16 - ,,Wer ich bin..."
‚Renegades/Acoustic Version' - X Ambassadors
CASPIAN
Als ich an diesem Samstagmorgen zum Joggen aufbrach, war es noch nicht einmal ganz Tag. Ich war gestern Abend mit meiner kleinen Schwester in ihrem Bett eingeschlafen und gerade geweckt worden, als sie mir ohne aufzuwachen ihren Arm ins Gesicht gehauen hatte. Jup, ich hatte sie auch lieb. Dann hatte ich aus dem Fenster geschaut und gewusst, dass ich jetzt nicht mehr würde schlafen können. Nicht wenn draußen ein Sonnenaufgang auf mich wartete.
Die letzten Sterne verschwanden am klaren Himmel, dessen Farbe irgendwo zwischen babyblau und kornblumenblau lag, und am östlichen Horizont in einen verblassten Pfirsichton und schließlich pastellgelb überging. Londons Straßen waren so leer wie zu kaum einer anderen Zeit, nur die Vögel waren schon alle wach und sorgten für eine aufgeregte, aber schöne Geräuschkulisse. Ich lief ein Stück durch den Hyde Park, dann durch den St. James Park, wo ich aus Gewohnheit dem von Touristen überlaufenen Buckingham Palace aus dem Weg ging, auch wenn jetzt wahrscheinlich dort keine Menschenseele sein würde, bis ich schließlich fast an der Themse war. Vorher bog ich allerdings wieder ab in die Stadt in Richtung Piccadily und Berkley Street. Als ich schließlich völlig verschwitzt die letzten Schritte die Straße in Mayfair hinunterlief, an deren Ende unser Haus stand, ging die Sonne auf. Die feinen goldenen Strahlen ließen die ersten grünen Blattspitzen an den Bäumen der Allee leuchten und setzten den Londoner Frühling in Szene. Sadie fragte mich immer, wie ich es schaffte, so früh aufzustehen und dann auch noch joggen zu gehen - es waren genau diese Momente, wegen denen ich nicht den Morgen verschlafen konnte.
Ich blieb noch ein paar Minuten stehen, beobachtete wie die Sonne langsam um die Hausecken herumlugte, das Pflaster glitzern ließ und die Gasse in warmes Morgenlicht tauchte, während mein Atem sich nach den 4 Meilen langsam beruhigte, dann schloss ich die Haustür auf und trat in den halbdunklen Flur. Das Haus war noch immer erfüllt von trauter Stille, meine Familie schlief und Mrs. Burke war noch nicht hier. Ich ging leise die zwei Treppen zu meinem Zimmer auf dem Dachboden nach oben und schloss auch dort wieder die Tür hinter mir, gerade als mein Handy, das auf dem Bett lag, einen Ton von sich gab, als wäre gerade eine Nachricht eingegangen. Mein Herz machte unweigerlich einen kleinen Freudensprung, als ich sah, von wem sie war.
Graycen: Bist du schon wach?
Ich antwortete mit einem Ja.
Graycen: Kannst du zu mir kommen?
Ich hatte eigentlich heute Schicht im Radiosender, aber es waren noch fast drei Stunden bis zu deren Beginn um neun Uhr, also sagte ich zu und fragte mich sogleich, was Graycen um diese Uhrzeit vorhatte. Schnell ging ich duschen und überlegte, ob ich die U-Bahn, das Auto oder das Rad für den Weg nach Camden nehmen sollte. Ich konnte nicht verhindern, dass ich bei der Auswahl meiner Klamotten heute irgendwie sorgfältiger vorging als sonst. Schließlich entschied ich mich für eine blaugraue Stoffhose, ein einfaches weißes T-Shirt und ein ausgewaschenes schwarzes Sweatshirt mit dem Schriftzug The Beatles vorne drauf. Ich steckte mein Handy ein und lief wieder nach unten. In der Küche hinterließ ich eine Nachricht für die Anderen, dass ich schon unterwegs sei, bevor ich an der Garderobe meine Sneakers anzog und endlich nach draußen trat. Der Wind, der die Tage durch die Stadt fegte und der mit der klaren Nacht nachgelassen hatte, blies mir nun wieder frisch ins Gesicht und trieb die ersten Wölkchen über den Himmel. Da meine Beine noch erschöpft vom Joggen zu sein schienen, entschied ich mich nun, mit der U-Bahn zu fahren. Im Gehen steckte ich mir die Kopfhörer in die Ohren und startete eine Playlist auf meinem Handy. Die lauten instrumentalen Einsätze im Song ‚Paper Tiger' von Beck schienen die Windböen zu unterstreichen und meine Vorfreude und leichte Nervosität davor, was vielleicht gleich passieren könnte zwischen Gray und mir, zu steigern. Eventuell, ja nur ganz eventuell, würde dieser Kuss, diese plötzlichen Gefühle, irgendwie ein Thema werden. Ich spürte, dass ich das gleichzeitig ganz dringend wollte und mich davor fürchtete.
