20 - ,,Wir sind wie Mond und Sonne."
(Kapitel 20 - irgendwie wow und irgendwie...erst?!)
‚Read all about it' ~ Emeli Sandé
CASPIAN
Es war so ein großer Fehler gewesen, mit Graycens Bruder einen Streit anzufangen, während sie dabei war. Aber das, was sie über ihn gesagt hatte, hatte mich wütend gemacht. Und ich hatte nicht dabei zugucken können, wie er sie heruntermachte und vielleicht auch noch körperlich angriff. Trotzdem – Sie war mir wichtig, und es war nicht richtig gewesen, ihr die Chance zu nehmen, die Sache selbst zu klären, sondern einfach zu handeln wie ein Berserker. Ich hatte mich eingemischt.
Ich musste mich entschuldigen. Seit sechs Tagen versuchte ich, irgendwie zu ihr durchzudringen, aber sie reagierte nicht auf meine Nachrichten, ignorierte meine Anrufe und öffnete nicht die Haustür. Ich wusste nicht, ob ich mich einfach schuldig fühlen oder mir Sorgen machen sollte. Deswegen saß ich hier alleine in der von Stimmengewirr gefüllten Mensa und stocherte in den Bratkartoffeln auf meinem Teller. Oder auch nicht.
„Hey." Ein volles Tablett wurde in mein Blickfeld gestellt, dicht gefolgt von blonden Haarspitzen vor einem knallrosa T-Shirt und schließlich Sadies Gesicht.
„Warum sitzt du nicht drüben bei den anderen?", fragte sie.
Ich zuckte mit den Schultern. „Keine Lust."
Das war nicht einmal besonders gelogen, auch wenn ich die Gründe nicht erzählte. Zum einen natürlich das Schweigen zwischen Graycen und mir, zum anderen war der Tag ziemlich beschissen gewesen. Einer von denen, wo sich mir mal wieder die Frage stellte, warum ich dieses Studium überhaupt machte. Weil meine Mutter gerne wollte, dass ich eine ordentliche Ausbildung bekam, was ich am Ende selbst geglaubt hatte, und weil ich den Abschluss dazu gehabt hatte. Stattdessen würde ich viel lieber jetzt im Studio des Radiosenders sitzen und eine Show moderieren oder vorbereiten. Das war das, was ich wirklich konnte und wollte. Ich war nicht schlecht in Informatik, aber es machte einfach kaum Spaß. Manchmal wusste ich nicht, wie ich die zwei Jahre bis zum Abschluss noch überstehen sollte. Aber dann hätte ich eine Qualifikation und konnte machen was ich wollte, dann war sicher, dass ich den Sender leiten können würde. Trotzdem, ich wusste an Tagen wie diesen nicht, ob ich nicht einfach das Studium schmeißen sollte.
„Warum sitzt du nicht drüben bei den anderen?", fragte ich Sadie.
„Ezra und ich haben uns gestern mal wieder gestritten. Ich wollte mir nicht unbedingt seine Kommentare anhören. Weißt du, dieser Typ ist so ein Depp! Ich versteh manchmal gar nicht, wie ihr befreundet sein könnt. Er hat mich doch ernsthaft gefragt, ob ich Männer mit langen Haaren attraktiver finde. Am liebsten hätte ich seinen Kopf in einen-" Sie stockte. „Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?"
Ich wandte meinen Blick von der roten Tischplatte und fokussierte ihr Gesicht. Ich war nicht gut darin, einfach so mit Problemen rauszurücken. Da war dieses Gefühl im Weg, sich einfach nur wichtig zu machen und andere zu belästigen. Aber Sadie hatte eine zu gute Menschenkenntnis.
„Was ist los? Hast du dich wieder mit deiner Mum gestritten?"
„Nein..."
Forschend schaute sie in mein Gesicht, doch nicht kritisch, sondern viel mehr auf komisch-aufmunternde Art. „Ist es was mit Gray?"
„Ja, also..." Ich lehnte mich zurück und atmete aus. Und dann erzählte ich meiner besten Freundin endlich, was mich bedrückte.
„Du musst dich entschuldigen! Klar, ich kann die Intension hinter deiner Handlung verstehen, aber es war trotzdem nicht fair ihr gegenüber. Natürlich hat ihr Bruder auch scheiße reagiert, aber es war nicht gut, dich so einzumischen."
„Ich weiß", seufzte ich. „Aber wie soll ich mich entschuldigen, wenn sie mich komplett abzuschirmen scheint?"
„Du musst sie an einem Ort treffen, wo sie nicht abhauen kann. So etwas wie ein Aufzug. Und dann musst du einfach reden, egal, ob sie dir zuhören will oder nicht."
„Soll ich ihr einen Brief schreiben, dass wir uns im Aufzug vom Tower treffen, oder wie?"
