. Freunde wissen mehr voneinander als nur die Eckdaten. Jake und ich, wir reden kaum. Nie eigentlich. Wir kennen uns nicht. Überhaupt nicht. Er beobachtet mich nur immer.
Dennoch sage ich: "Tank dein Motorrad auf und ich werde da sein."
Die Wahrheit ist, ich will hier einfach nur weg. Dem Tag entkommen. Eine Stunde noch - wir bekommen die Deutschschularbeit zurück - und ich hätte durch ihn endlich die Chance dazu. Ich würde Jake und sein umwerfendes Motorrad nehmen und mich in irgendein Loch stürzen.
Meinen Führerschein habe ich zwar technisch gesehen noch nicht, doch es wäre nicht das erste Mal, dass ich vorm Steuer sitze. In diesem kleinen Vorort juckt es doch sowieso niemanden. Ein Führerschein wird da rasch zur Nebensache. Insbesondere für mich. Mein IQ liegt weit über dem Durchschnitt, genauso wie Jakes Penis, zumindest behauptet er das immer wieder gerne.
Wie erwartet, willigt er ein. Ohne einen letzten Kommentar nimmt er seine Hand jedoch nicht vom Fenster. "Ein Abschiedskuss?" Als Antwort packe ich meinen grau gelöcherten Radiergummi und werfe ihn Jake ins Gesicht. Zumindest versuche ich es. Jake fängt das Teil jedoch mit Leichtigkeit auf. Was kann ich sagen, Ballsport ist mir noch nie sonderlich gut gelegen.
Jake steckt sich den Radiergummi mit einem Zwinkern in die Hosentasche. "Ich nehm dich beim Wort, Erdbeershake!", ruft er dann noch, ehe er seine Hand vom Fenster nimmt und verschwindet, bevor Mrs. G es geschlossen bekommt.
Stille kehrt ein. Die Blicke meiner Klassenkameraden brennen förmlich in meinem Nacken. Neandertaler, allesamt, sage ich ja. Nur Vollidioten scheren sich um Gossip.
Ich bin fast gewillt, mich zu rechtfertigen. Ein kurzes 'Wir sind kein Paar', um jeden Zweifel aus der Welt zu schaffen. Auch wenn ich weiß, dass Jake vermutlich andere Vorstellungen hegt. Zumindest, wenn es den fleischlichen Akt des Ganzen betrifft.
Reine Hirngespinste in meinen Augen. Fantasien, mehr nicht. Ich habe höhere Standards als Mr. Lederjacke. Zudem würde es unmöglich ein gutes Enden nehmen. Ja, auch wenn es nur Sex wäre. Fanfiction ist der beste Beweis dafür. Bevor meine Lippen die Seinen berühren, würde nicht nur die Höhle zufrieren, sondern auch seine Moto Guzzi Griso zusammenbrechen. Für all die ungebildeten unter euch, das ist ein Motorrad. Er hat es von seinem Großvater geschenkt bekommen und wieder in Glanzzustand gebracht.
Bevor Geflüster aufkeimen kann, räuspert sich Mrs. G und führt ihre Erläuterung der Gene fort. Die Stunde ist jedoch so ziemlich gegessen. Keiner passt mehr so richtig auf. Als die Klingel zur Pause läutet, flüchte ich den Raum so schnell wie möglich. Die unnötigen Fragen kann ich mir wirklich ersparen.
Deutsch ist eine Katastrophe. Mein Ergebnis fällt nicht so gut wie erwartet, dabei sind Gedichtsanalysen ja grundsätzlich nicht schwer. Es ist wie in Mathe, man bekommt eine Formel und die muss dann anwenden. Das Metrum ist nur etwas (sehr) blöd. Um einen Punkt kostet es mir die Bestnote. Einen Punkt! Dämlicher Jambus und noch dämlicherer Trochäus.
Diesmal ist es nicht meine Schularbeit, die die Professorin vorlesen lässt. Es ist die von irgend so einer Schnepfe.
