CAFFEINE, SUGAR, ICE
Während ich die Dating-App installiere und seelenruhig das Profil vervollständige, sitzt Titan neben mir und schüttelt ununterbrochen den Kopf. Wettschulden sind Ehrenschulden, mein Lieber. Und obwohl ich mehrmals unterbrechen muss, um Getränke für unsere Gäste zu mixen, bin ich am Ende ganz zufrieden mit dem Ergebnis und beginne, durch die einzelnen Profile zu swipen. Skeptisch schaut Titan mir dabei über die Schulter.
„Also, welcher Typ Frau spricht dich an? Blond, brünett, vollbusig, wenig Make-up oder magst du sie eher ein bisschen nuttig?", blubbere ich vor mich hin und kann fast spüren, dass er hinter mir die Augen verdreht.
„Übertreib es nicht, Charlie."
„Was ist mit der?", frage ich und hebe das Handy in die Höhe, damit Titan das Bild besser sehen kann.
„Ein bisschen zu viel Metall im Gesicht, findest du nicht?"
„Okay, verstanden", murmle ich und wische ein paar Mal über den Bildschirm. „Die?"
„Wenn ich gegen das Gesetz zum Schutz Minderjähriger verstoßen wollen würde, bist du die erste, die es erfährt, Charlie", meint er amüsiert und verneint auch bei fünf weiteren Frauen, die ich ihm zeige und heimlich like, als eine eintreffende Chatanfrage unsere Aufmerksamkeit erregt. Umgehend öffne ich sie.
„Ich wollte schon immer mal Jason Momoa daten", lese ich vor und verfalle in einen Lachanfall, während Titan mir mit einem geknurrten „Das reicht jetzt für heute" das Handy aus der Hand nimmt.
„Leute, wir machen Feierabend", ruft Anouk in die Runde und klatscht dabei in die Hände, um die letzten anwesenden Gäste auf sich aufmerksam zu machen. Es ist erst kurz nach Mitternacht, aber Semih hat ja erwähnt, dass er keine ausschweifende Party will.
„Dann mach ich mich auch mal auf die Socken. Und du schaust ohne mich nicht weiter, ja?", sage ich zu Titan und erhebe mich mit wackeligen Beinen. Puh, die sechs Moscow Mule machen sich bemerkbar.
„Moment, du hast doch nicht vor, nachts alleine nach Hause zu laufen?" Semih, der plötzlich neben mir steht und mich am Arm festhält, macht nicht den Eindruck, als ob ihm dieser Gedanke besonders gefallen würde.
„Doch, das habe ich, Master Hamid. Da du meinen Arbeitsvertrag ja auswendig kennst, weißt du sicher auch, dass ich nur zwei Blocks entfernt wohne." Wenn er glaubt, ich würde seiner fürsorglichen Art jetzt irgendwelche Bedeutung beimessen oder gar darauf eingehen, dann hat er sich geschnitten.
„Ich fahre dich."
„Ich glaube nicht, dass du das tust", widerspreche ich und entziehe ihm ohne viel Gegenwehr meinen Arm.
„Diskutiere nicht mit mir, Charlie", knurrt er, was sofort eine Gänsehaut bei mir auslöst, genauso wie ein kribbelndes Gefühl in tieferen Regionen. Das wütende Glitzern in seinen Augen ist irgendwie sehr sexy.
„Das tue ich bereits, Semih", erwidere ich dennoch, um ihn noch ein bisschen mehr zu provozieren.
„Hey, ihr Turteltauben!", ruft Nika, die sich gerade ihre Lederjacke anzieht. „Bevor ihr euch noch an die Gurgel geht, nehmen Six und ich Charlie mit. Ihre Wohnung liegt auf dem Weg zum Campus."
Mit einem süffisanten Grinsen wende ich mich von Semih ab und hole meine Tasche sowie meinen Mantel aus dem Personalraum, bevor ich mich den beiden anschließe.
„Danke, dass ihr mich mitnehmt", sage ich und steige hinten in Sixtens Chevrolet ein.
„Ich konnte nicht zulassen, dass du Semih nachgeben musst. Es sah nämlich so aus, als würdest du dir lieber die Haare anzünden, als das zu tun." Nika lacht leise und schnallt sich an, bevor ihr Freund den Geländewagen mit einem lauten Schnurren startet.
Auf der kurzen Fahrt zu meiner Wohnung versuche ich mich darauf zu konzentrieren, meinen Mageninhalt bei mir zu behalten, und es gelingt mir erstaunlich gut. Stattdessen starre ich auf die Gangschaltung, die von Sixten betätigt wird, während er Nikas Hand hält. Die beiden sind ein beneidenswertes Paar und ergänzen sich nahezu perfekt in ihren Charaktereigenschaften. Die ab und an auftretende Impulsivität von Nika gleicht Sixten mühelos mit seinem kühlen und beherrschten Gemüt aus. Manch einer, der ihn nur flüchtig kennt, könnte seine Art sogar als Unfreundlichkeit werten, wie ich es zu Anfang getan habe. Aber letzten Endes ist Six wie Titan und alle anderen Männer, die mit einem einzigen Blick einschüchtern können, einfach von der Sorte „harte Schale, weicher Kern".
