[5] Jorge
Erst nachdem ich meinen großartigen Text vorgetragen habe kommt mir in den Sinn, einmal Luft zu holen. Hustend stütze ich mich mit beiden Händen am Boden ab und ringe nach Sauerstoff, dabei klopfen mir mehrere Hände auf den Rücken. Ich hebe den Kopf und blicke in Newts verdrecktes Gesicht, in dem sich von Überraschung, Freude, über Trauer bishin zu Verwirrung alles widerspiegelt. Dann packt er mich plötzlich am Arm und zerrt mich hoch, zieht mich in eine feste Umarmung. Verwirrt erwidere ich sie, werde dann auch gleich weggerissen und an den nächsten Körper gepresst. Clint. Danach kommt Chuck und Thomas, ich werde wie ein Kissen hin und hergeschupst; so fühle ich mich zumindest. In meinem Kopf dreht sich noch alles ein wenig, doch sonst bin ich - den Umständen entsprechend - topfit.
"Ich will euer rührendes Schauspiel ja nicht unterbrechen..."
setzt Jorge an und gähnt übertrieben laut. Gut schauspielern kann er, das muss man ihm lassen.
"Wir... wir können handeln"
stottert Thomas und hebt ein wenig abwehrend die Hände, scheinbar ist er etwas überfordert mit der Situation. Naja, wäre ich auch, müsste ich mit einem angeblichen Crank und seiner bewaffneten Crew - die mir erst jetzt im Hintergrund auffällt - diskutieren, während einer meiner totgeglaubten Freunde aufersteht. Noch während mich Jeff umarmt, obwohl ich doch garnichts mit dem Kerl zu tun hatte, bricht eine wilde Unterhaltung los und Jorge beginnt mit seiner Show. Ich versuche mich auf den Text zu konzentrieren, doch da fällt mein Blick auf Minho und mein Hirn schaltet ab.
Er sieht mich einfach nur an. Tut nichts, rührt sich nicht, sagt nichts. Eine saubere Spur zieht sich verräterisch über seine staubige Wange. Hat er geweint? Wegen mir? Gosh, das wird ja immer verwirrender hier. Es ist genauso wie im Buch: Innerhalb kurzer Zeit passieren hundertausend Dinge, sodass es furchtbar unrealistisch klingt, und doch geht es drunter und drüber.
Langsam und fast ein wenig ängstlich gehe ich auf den Asiaten zu, hebe zögernd die Arme. Will er mich nicht umarmen? Freut er sich nicht? Oder...
Ehe ich weitere blödsinnige Theorien aufstelle kann, tritt Minho zu mir heran und schlingt die Arme um mich. Ich keuche auf, so stark drückt er mich an sich, das Gesicht vergräbt er tief in meinem sandigen Haar.
"Tu das nie wieder"
murmelt er undeutlich, und ich kann nicht anders als zu nicken. Meine Hände krallen sich fast automatisch in sein Shirt, mein Puls schraubt sich bei seinem warmen Atem, der über meinen Nacken streift, höher. Lange können wir in dieser Position allerdings nicht verharren, da höre ich auch schon wieder Jorges heiseres Spötteln.
"Hach, ein Liebespaar. Doppelt schmeckt besser"
lacht er und in seiner Stimme schwingt eine irre Note mit. Ihm gebührt ein Oscar, wahrhaftig.
Minho löst sich von mir und funkelt den Spanier herausfordernd an. Oje. Ich hatte gehofft, der Streit wäre so gut wie verhindert...
Minhos drohenden Blick ignorierend, trällert der Mann weiter, während er im Raum auf und ab läuft. Es hatte inzwischen angefangen zu regnen, die Wassertropfen trommeln wild gegen das Dach und hämmern gegen den harten Boden, sodass man es bis hierher dumpf klopfen hört. So kann man wenigstens nicht meine hektischen Atemzüge hören, während ich zusehe wie die Szenerie aus den Fugen gerät. Ich muss da einschreiten, oder wir bekommen ein sehr, sehr großes Problem.
"Die Kleine ist schon süß, nicht? Wollen wir kosten?"
ruft Jorge ins Nichts, ein leises Gegacker kommt zur Antwort. Kurz darauf erscheinen mehrere Gesichter aus der Dunkelheit, gierige Augen, die mich genau mustern. Ich kenne diese Blicke schon. Damals, in dieser einen Nacht. In der ich fast... also fast...
"Fass sie an und du bist tot, du Strunk!"
faucht Minho dermaßen wütend, dass ich selbst zusammenzucke. Wow, vorher noch aufgelöst, und jetzt aggressiv? Dieser Junge hat eindeutig ärgere Stimmungsschwankungen als eine Hochschwangere.
"Willst du mir drohen?"
fragt Jorge provozierend und verschränkt die Arme vor der Brust.