Am liebsten würde ich mich auf mein Bett werfen und in mein Kissen schreien. Ich weiß nicht einmal, wieso. Eine Standpauke wird es ja nicht geben. Woher soll Mutter von dem einen Punkt erfahren, wenn nicht aus meinem Mund?
Ich verstehe nur nicht, wie mir das passieren konnte! Ich habe das Thema eine ganze Woche lang durchgekaut. Eine ganze qualvolle Woche! Verdammt, das Dinggedicht, das gekommen war, habe ich sogar schon einmal analysiert. 'Der Panther' - simpler geht es doch kaum. Ich könnte mir die Hand abkauen, so scheiße ist der Druck in meiner Brust. Am liebsten würde ich auf etwas eintreten. Doch suprise suprise! Gerade wenn man es braucht, haben die Schüler ihre Redbulldosen tatsächlich in die Tonne und nicht daneben gehaut.
Das meine Augen brennen, ist jedoch nur dem grellen Schullicht zu zuschreiben. Keine Chance, dass ich wegen eines Punkts Tränen vergießen würde. Wäre ja lächerlich.
"Ich versteh wirklich nicht, warum du dich so aufregst. Es ist ein Punkt. Einer." Mein Blick wandert zu meiner Begleiterin hinüber. Phoebe. Meine beste Freundin seit - drei? vier? vielleicht sogar fünf Jahren. Man sieht es ihr vielleicht nicht an, aber sie hat eine richtige Flummipersöhnlichkeit. Stillsitzen steht nicht in ihrem Wörterbuch.
Leider sehen wir uns nur noch selten. Unsere einzige Überlappung ist Englisch. Ich würde gerne mehr Zeit mit ihr verbringen, doch die Wahrheit ist, ich weiß nicht wie. Das letzte Mal, als wir uns getroffen haben, habe ich zuvor zwei Stunden vor dem Spiegel verbracht und war schon dreiundvierzig Minuten vor unserer Verabredung aufgetaucht. Ziemlich erbärmlich - ist mir auch klar.
Meist lasse ich sie reden. Ich möchte nichts Falsches sagen oder - noch schlimmer - als Klette rüberkommen. So halte ich auch jetzt meine Antwort kurz.
"Tsk und wenn Brückenbauer sich um einen Zentimeter vertun, sterben Tausende", entgegne ich ihr, meine Hände tief in die Hosentaschen gestopft. "Selbes Prinzip."
"Selbes-?" Sie lacht laut und hell. Ihr braun stufiges Haar - selbst geschnitten, man glaubt es kaum - schwingt über ihrer Schultern, als sie den Kopf schüttelt. "Nur du Liam. Nur du."
Phoebe schlingt einen Arm um mich und zieht mich nah an sich heran. Ihre Haut ist warm trotz der kalten Hallen des Schulgebäudes. Mein persönlicher Heizkörper. Sie könnte selbst in einem Schneesturm kurzärmelig herumlaufen, ohne Gänsehaut zu bekommen.
Langsam schlendern wir in Richtung Erdgeschoss zu unseren Spinden. Es wirkt lässig, zumindest in meinen Augen. Aber eigentlich bewegen wir uns nur wie Schnecken, weil meine Füße kein schnelleres Tempo zulassen. Hinkriegen würde ich es zwar schon irgendwie, aber durch die Schule humpeln möchte ich jetzt auch nicht unbedingt.
Als wir nach gefühlt tausend Stufen endlich bei unseren Spinden ankommen, möchte ich nur noch in meine Jacke schlüpfen. Braun und flauschig, ganz anderes als die Lederjacke, in der Jake vorhin angetanzt ist.
Wenn man vom Teufel spricht. Ich habe noch nicht einmal eine Hand im Ärmel, da knallt mein Spind neben mir zu. Phoebe springt gut drei Meter mit einem lauten Aufschrei in die Höhe. Mir ging es auch einst so, jetzt bin ich es allerdings schon gewohnt. Jake ist nicht gerade für seine Geduld bekannt.
"Erdbeershake", grüßt er mich und dann beginnt auch schon das Chaos.
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