14 - ,,Mir tut es nicht leid!"
,Sea of Sound' - IsaacO
CASPIAN
Graycens Lippen waren genauso weich wie sie aussahen. Zart berührten sie meine, ich schmeckte ihren Speichel, roch ihren Duft nach Jasmin, spürte ihre Hand in meinem Nacken und den Regen auf meiner Stirn. Unsere Gerüche vermischten sich mit dem des Schauers, die Geräusche der Nacht mit unseren.
Ich wusste nicht, warum wir das getan hatten. Nichts war mir einen Moment zuvor ferner vorgekommen. Es war ein Reflex gewesen. Ich hatte plötzlich auf ihre Lippen gestarrt und wieder in den Glanz ihrer Augen und dann konnte ich nicht mehr denken. Nur noch spüren.
Sie bewegte sich nicht mehr. Wir waren nicht mehr ein Teil eines Ganzen, sondern wieder zwei. Als Graycen einen Schritt zurück machte, starrte ich in ihre schwarzen Augen. Ich konnte nichts darin lesen, obwohl ich mir sicher war, dass es in ihrem Inneren brodelte.
Ich fragte mich, ob es das Richtige war, sie zu küssen. Eigentlich hatte ich gar nicht sie geküsst und sie auch nicht mich, sondern wir uns. Wollte ich das in diesem Moment? Wollte sie das? Die Antwort auf die erste Frage war wesentlich einfacher, denn mein ganzer Körper schrie: Jaaa! und Nochmal! Ich wusste nicht, ob es da eine gewisse Anziehungskraft zwischen uns gab – wir waren ja nur Freunde. Bis zu diesem verrückten Moment. Ich könnte sagen, dass jetzt alles komplizierter war, doch... Dafür hatte es sich viel zu gut angefühlt.
Graycen bewegte sich noch ein Stück von mir weg und ich war mir sicher, dass ihre Gedanken andere waren. Hatte sie Angst? War sie überfordert? War dieser Kuss für sie kein verrückter Ausflug, sondern eine alles durcheinander würfelnde Katastrophe? Ich kannte sie nun schon ziemlich gut. Ich wusste, dass sie nicht gut damit umgehen konnte, die Kontrolle zu verlieren. Und jetzt hatte sie definitiv nicht mehr die Zügel in der Hand gehabt.
Ich konnte fast sehen, wie sie danach rang. Nach Kontrolle. Sie öffnete ihre Lippen, um etwas zu sagen, aber sie brachte keinen Laut heraus.
Ich flüsterte ihren Namen in die Dunkelheit und hoffte, dass sie verstand, was ich ihr damit sagen wollte: Dass es okay war. Dass wir das klären konnten.
Doch sie drehte sich um. Sie wandte mir nach diesem grandiosen Kuss den Rücken zu und sagte: „Es tut mir leid."
Fast hätte ich geschrien: Mir tut es nicht leid! Aber sie öffnete die Terrassentür und stolperte nach drinnen.
Ich blieb im Regen stehen.
***
Fünf Tage war es her. Ich konnte nicht aufhören daran zu denken. An die Berührung, an Graycens Blick und an das Verlangen, das ich gespürt hatte. Ich stellte mir vor, wie es wäre, wenn wir nicht aufgehört hätten. In meinen Träumen gingen wir weiter. Dieser Kuss war ein flacher Stein gewesen, den man übers Wasser springen ließ und der meterweite Wellen auslöste. Wir waren nur Freunde gewesen, aber jetzt war mir klar, dass ich auch schon vorher etwas gespürt und verleugnet hatte. Es war wesentlich einfacher, mit jemandem direkt aufs Ganze zu gehen, als von Gesprächen und Freundschaft zu Mehr überzugehen. Das Problem war eigentlich gar nicht, dass ich nicht wollte oder nicht wusste, wie ich damit umgehen sollte, sondern, dass ich mir Sorgen machte, dass Graycen genau das dachte. Ich hatte sie nicht mehr gesehen, seit sie Samstagnacht weggelaufen war. Natürlich hatte ich sie gesucht, denn ich wollte sie ganz nebenbei nicht wie ein unerzogener Idiot auf der Party meiner Familie ihrem Schicksal überlassen, aber ich hatte sie nicht gefunden. Sie musste sich bald ein Taxi gerufen haben, das sie nach Hause brachte, zumindest hoffte ich das. Auf meine Frage per Nachrichten, ob alles okay war, hatte sie nur mit einem knappen ‚Ja' geantwortet. Die leichte Wut auf sie, die ich gespürt hatte, als sie einfach gegangen war, war schnell verflogen und einer ruhelosen Nachdenklichkeit gewichen. Ich wusste nicht, wie wir weitermachen sollten, wenn sie den Kuss als Fehler betrachtete und ich nicht. Ich wollte nichts Falsches tun, aber ich hatte das Gefühl, sowohl ihr zu sagen, dass ich nichts dagegen hatte, unsere Freundschaft auszubauen und es einfach zu probieren, würde sie verletzen oder verängstigen, als auch, wenn ich den Kuss ignorieren würde.
