Kapitel 52
Ich musste mich am Treppengeländer abstützen, um die Nachricht einigermaßen zu verdauen. "Du gehst bitte WOHIN?!" Betreten schob Justin einen kleinen Erdklumpen auf dem Boden hin und her. "Ich muss nach Kanada."
Ich konnte kaum noch einen klaren Gedanken fassen. "Aber... was... was willst du denn da?" Ich beobachtete, wie sein Geischtsausdruck mit einem mal von Betreten auf Verletzt wechselte. Erschrocken trat ich einen Schritt auf ihn zu. "Hey... was ist denn los?", fragte ich betroffen. Er seufzte. Ich spürte, dass jetzt eine Geschichte kommen würde und fasste kurzerhand seine Hand, um ihn auf die Treppe zu ziehen. "Schieß los." Ich sah ihn herausfordernd an. "Also... okay. Wie du ja weißt, sind Heikos Eltern ja meine Adoptiveltern. In Kanada habe ich schon lange nicht mehr bei meinen Eltern gelebt... ich kam mit 9 Jahren in ein Kinderheim." Er hielt kurz inne, da seine Stimme fast versagte. Kurz räusperte er sich, dann sprach er weiter: "Meine Eltern haben viel gestritten. Und ich stand immer dazwischen. Beide wollten mich für sich haben..." Sein Blick ging in die Ferne. Ich wartete einen Moment, zumal ich spürte, wie sehr ihn die Geschichte heute noch mitnahm. Sein Gesicht zuckte schmerzverzerrt, als hätte ihm gerade jemand geschlagen. Ich wollte ihn in den Arm nehmen, ließ es dann aber bleiben. Nach einer Weile kam er wieder in die Wirklichkeit zurück. Einigermaßen gefasst sprach er weiter: "Mit 9 Jahren kam ich dann also in ein Heim. Von da aus gab es viele Pflegefamilien, bei denen ich aber nie lange blieb. Irgendwann hörten die Heimleiter etwas von einem um unendliche Ecken Verwandten aus Deutschland, so kam ich dann hier hin. Zu Heikos Familie." Erstaunt sah ich ihn an. "Also bist du wirklich mit Heiko verwandt?" Justin nickte leicht, dann schüttelte er den Kopf. "Irgendwie über tausend Ecken..." Ich bohrte nicht weiter. Doch meine ursprüngliche Frage war immer noch nicht beantwortet und ich fühlte, dass der Hammer erst noch kam. Bevor ich jedoch nachhaken konnte, ergriff er selbst wieder das Wort.
"Jetzt hatte meine Mutter einen Herzinfarkt. Und ich will sie noch mal sehen, bevor..." Er schluckte schwer. Ich kroch zu ihm heran und nahm seine Hand. Er sollte wissen, dass ich immer für ihn da sein wollte.
"Auf jeden Fall muss ich noch was überprüfen." Ich wartete auf eine Aufklärung, doch als keine mehr kam, wusste ich, dass es wieder eine von seinen Geheimaktionen war. Ein wenig pikiert stand ich auf. "Und jetzt willst du ganz alleine fliegen?" Er nickte wieder. "Ich möchte nicht, dass jemand mitkommt. Das ist meine Sache." Das war ein klarer Wink. Verletzt ging ich die Stufen der Treppe hinauf in mein Zimmer und schlug mit einem extra lauten Knall die Tür zu. Und schon rannen mir die Tränen übers Gesicht. Wie konnte er so etwas sagen? Das tat weh, unglaublich weh. Ich schmiss mich geradewegs auf mein Bett und drückte schluchzend meinen Teddybären an meine Brust. Er wollte gehen und ich wusste nicht einmal, wie lange.
Das Knarzen der Türklinke verriet mir, dass jemand mein Zimmer betrat. Kurz danach spürte ich zwei starke Hände, die mich an der Taillie griffen und einfach hoch hoben. Schon lag ich in Justins Armen und weinte mich aus. "Schhh..." Er strich mir sanft über den Rücken, während eine Träne nach der anderen von meiner Wange auf sein Oberteil tropfte.
"Ich komme wieder. Versprochen."