Als ich in der Bahn saß, schoss mir wieder etwas durch den Kopf, das mir das letzte Mal, als ich Gray gesehen hatte, als wir im Schwimmbad waren, nicht zum ersten Mal aufgefallen war. Es war ein Ausdruck über ihr Gesicht gehuscht, den ich schon bei unserer ersten Begegnung gesehen hatte. Damals hatte sie noch nicht versucht, ihn zu verbergen, weil sie nicht dachte, dass wir uns je wiedersehen würden. Ich hatte gemerkt, dass es da etwas gab, was ich nicht wusste. Ich wusste, dass es kein Zufall war, dass ich sie nur so kannte, wie sie jetzt war. Dass ich keine Ahnung hatte, wie sie großgeworden war. Was sie zu der gemacht hatte, die sie jetzt war. Ich fragte mich, ob sie mir jemals den Grund sagen würde. Fragen wollte ich sie nicht, denn wenn sie das für sich behalten wollte, dann war das ihr gutes Recht.
Weißt du überhaupt, wo sie herkommt? Das hatte meine Mum einmal gesagt, und ich hatte Graycen in diesem Moment vehement verteidigt, ihr gar nicht richtig zugehört, weil die Wut mir in den Ohren gerauscht hatte. Ich schüttelte den Kopf. Ich war nicht wie sie. Ich verurteilte niemanden nach einem Blick. Aber ich konnte nichts dagegen tun, dass da plötzlich Zweifel in mir aufkamen. Was wohl der Grund für Graycens Schweigen war?
Sie könnte dich sonst wie ausnutzen. Die Worte hallten in meinem Kopf und rangen gegen die Gefühle für Gray. Gray...diese schöne, freundliche, lustige und verrückte Person. Und doch verheimlichte sie mir etwas. Aber sie war nicht verpflichtet, mir irgendetwas zu sagen! Warum tat sie es trotzdem nicht? Ich erinnerte mich selbst daran, dass ich ihr die Sache mit meinem Dad ebenfalls nicht sofort erzählt hatte, weil ich sie nicht damit belasten wollte. Bestimmt gab es also auch auf ihrer Seite einen ganz einfachen Grund. Ganz bestimmt.
Den ganzen restlichen Weg redete ich mir das ein, zwang alle unfairen Zweifel in die Knie, konnte aber das dumpfe Gefühl in meinem Magen, das sich nun auch noch mit den Schmetterlingen darin vermischte, nicht wegdenken.
Als ich klingelte, betätigte Graycen den Summer ohne sich zu vergewissern, dass ich es war. Genau wie das letzte und das einzige Mal, als ich hier gewesen war, um nach ihr zu sehen, als sie krank war.
Sie sah müde aus, wie sie da an der Tür stand mit hoch gebundenen Haaren, einem rot-weiß-gestreiften T-Shirt und einer Jogginghose. Mir fiel ein, dass sie letzte Nacht noch weniger Schlaf bekommen haben musste als ich, denn sie war nach dem Schwimmen direkt zur Arbeit aufgebrochen und garantiert nicht vor halb zwei zu Hause gewesen.
„Hallo." Ein mattes Lächeln schlich sich auf ihre Lippen, erreichte ihre Augen jedoch nicht. Sie waren so dunkel wie ich sie noch nie gesehen hatte. Was sich wohl hinter ihnen, tief im Inneren ihrer Seele verbarg? Ich konnte ihre Gedanken keinesfalls erraten.
„Morgen", antwortete ich.
Sie bat mich herein und führte mich, nachdem ich meine Schuhe abgestreift und zur Seite gestellt hatte, durch einen fensterlosen, schmalen Flur in ein gemütliches Wohnzimmer. Es war ebenfalls klein, die Wände waren kahl und weiß, an manchen Stellen sah man ein wenig die Farbe abblättern und der Boden bestand aus alten Holzdielen. An einer Wand gab es eine kleine Kochecke, davor stand ein rechteckiger Holztisch mit vier bunt zusammen gewürfelten Stühlen. Auf der anderen Seite des Raums stand ein Zweisitzersofa und zwei ebenfalls nicht dazu passende Sessel auf einem durchgetretenen Flickenteppich.
Aus irgendeinem Grund schien Gray ziemlich nervös. Sie bat mir einen Platz auf dem grünen Plüschsofa an und ich setzte mich, während sie sich neben mir niederließ und scheinbar in die hinterste Ecke der Couch rutschte. Oli, der Weimaraner hatte auf einem großen Kissen im Flur gelegen und müde den Kopf gehoben, als ich eingetreten war, dann war er uns ins Wohnzimmer gefolgt.