"Willst du lächerliches Kindlein mir etwa drohen? Du wagst es? Weißt du, was ich mit solchen Leute mache?"
Er tritt näher an den Asiaten heran, der keinen Millimeter zurückweicht. Die übrigen Lichter stehen nur stumm da und verfolgen mit großen, verstörten Augen das Geschehen.
Herausfordernd reckt Minho das Kinn und zischt etwas, was ich jedoch nicht verstehen kann. Doch an der Wut, die nun aus den spanischen Gesichtszügen sprechen, kann ich erahnen, dass es wohl keine Entschuldigung war. Hastig laufe ich auf die zwei Streithähne zu. Auch wenn ich mit Jorge alles klären kann, so muss es doch für die übrigen, echten Cranks einigermaßen überzeugend wirken. Ansonsten kommen die noch auf dumme Ideen...
"Heyeyey..."
mache ich und hebe beschwichtigend die Hände, da schnellt plötzlich Jorges Hand vor und packt mich am Haar. Es tur nicht unbedingt weh, rein reflexartig japse ich trotzdem erschrocken auf. Minho reagiert dermaßen schnell, dass ich kaum reagieren kann. Sein Ellbogen schnellt hoch und trifft Jorge am Kinn, der daraufhin aufstöhnt und nach hinten taumelt. Dabei zieht er mich jedoch mit sich und ich stolpere hinterher, ziemlich überfordert mit der neuen Situation. Das war nicht geplant so...
Jorge holt aus und schlägt Minho gegen die Schulter, gleichzeitig kickt der Asiate gegen das Schienbein des Spaniers und bringt ihn damit zu Fall. Dabei komme ich endlich frei.
"MINHO DU IDIOT!"
fluche ich, während ich nach hinten ausweiche, als die Prügelnden über den Boden wälzen, immer wieder landen schwere Treffer, dass es nur so blaue Flecken geben wird. Schließlich sind es Newt und Thomas, die Minho wegzerren, welcher angestrengt keucht, jedoch sehr zufrieden mit seinem Werk zu seien scheint.
"Das"
zischt Jorge, während er sich hochrappelt und Blut von der Unterlippe wischt,
"wirst du mit deinem Leben bezahlen."
Minho funkelt ihn nur knurrend an, doch auf den Gesichtern der anderen Lichter kann ich deutlich Furcht aufblitzen sehen. Ich will schon etwas sagen, da fällt mein Blick auf die Cranks und mir wird schlecht. Diese Typen sehen mich an, als wollten sie mich jeden Moment schnappen und wegrennen. Ständig lecken sie sich über die Lippen, grinsen mich schief an und hälten die Waffen fast ein wenig prahlerisch in die Höhe.
"Ey, Jorge, die hat grüne Haare. Bestimmt ist die irgendwie besonders. Nehmen wir sie uns"
ruft jemand aus der Dunkelheit und der Spanier wendet sich um.
"Wir nehmen sie alle. So siehts aus."
Okay, jetzt nur keine Hektik. Ich muss mit Jorge alleine reden wenns geht, und dafür kann ich Thomas' Trick anwenden. Jetzt muss ich schauspielern; na, hoffentlich wird das was.
Mit bemüht nervösem Ausdruck trete ich nach vorne und spiele zur Verdeutlichen meiner absoluten Unsicherheit mit meinen Fingern herum.
"Nein! Wartet. Also... wir können das regeln. Ich kann das regeln. Gib mir nur eine Minute. Bitte."
Ich sehe Jorge eindringlich an, versuche seine wahren Gedanken in seinen Augen zu lesen. Doch die mustern mich nur kalt und abwertend. Ich denke kurz nach, dann füge ich noch ein
"Es bringt euch nichts, wenn ihr uns verstümmelt" hinzu. So wie im Buch.
Jorge knurrt bedrohlich und spuckt auf den Boden.
"Jede Menge Spaß bringt das, kleine Lady. Und deinen Loverboy werde ich mir als erstes verknöpfen."
Ich versuche den albernen Kosenamen für Minho zu ignorieren, obwohl mir eine saure Bemerkung auf der Zunge liegt, und schrumpfe übertrieben in mich zusammen.
"Bitte! Wir sind keine dummen Strünke, wir sind alle wahnsinnig wertvoll, glaub mir. Lebendig, nicht tot."
Augenblicklich weicht die Wut aus Jorges Augen und Neugierde findet darin Platz.
"Was sind Strünke?"
Beinahe hatte ich gelacht. Nicht wegen dem Inhalt des Satzes, sondern weil er wirklich genau das sagt wie im Buch. Doch so komme ich einfacher ans Ziel, also sollte ich nicht klagen.
"Du. Ich. 10 Minuten. Mehr verlange ich nicht."
Der Spanier überlegt kurz, dann nickt er knapp.
"Meinetwegen. Aber wenn du mich nicht überzeugen kannst, sterbt ihr alle einen grausamen Tod."