Die beiden wünschen mir eine gute Nacht, als sie mich vor dem Mietshaus absetzen. Ich steige die Stufen in den dritten Stock und schaffe es erst beim zweiten Mal, mit dem Schlüssel das Schloss zu treffen. Im dunklen Flur ziehe ich mir die Stiefeletten von den Füßen und spüre sofort das flauschige Fell meines Maine Coon Katers Itchy an den Beinen.
„Na, mein Großer. Wo hast du deinen Bruder gelassen?"
Scratchy liegt mit ausgestreckten Pfoten auf dem Sofa und schnarcht leise vor sich hin. Seufzend lasse ich mich auf den freien Platz neben ihn sinken und ziehe mein Handy aus der Hosentasche.
[AN SEMIH] – 12.27 am – Ich bin zu Hause. Heil. Unverletzt. Müde. Ohne einen einzigen Kratzer.
[SEMIH] – 12.30 am – Wäre es anders gewesen, hätte Six jetzt ein ernsthaftes Problem.
Nichts interpretieren, Charlie. Semih denkt nur an mein Wohlergehen, weil ich seine Angestellte bin. Das ist der einzige Grund.
[AN SEMIH] – 12.31 am – Gute Nacht, Master Hamid.
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Am nächsten Morgen verschont mich glücklicherweise ein Kater, der bei der Menge an Alkohol, die ich zu mir genommen habe, üblich wäre. Stattdessen stellt sich lediglich ein leichter Kopfschmerz ein, der sich allerdings schnell mit einer Tablette beheben lässt. Nachdem meine beiden Stubentiger gefüttert und gestreichelt auf dem Sofa liegen und dösen, gönne ich mir einen French Toast und eine große Tasse Kaffee, bevor ich mich auf den Weg zur Arbeit mache. Beim Stöbern durch Social Media entdecke ich einen Post von meiner Lieblingsinfluencerin und lache leise, während ich die Tür zu Alpha Kings aufschließe.
„Was ist so komisch?" Anouk sitzt in meinem Sessel hinter dem Empfang und blättert im Terminkalender.
„Aurora Winter bei Instagram", antworte ich, als ich meinen Mantel auf den Garderobenständer neben der Couch hänge, und Anouk wendet desinteressiert den Blick ab. „Ich meine, es ist ja völlig in Ordnung, wenn man sich Hyaluronsäure spritzen lässt, weil man mit seinem Alter nicht klarkommt, aber dann hat der Hashtag 'natürlich schön' nichts in der Textbox zu suchen, verstehst du?"
Nickend trägt sie etwas in die Spalte für Freitag ein und klappt schließlich das Buch zu.
„Na ja, bist du fertig? Ich muss noch eine Kosten-Erlös-Rechnung machen, sonst dreht Master Hamid noch durch, weil der Monatsabschluss nicht rechtzeitig fertig wird."
„Ja. Mein erster Termin ist heute erst um dreizehn Uhr, ich bin bis dahin oben in der Wohnung, wenn du mich brauchen solltest", sagt sie und verabschiedet sich in Richtung Treppenhaus. Na, das nenne ich mal einen Abgang.
Schulterzuckend setze ich mich an meinen Platz, klappe den Laptop auf und beginne mit der Buchhaltung.
Das Telefon ist im Laufe des Vormittags gnädig und spart sich übermäßige Ablenkungen, sodass ich meine Arbeit in einer Rekordzeit erledigen kann. Als Anouk zu ihrer Session runterkommt und ich ein paar Terminabsprachen gemacht habe, beschließe ich, mir einen Energy Drink aus dem Getränkelager zu holen. Meinem Perfektionisten-Blick entgeht allerdings nicht, dass die Dosen durcheinandergebracht wurden, sodass ich geschlagene zehn Minuten vor dem Kühlschrank stehe und sortiere. Als ich schließlich zufrieden mit meinem Energy Drink das Getränkelager verlassen will, höre ich ein Rumpeln aus der Lounge und kurz darauf die Stimmen von Semih und Titan.
„Es gab über zehn Bewerberinnen, also tu bitte nicht so, als hättest du damals keine andere Wahl gehabt, als sie einzustellen", sagt Semih und ich verstecke mich hinter der Tür, weil mich das Gefühl beschleicht, dass es bei dem Gespräch um mich geht.
„Wer wäre dir denn lieber? Doris, die sechzigjährige Polin, die uns zum Vorstellungsgespräch selbstgemachte Pirogi mitgebracht hat?", fragt Titan und kurz darauf hört man sein tiefes Lachen. Ich erinnere mich an diese Geschichte, weil Anouk sie mir erzählt hat, als wir zusammen ein bisschen zu tief ins Glas geschaut haben.
„Die war doch nett", erwidert Semih.