„Ich muss-", setzte Graycen an, doch dann schien sie auf halbem Weg der Mut zu verlassen und sie verstummte wieder. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und streichelte stattdessen Oli, der neben mir auf dem Teppich saß und mich mal wieder misstrauisch musterte, als wüsste er noch nicht, ob ich die richtige Person für sein Frauchen sei oder nicht.
Sie stand auf. „Willst du einen Kaffee? Oder Tee? Ich hab auch Orangensaft."
Da sie offensichtlich dringend etwas tun wollte, lehnte ich nicht ab. „Kaffee schwarz, danke."
Gray lief zur Küchenanrichte und schaltete eine alte Kaffeemaschine an. Dann stellte sie einen scheinbar schon befüllten Wasserkessel auf eine Platte des Gasherds. Ich beobachtete sie und stellte mir vor, wie sie als perfekte Hausfrau später ihren Ehemann und ihre zwei Kinder in einer riesigen, sonnendurchfluteten Landhausküche bemutterte. Alles hier in dieser Wohnung war in perfekter Ordnung: Die Arbeitsflächen und der Küchentisch waren klecksfrei, die Arbeitsgeräte in der Küche standen gerade an ihrem rechten Fleck, den Tisch schmückte ein Strauß Tulpen in einem Einweckglas, die Bücher im Regal an der Wand waren nach dem Alphabet sortiert, auf den Fensterbrettern sprossen Gartenkräuter. Graycens Zuhause war einfach und vielleicht schon ein wenig alt, um nicht heruntergekommen zu sagen, aber sie hatte mit allen Mitteln versucht, das Beste daraus zu machen. Und es war ihr tatsächlich gelungen. Ich hätte nicht halb so viel Sinn dafür gehabt, Dekokissen zu kaufen oder Teelichter in recycelten Joghurtgläschen aufzustellen.
„Ähm, ich weiß, diese Wohnung ist nicht... Nicht unbedingt das, was du gewöhnt bist, aber mehr... können wir uns nicht leisten", sagte Graycen stockend, aber ehrlich, und stellte zwei Tassen auf den kleinen Couchtisch vor uns. Dann ließ sie sich wieder neben mich fallen.
„Ich find's schön hier", murmelte ich und das meinte ich ernst.
Graycen wollte dazu ansetzen, mir zu widersprechen, doch dann schien ihr anscheinend wieder einzufallen, warum ich hier war, denn sie setzte den gleichen beklommenen Gesichtsausdruck wie vorhin auf.
„Caspian, ich will dir etwas erzählen."
„Schieß los", versuchte ich sie angesichts ihrer Henkersmahlzeitmiene aufzumuntern.
„Es geht um mich. Und um uns. Darum, wer ich bin." Sie schwieg und ich nahm einen vorsichtigen Schluck Kaffee, um ihr zu zeigen, dass ich geduldig war.
„Ich... bin als Waisenkind groß geworden." Kacke. Vielleicht hatte sie erwartet, dass ich etwas sagen würde, doch ich konnte ihr nur ernst in die Augen schauen.
„Naja, eigentlich als Halbwaise. Mein Vater lebt noch, aber ich kenne ihn nicht wirklich." Aus einem mir schleierhaften Grund lachte sie kalt und trocken auf und verfiel gleich darauf wieder in Schweigen. Es fiel ihr sichtlich schwer, das zu erzählen. Mich machte es fertig, dass ich nicht wirklich wusste, wie ich ihr irgendwelche Last von den Schultern nehmen sollte. Und immer noch war ich überfordert, weil sie plötzlich das erzählte, was ich mich vorhin noch gefragt hatte: Ihre Vergangenheit. Ich war froh, dass sie es jetzt tat, weil dann diese Zweifel in meinem Bauch vom Schwert der Wahrheit geschlagen werden konnten. Aber ich hatte auch gewisse Befürchtungen, weil Graycen noch immer völlig verstört aussah - also würde das Schlimmste wohl noch kommen, oder?
Ich räusperte mich, trotzdem klang meine Stimme belegt wegen des Themas. Genau wie, als ich ihr davon erzählt hatte, dass mein Dad gestorben war. „Warum kennst du ihn nicht?", fragte ich vorsichtig. Halb war ich neugierig, was damals passiert war, halb wollte ich es gar nicht wissen.
Sie holte tief Luft für die Antwort.
Eine einzelne Träne lief ihre Wange hinab. Wie ein einsamer Stern, der verglühte.
Dann begann Graycen zu reden.
~1865 Wörter
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