„Man, das war doch nur ein Beispiel!"
Ich schwieg. Vermutlich hatte Sadie erwartet, dass ich mir zumindest ein Schmunzeln abringen würde.
„Gibt es einen Ort, an dem sie regelmäßig ist und den sie nicht mit einer Tür verschließen kann?"
***
Meine Hände schwitzten. Ich hatte vorhin fieberhaft versucht, mir zurecht zu legen, was ich sagen wollte, aber jetzt war mein Kopf so leer gefegt, wie von einer Windböe. Die Luft war noch warm von dem sonnigen Tag. Man merkte, dass morgen der Mai beginnen würde. Ich hatte das Gefühl, ich würde von jetzt an den Frühling immer mit Graycen assoziieren. Schneeweiße Kirschblütenblätter lagen auf dem Boden vor der dreckigen Ziegelmauer. Sie leuchteten fast grell in der nächtlichen Dunkelheit. Ein Windstoß fuhr durch den Baum und trug weitere durch die Luft. Gray war eine Elfe, versteckt hinter dunklen Schatten des Winters, die noch nicht so recht herausgefunden hatte, wie sie für sich selbst leuchten konnte. Dabei schwebte sie durch die Welt und faszinierte jeden in ihrem Umfeld mit ihrer Schönheit. Doch wer es schaffte, zu ihr durchzudringen, wer sich die Mühe machte, sie kennenzulernen, der würde da ein gebrochenes Mädchen sehen, ein kleines Kind, das keinen wirklichen Platz in dieser Welt hatte. Weil es eine Elfe war. Ohne Raum und ohne Zeit.
Ich hatte das Gefühl, meine Beine suchten sich automatisch ihren Weg, weil sie ihn schon so oft gegangen waren. Die riesige, rote Leuchtschrift hob sich eigentlich kaum von den Street-Art-Kunstwerken und überdimensionalen Fassadenzierden der umliegenden Häuser ab, aber heute schien sie mir schon weitem entgegen zu strahlen. Halb Schrecken und halb Balsam für die Sehnsucht in meinem Inneren. Für die Angst, etwas kaputt gemacht zu haben. Jetzt würde sich zeigen, ob das Wir eine Chance hatte oder nicht.
Von außen betrachtet würde wahrscheinlich jeder sagen, dass eine Beziehung zwischen Graycen und mir ohnehin zum Scheitern verurteilt war, aber... Ich konnte es nicht erklären. Vielleicht waren wir gar nicht so verschieden, wie es schien. Wir hatten beide miterlebt, wie eines unserer Elternteile gestorben war. Wir wussten, was es hieß, sich wirklich um einen Menschen zu sorgen. Wir hatten erfahren, wie dicht Liebe und Streit in einer Familie nebeneinanderlagen. Und wie wichtig es war, dass da jemand da war.
Vielleicht gab es einfach keine Erklärung. Vielleicht mochte ich sie genau aus diesen Gründen, weil sie kompliziert war, weil sie voller Überraschungen steckte, weil nicht jeder ihre Sprache verstand, weil sie nicht immer erkannte, was gut für sie war, weil sie besonders war. Vielleicht liebte ich sie einfach.
Ich schloss die Augen. Liebe. War das das Argument? War das das einzige, was wirklich zählte? Ich wusste es nicht.
Die Bässe schallten aus dem Gebäude und mischten sich langsam mit meinem Blut. Ich würde das jetzt einfach durchziehen. Ich würde einfach sagen, was ich fühlte und das musste einfach stimmen.
Mit steifen Schritten stellte ich mich ans Ende der Schlange vor dem Club, in dem Graycen arbeitete. Zum Glück musste ich nicht allzu lange warten, da die Nacht schon recht fortgeschritten war. Ich bezahlte, zeigte meinen Ausweis und konnte endlich den Türsteher passieren.
Körper traten in mein Blickfeld, für meinen Geschmack viel zu viele, denn ich war nur auf der Suche nach einem. Goldene Lichter flammten alle paar Sekunden durch den Raum, im Takt des Songs, den die Modern-Folk-Band spielte. Ich quetschte mich durch die Menschen, immer in Richtung Bar. Ich sah Graycen nicht sofort, und auf halbem Weg war mein Gehirn schon dabei, mich erleichtert ausatmen zu lassen. Warum waren wir darauf programmiert, unangenehmen Situationen aus dem Weg zu gehen, auch wenn es dadurch eigentlich nur noch beschissener wurde?