„Bruderherz, ich weiß nicht, was du von mir willst. Charlie kam mit den besten Empfehlungen von einem Investmentunternehmen, sie kennt sich extrem gut im Steuerrecht aus und unsere Kunden lieben sie. Du wolltest die Beste und sie ist die Beste." Ein warmes Gefühl von Dankbarkeit erfüllt mich, aber gleichzeitig beschleicht mich der Verdacht, dass Semih es bereut, mich eingestellt zu haben.
„Ich weiß. Das musst du mir nicht sagen", brummt er und ich bilde mir ein, eine gewisse Unzufriedenheit in seiner Stimme zu hören.
„Abgesehen davon ist sie nicht nur charakterlich genau dein Typ, sondern auch optisch."
„Auch das musst du mir nicht sagen, Titan."
Habe ich was verpasst? Dass ich Semihs Typ bin, habe ich bis jetzt nicht wirklich zu spüren bekommen und jeden, der mir das erzählt hätte, hätte ich ausgelacht.
„Wo ist dann dein Problem? Deine bescheuerte, selbstauferlegte Regel nichts mit deinen Angestellten anzufangen?"
„Diese Regel ist einer der Gründe, warum das Alpha Kings funktioniert", erwidert Semih und ich rolle so heftig mit den Augen, dass es vermutlich komplett bescheuert aussehen muss. Ist das dein Ernst Master Hamid? „Bei den Avancen, die Charlie mir macht, wäre es ein Leichtes, mit ihr ins Bett zu steigen," - oh ja, ich würde sicherlich nicht Nein sagen – „und dann? Es entstehen Spannungen, peinliche Stille, erzwungene Gespräche, jemand entwickelt Gefühle und der andere nicht und früher oder später muss ich der Arsch sein, der ihr kündigt, weil es das Geschäft schädigt."
Ein irrationaler Stich trifft mich mitten ins Herz. Semih schließt also partout jede Möglichkeit aus, mir irgendwie nahezukommen, weil er Angst hat, dass es dem Alpha Kings schaden würde?
Erneut hört man Titans tiefes Lachen, diesmal allerdings lauter. „Also ich glaube, dass du dir eine Menge Ausreden zurechtlegst, um diese Anziehung zwischen dir und Charlie zu leugnen. Dabei willst du nur nicht akzeptieren, dass du es nach wie vor nicht erträgst, wieder jemanden in dein Herz zu lassen."
Erneut rumpelt es, so als würden die beiden Kartons stapeln, und ich laufe ganz entspannt aus dem Lager, bevor einer auf die Idee kommt, hier reinzukommen und mich beim Lauschen zu erwischen.
„Guten Tag, die Herren", begrüße ich sie fröhlich und spaziere mit meinem Energy Drink in der Hand an den beiden vorbei.
Titan ist tatsächlich gerade dabei, neues Equipment, welches in grauen Griffkisten sorgfältig sortiert wurde, in sein Arbeitszimmer zu tragen. Ich habe noch nie verstanden, wie jemand, der sehr erfolgreich eine Shisha Lounge leitet, sich noch zusätzlich den Stress macht und Aufträge annimmt, um die Sicherheitssysteme und IT-Infrastruktur von Firmen auf Schwachstellen zu überprüfen. Seine ganz persönliche Leidenschaft – so hatte er es genannt.
Semihs Gesichtsausdruck spricht indes Bände und es ist dieses Mal erstaunlich leicht, darin zu lesen. Er macht sich offenbar so große Sorgen, wie viel ich von ihrem Gespräch mitbekommen haben könnte, dass er mir nur stumm zunickt und dann das Weite sucht.
„Charlie?" Titan packt mich sanft am Arm und zwingt mich so dazu, stehenzubleiben. „Warum grinst du so?"
„Weil ich ein fröhlicher Mensch bin? Positivität, musst du wissen, ist eine Grundhaltung, die jeder Mensch haben sollte, um -"
„Spar dir die Klugscheißerei, Frau Professor", unterbricht er mich schmunzelnd. „Was hast du gehört?"
„Ich habe das gehört, was ich hören muss. Nicht mehr, aber auch nicht weniger", erwidere ich zwinkernd und befreie mich aus seinem Griff. Ich weiß zum jetzigen Zeitpunkt nicht wirklich, was ich mit den neuen Informationen aus dem eben belauschten Gespräch anfangen soll. Immerhin habe ich nun die Gewissheit, dass Semih mir, unter anderen Umständen, schon längst nachgegeben hätte, und das ich irgendwie ... erleichternd.
„Tindern wir später noch ein bisschen?", frage ich, um ihn abzulenken, und gönne mir einen Schluck meines Getränks.
Mit einem schweren Seufzen fährt er sich durch die schulterlangen Haare, die er heute unüblicherweise offen trägt, und bedenkt mich mit einem müden Blick.
„Du bist dir darüber im Klaren, wie lächerlich ich das finde, ja?"
„Absolut", antworte ich kichernd. „Aber was hast du zu verlieren, Boss? Vielleicht findest du auf diese doch sehr zeitgemäße Art und Weise deine absolute Traumfrau. Und dann, mein Lieber, wirst du mir danken."
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