Zwei Wochen später:
Wir standen am Flughafen. Es hing ein Hauch von Trauer in der Luft, überall standen wartende Leute, die entweder überglücklich oder sehr traurig waren. Ich gehörte zu den Traurigen. Gleich würde Justins Flug aufgerufen werden. Dann würde er weg sein. Ganz weg. Für unbestimmte Zeit. Noch bevor mein Gedanke zu Ende gedacht war, erklang aus der Sprechanlage eine freundliche Frauenstimme, die uns in mehreren Sprachen den Flug nach Kanada aufrief. Ich schluckte schwer und fühlte daraufhin die Hand meines Vaters, der uns zum Flughafen gebracht hatte, auf meiner Schulter. Außer meinem Vater und mir waren auch noch Heiko und Justins Adoptivvater mitgekommen, um ihm Lebewohl zu sagen. Gerade wechselte Justin noch einige Worte mit seinem Vater, als sich unsere Blicke trafen. Seine Augen spiegelten pure Trauer wieder und das sonst so funkelnde Grün in seinen Augen war auf eine matte Tümpelfarbe geschrumpft. Dann kam er auf mich zu und nahm mich in den Arm. Er drückte mich an sich, so fest er konnte und am liebsten wäre ich so in seinen Armen geblieben, doch irgendwann löste er sich von mir, ergriff einen Koffer und kam dann noch einmal zu mir. "Hier. Der ist für dich. Mach ihn erst auf, wenn du wieder im Auto bist und zeige ihn niemandem." Ich nahm den Brief entgegen, den er mühevoll in einen wunderschönen Umschlag gesteckt hatte. Schon wieder kullerte mir eine Träne die Wange hinunter, wie so oft in den letzten Wochen. Justin beugte sich zu mir und küsste sie weg. Dann sah er mir noch einmal in die Augen und gab mir dann einen innigen Kuss auf die Lippen, der nach Abschied schmeckte. Endgültig löste er sich von mir und ging mit seinem Koffer in der Hand auf die Glasscheibe zu, hinter der es zum Flugzeug ging. Er sah sich noch einmal um und winkte uns, dann verschwand er aus meinem Sichtfeld.
Ich fühlte mich genauso kalt und leer wie die Autoscheibe, an die ich nun erschöpft meinen Kopf legte. "Luisa.", kam es liebevoll von meinem Vater, der auf dem Fahrersitz Platz genommen hatte. "Es ist doch kein Abschied für immer! Ihr seht euch doch wieder." Klar, da hatte er Recht. Doch wann das war, konnte mir niemand sagen.
Ich spürte etwas Leichtes, Raues in meinen Fingern und da fiel mir auf, dass ich Justins Brief noch in den Händen hielt. Mit einer Spur Neugier öffnete ich ihn:
Liebe Lusia,
Es tut mir unglaublich leid. Ich fühle mich, als hätte mir jemand mein Herz aus dem Leibe gerissen. Aber ich muss das hier einfach tun. Ich weiß, du hast noch viele Fragen über meine Vergangenheit und das, was in den letzten Monaten passiert ist. Hier habe ich ein paar Antworten.
Erinnerst du dich an die Nacht, in der ich betrunken Steine an dein Fenster geworfen habe? Ich war davor auf einer Party und habe leicht übertrieben...
Ja, ich weiß, dass war dumm von mir. Aber dann haben mich ein paar von Heikos Leuten gefunden und es kam zu einer Prügellei. Sie waren zu fünft, ich hatte keine Chance. Also bin ich zu dir geflohen. Und du warst da. Du warst meine Rettung. Danke.
Ach ja. Du möchtest sicher wissen, was es mit deiner Schule und mir auf sich hat. Ich war ein Jahr auf deiner Schule, noch bevor du hier her gezogen warst. Damals hatte ich bei einer Judomeisterschaft gewonnen. Den Pokal hast du ja bereits gesehen. Ich kam mit einigen Leuten nicht klar. Du musst wissen, damals war ich noch in der Szene gewesen und so wurde ich eines Tages mit ein paar Gramm erwischt. Es war nicht allzu schlimm, die Polizei kümmert sich um dieses Thema nicht wirklich. Ich musste kurz in den Jugendknast.
Hey, hör auf zu weinen, es ist alles gut!
Schnell wischte ich mir die Tränen aus den Augen.
Danach bin ich auf eine andere Schule gewechselt. Und anscheinend steht der Pokal nun immer noch bei euch.
Liebe Lusia, wenn ich wieder da bin, erzähle ich dir mehr. Ich wünschte, es wäre alles anders gelaufen. Aber ich hatte einen Schutzengel bei mir und ich glaube, dass es da doch einen Gott geben muss. Danke, dass wir an meinem Geburtstag zusammen gebetet haben. Das hat mir viel bedeutet. Luisa, ich verspreche dir, ich komme wieder. Dann wird alles gut.
Ich liebe dich.
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