Aber nein, da stand sie. Die schwarzen Haare hatte sie mit einem bunten Bandana hochgesteckt, und dazu trug sie ein schwarzes, enges T-Shirt, einen hellen Jeansrock, gewagt kurz und darunter die Netzstrumpfhose. Die hatte sie an jenem ersten Abend getragen. Ich wusste noch, wie sie mir ins Auge gefallen war. Natürlich musste ich zugeben, dass ich Gray einfach sexy gefunden hatte und auf eine schnelle Nummer aus gewesen war, wirklich fasziniert hatte sie mich erst, als sie mich angeschrien hatte.
Sie reichte irgendeinem Kerl einen Drink über den Tresen. Sie lachte. Er sagte irgendetwas. Ich wusste nicht, ob ihre Anteilnahme und Euphorie echt waren. Die Eifersucht stieg in mir hoch wie ein giftiges Gas.
Es war ein Déjà-Vu. Ich fasste sie ins Auge, bahnte mir einen Weg und setzte mich auf einen freien Barhocker vor dem Tresen. Der Typ war in der Menge verschwunden. Graycen sah mich nicht gleich, sie reichte erst ein Bier über den Tresen, nahm eine weitere Bestellung auf, redete mit ihrer Kollegin und dann hörte die Band einen Moment auf zu spielen und es wurde kurz heller. Ihr Kopf ruckte zu mir zurück, ihre Augenbraue zuckte, sie öffnete die Lippen einen Spalt breit, das Pokerface wackelte nur. Mir fiel ein Stein vom Herzen, als sie sich auf mich zu bewegte. Ich hätte nicht gewusst, was ich tun würde, wenn sie jetzt weggelaufen wäre. Ich sah, dass ihre Hände zitterten.
„Was- Ähm. Willst du was trinken?" Grays Augen huschten über meine Finger, meine Lippen und meine blonden Haarwellen. Aber meinen Augen kam sie nicht zu nahe.
„Eine Long-Island-Ice-Tea bitte." Ich war mir sicher, wenn es nicht so verdammt laut gewesen wäre, hätte man unsere Herzschläge durch den Raum hallen und die Spannung zwischen uns knistern gehört.
Graycen nickte nur einmal mit dem Kopf. Sie versuchte jegliche Überforderung zu verstecken, aber ich kannte sie. Ich wusste, dass es hinter den gläsernen Wänden ihres Seelenschlosses brodelte.
Ihr Blick war die ganze Zeit über gesenkt, als sie das Getränk mixte. Andauernd strich sie sich die Haarsträhnen aus dem Gesicht, obwohl sie gar nicht vorrutschten.
Mir wurde klar, was für eine dumme Idee es gewesen war, hier mit ihr reden zu wollen. Wo man nicht einmal eine Sirene gehört hätte.
Als sie den Drink vor mir abstellte, fragte ich gegen den Lärm: „Können wir nachher noch reden? Wenn du Feierabend hast?"
„Ich... Ich muss dann gleich nach Hause. Tut mir leid." Ich war mir ziemlich sicher, an dem Flackern in ihren Augen erkennen zu können, dass es eine Ausrede war, aber ich beließ es dabei.
„Dann jetzt? Kommst du kurz mit raus? Ich muss wirklich mit dir reden. So hätte das letztens nicht laufen sollen."
„Ähm... Ja okay. Von mir aus."
Ich ließ den Cocktail stehen, den ich noch nicht einmal bezahlt hatte und folgte ihr nach draußen. Der Sauerstoff drang wohltuend in meine Lungen und die Nacht schien für einen Moment ganz still, obwohl wir eigentlich mitten in London waren; mein Herz schlug lauter.
Gegenüber an der Backsteinmauer unter dem Kirschbaum, angeleuchtet von einer nahen Laterne und der roten Leuchtschrift blieb sie stehen und drehte sich zu mir um. Nun funkelten mir ihre dunklen Augen herausfordernd entgegen. Anscheinend hatte sie ihre Scheu abgelegt und dafür ein Schutzschild aufgefahren: Ich konnte keine Emotion erkennen in den Tiefen hinter ihren getuschten Wimpern.
„Schieß los."
„Es war falsch. Es war komplett falsch, sich in euren Streit einzumischen. Ich habe dir damit das Recht genommen, die ganze Sache so zu klären, wie du es für richtig hältst und dass, obwohl ich eigentlich keine Ahnung habe. Es tut mir leid. Kannst du mir verzeihen?"
„Caspian... Ja, ich kann dir das verzeihen, aber..."
„Nein warte. Ich sag dir das jetzt einfach so, weil ich es einfach sagen muss: Ich möchte mit dir zusammen sein. Ich möchte ganz oft mit dir Pancakes backen und Sendungen einsprechen und auf Partys gehen. Und vor allem möchte ich dich küssen. Nicht ausnahmsweise und nicht als wäre das etwas Ungewöhnliches. Ich möchte, dass wir zusammen eine Gewohnheit werden und uns trotzdem noch überraschen. Ich möchte Sex mit dir haben. Und es ist mir wirklich völlig egal, was in deiner Vergangenheit passiert ist und ob du denkst, dass du melancholisch und komisch und nicht liebenswert bist – denn für mich bist du lustig und süß und freundlich und sexy und klug." Ich holte Luft. Endlich hatte ich es ausgesprochen. Diese brodelnden Gefühle, die jetzt zwischen uns schwebten. Und dann verpufften wie ein Feuerwerk.