Das konnte ich auch gar nicht. Ich konnte diesen Moment nicht aus der Zeit streichen und schon gar nicht aus meinem Kopf.
Ich starrte den Bildschirm meines Notebooks an, genauso wie die letzten fünf Minuten. Im Hintergrund lief ‚OTL' von little hurricane, eigentlich ein Song, der mich aufmuntern und motivieren sollte, der nun aber nur in Endlosschleife durch mein Gehirn schwirrte und meine Gedanken zu untermalen schien. Eigentlich hatte ich etwas für die Uni tun wollen, aber Graycen in meinem Kopf hatte mir einen Strich durch die Rechnung gemacht. Immer wieder musste ich plötzlich daran denken, wie wir uns geküsst hatten, an den Traum von letzter Nacht, und auch an ihren Blick. Wie sie mich angesehen hatte, bevor sie die Flucht ergriffen hatte.
„Ach verdammt!", sagte ich laut und stand ohne Auslöser endlich auf. Ich musste mit ihr reden, ganz egal, wie sie mich angeschaut hatte. Zur Hölle, ich wollte eigentlich nicht reden, sondern einfach da weitermachen, wo wir aufgehört hatten, aber fürs Erste war Reden wohl die bessere Idee.
Warum war dieses Verlangen auf einmal so groß, fragte ich mich, als ich mit dem Fahrrad schon auf dem Weg nach Camden war. Der Kuss war wie ein Funke gewesen, der auf meine Lippen getroffen war und schließlich meine gesamten Synapsen, meinen ganzen Körper entfacht hatte. Ich sah Graycen vor meinem inneren Auge und mir wurde richtig bewusst, wie schön und sexy sie eigentlich war. Es war, als würde ich sie auf einmal nicht mehr durch die Freundschaftsaugen sehen, sondern... anders. So, wie ich sie gesehen hatte, als wir uns das erste Mal gegenüber gestanden hatten. Was ich dann aber in den Teil meines Hirns geschoben hatte, der sich wohl Unterbewusstsein nennt – dorthin, wo alles landet, an das nicht mehr gedacht wird, das aber dennoch die ganze Zeit da ist – weil ich sie kennen lernen wollte, als Mensch. Und nicht als Frau mit weichen Lippen, wohlproportionierten Brüsten und einer Vagina. Und jetzt? Jetzt konnte ich annähernd von mir behaupten, einen Bruchteil von ihr zu kennen, diesem verrückten, undurchschaubaren Menschen, und jetzt hatten wir uns geküsst.
Ich sah sie von weitem. Sie saß auf den Stufen vor dem Haus mit der schmutzig-gelben Fassade in der Frühlingssonne, neben ihr ihr Hund wie ein untrennbarer Teil von ihr. Als ich vor ihr anhielt, kniff sie die Augen zusammen und erkannte mich gegen das Licht. Oli beäugte mich misstrauisch.
„Hallo", sagte ich und setzte mich ungefragt neben sie. Ich wusste noch nicht, was ich sagen wollte, aber ich wusste auch, dass es sinnlos war, sich ein Drehbuch zu schreiben, das der Andere dann doch nicht kannte. Graycen hatte die langen, schwarzen Haare im Kragen ihres Sweatshirts mit dem Aufdruck sea breeze verborgen, dazu trug sie schwarze Leggins und war vollkommen ungeschminkt. Die dunkelblauen Gummistiefel mit den rosa Punkten an ihren Füßen gaben ihr eine Verspieltheit, die man sonst nicht auf den ersten Blick sah, die aber auf den zweiten zu ihr passte.
Sie blickte kurz auf eben jene Stiefel, als könnte sie meine Gedanken lesen, dann in meine Augen. Wir konnten es uns jetzt in diesem Moment schwer machen, wir konnten es aber auch ganz einfach machen.
„Lass uns diesen Kuss bitte nicht vergessen." Ich starrte auf die hässlichen grellrosa Tulpen im Blumenkasten des Hauses gegenüber, die sich mit der orangenen Streetart auf der Fassade bissen.
„Lass uns einfach weiter machen, aber lass uns ihn nicht vergessen. Und nicht ignorieren." Das hatte sich besser angehört, als ich geglaubt hatte. Graycen schwieg trotzdem noch. Ich wartete auf eine Reaktion, aber ihr Gesicht regte sich nicht. Mit geschlossenen Augen streckte sie die Nase in die Sonne. Das Pokerface hatte sie wirklich drauf. Am liebsten würde ich sie anschreien, ihre Emotionen offen darzulegen, aber ich glaubte nicht, dass das effektiv wäre.
„Ist das okay? Was fühlst du, Graycen?"
Endlich. Endlich öffnete sie die Augen und schaute mich an.
„Lass uns schwimmen gehen."
~1329 Wörter
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