„Caspian! Nein, hör auf. Das... das geht einfach nicht. Du siehst es nicht, oder? Wir sind wie Mond und Sonne. Oder Feuer und Wasser meinetwegen. Was glaubst du, warum deine Mutter mich nicht mag? Weil ich nicht zu dir passe und sie das gemerkt hat. Würde dein großer Bruder zusammengeschlagen werden, wenn du einen hättest? Nein, weil du aus einer anderen Gesellschaft kommst als ich. Zwischen uns gibt es Barrieren, Grenzen, Steinmauern... Machen wir uns doch nichts vor!"
„Was?", fragte ich fassungslos. „Aber da sehe ich Gemeinsamkeiten. Mal ganz abgesehen von der Gesellschaft. Nur weil für andere wichtig ist, woher wir kommen, muss das doch nicht für uns gelten!"
„Da hast du es", fauchte sie. Ich fragte mich, wie dieses Gespräch sich plötzlich so verändern konnte. Oder war es von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen?
„Du bist ein Optimist, ich ein Pessimist! Wir leben in mitten der Anderen! Wie leicht, glaubst du, wird es, das auszublenden?"
„Na und? Es ist nicht unmöglich. Du verurteilst uns zum Scheitern, bevor wir es in irgendeiner Art und Weise versucht haben!"
„Ich will nicht versagen, Caspian. Ich will nicht auf Wolken steigen und dann in ein Loch stürzen."
„Aber... Aber das ist nun einmal so. Es wird nie eine Garantie geben. Es ist doch sinnlos, die Kontrolle behalten zu wollen. Das hier ist kein Spiel, kein Theaterstück, bei dem du das Ende schon vorher im Manuskript lesen kannst. Es ist das Leben."
Sie schüttelte so heftig den Kopf als könnte sie damit machen, dass das, was ich gesagt hatte, nicht stimmte. „Ich bin nicht so wie du! Ich spaziere nicht in den Tag hinein mit der Erwartung, dass er gut wird. Ich habe nichts hinter mir, was bleiben wird, wenn alle Stricke reißen!"
Ich wollte etwas sagen, aber mir fiel nichts ein. Sie hatte Recht, ich war unbeschwert und sie hatte nie die Chance gehabt, es zu sein. „Ich bin da. Ich stehe hier, hinter dir."
„Nein. Nein, ich kann das nicht. Wie soll das gehen?" Zu meinem Entsetzen sah ich im Dunkeln Tränen auf ihren Wangen und Verzweiflung in ihren Augen glitzern. Ich hatte sie nie zum Weinen bringen wollen.
„Graycen..." Ich versuchte sie in die Arme zu nehmen, ihr die Schluchzer von den Schultern zu streichen. „Wir können das schaffen." Für einen Moment ließ sie mich gewähren, eine Sekunde, die einen Funken Halt gab, irgendwo zwischen Streit und Verzweiflung, und dann war der Augenblick vorbei, nur noch ein Traum, zerplatzt wie eine Seifenblase, die kurz durch die laue Nacht geschwebt war. Sie riss sich los, stand kurz da und blickte mir in die Augen, eine traurige Kriegerin im Sturm, mit einem stummen Kopfschütteln.
Dann war sie weg. Zurück zwischen Musik und Alkohol. Da, wo sie keine Angst haben musste, weil sie keine Rolle spielte. Dabei war doch die Person, für die sie alles tun sollte, immer bei ihr. Sie selbst.
Ich folgte ihr. Vielleicht eine Millisekunde zu spät, um sie davor zu bewahren, etwas Falsches zu tun. Sie war in der Menge verschwunden, ich irrte herum als wäre der große, volle Raum ein tiefdunkler Wald ohne erkennbare Sterne. Es dauerte lange, bis ich sie sah. Ich wünschte, ich wäre nicht wieder nach drinnen gegangen. Sie stand da. Mit dem Kerl, dem sie vorhin ein Getränk verkauft hatte, und ich konnte nicht mehr erkennen, wessen Hände wem gehörten. Ihre Lippen berührten sich, viel zu heftig, ohne Gefühl. Die Küsse waren wie Krähenschreie in meinen Ohren, klare Laute, abgehakte Töne, schmerzhafte Stiche.
Warum tat sie das? Warum verletzte sie uns so? Warum?
~2553 Wörter
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