Also ob, denke ich mir, doch ich behalte es für mich. Auch den Jungs ein Zeichen geben traue ich mich nicht, weil es sonst eventuell einer der Cranks bemerken könnte. So folge ich also Jorge aus dem Raum, ohne mich noch einmal zu den Lichtern umzudrehen. Aber auch so spüre ich die vielen Blicke, die auf mir ruhen.
Sobald der Spanier sich auf den alten Holzstuhl gegenüber von mir fallen lässt, lasse ich jegliche Fassaden fallen und kann nicht anders, als zu grinsen. Jorge mustert mich abschätzend.
"Was ist denn so lustig?"
knurrt er und lehnt sich betont langsam nach hinten. Ich schüttel nur den Kopf, lächle immer noch. Es ist ein erleichterndes Gefühl, zu wissen, dass man alles so weit unter Kontrolle hat.
"Lass die Cranknummer. Ich weiß alles. Über dich, über Brenda. Das mit dem Immunsein. ANGST. Einfach alles."
Kurz verrutscht die mürrische Maske meines Gegenübers, er fängt sich jedoch schnell wieder.
"Ich weiß nicht wovon du sprichst."
"Weißt du wohl."
"Nein."
"Doch."
"Nein!"
"Doch."
"N..."
"Ach komm schon!"
Ich schlage auf den morschen Tisch, der daraufhin protestierend aufächzt.
"Hör zu. Wir gehen jetzt da raus und du sagst, wir hätten uns geeinigt. Wir bekommen was zu futtern - ich habe nämlich echt Hunger - und dann, meinetwegen, denk dir irgendeine Bestrafung für Minho aus, damit die Cranks zufrieden sind. Irgendetwas, dass sie beschäftigt."
Der Einfall kommt mir noch im reden. Es mag ja grausam klingen, aber was wäre, wenn man den Cranks einen Folterabend versprechen würde? Damit sie irgendetwas aufbauen können? So sinkt das Risiko, dass sie die Gänge sprengen und Thomas und Brenda von der Gruppe abgeschottet werden.
"Ansonsten sprengen sie nähmlich den Bunker. Danach bringen Brenda und du uns zum Sicheren Hafen. Basta."
Ich fand das echt gut, was ich so rede. Einen Moment lang bleibt Jorges Miene ausdruckslos und schon befürchte ich, er spielt weiter sein Ich-bin-ein-Crank-Spiel, doch dann glätten sich seine Züge komplett und er beugt sich nach vorne.
"Okay. Das ist gut."
Ich lächle zufrieden - Mission erfolgreich abgeschlossen - und wir schweigen uns noch gegenseitig an, bis die zehn Minuten um sind und ich all meine Konzentration brauche, um ganz verzweifelt zu wirken. Immerhin wird Minho ja "bestraft", da muss ich Pessimismus an den Tag legen. Als Stütze lege ich mir eine Hand vor den Mund und blicke konsequent auf den Boden, so sieht wenigstens keiner das leise Grinsen, dass sich auf meine Lippen stielt, als wir den Raum betreten, in dem schlagartig jedes Gespräch verstummt. Es ist fies und gemein von mir, mich so auf Jorges Rede zu freuen, aber irgendwie doch lustig.
Ich wage es den Blick kurz hochschweifen zu lassen und sehe in allerlei angespannter Gesichter. Minho mustert mich kurz, dann fixiert er wieder den Spanier.
"Ich und der Papagei hier haben uns geeinigt."
sagt dieser laut und die Cranks hecheln erwartungsvoll wie Hunde, lechtzend nach Blut und Leid. Ekelerregend.
Papagei? denke ich bei mir, und nun bin ich kurz davor zu kichern. Wenn er nur wüsste, was das für ein Kompliment für mich ist.
"Als aller erstes geben wir den Kids was zum beissen. Am besten die Bohnen mit Schweinebauch, die kann ich so und so nicht mehe sehen. Wenn sie bei Kräften sind, können wir sie ja für unsere Zwecke einsetzen."
Jorge lächelt in die Runde und ernet von der einen Seite zustimmende Rufe, von der anderen nur schockierte Blicke. Ich vermeide jeglichen Blickkontakt, gebe den Jungs auch keine Zeichen. Ich enthalte mich einfach völlig meiner Stimme und lasse den Älteren machen.
"Aber wie ihr wisst, lässt Jorge sich nichts gefallen, wie eine Prügelei. Deshalb gibt es morgen Abend eine schöne Auspeitschung!"
Diese Heiterkeit in seiner Stimme ist grandios. Selbst ich als Wissende könnte von seiner Rolle überzeugt werden, so gut spielt er sie.
Die Lichter murmeln und wechseln entsetzte Blicke. Minho spannt die Kiefer an und will aufspringen, doch ein Crank hält ihm die Waffe entgegen und so lässt er sich grummelnd wieder auf den Hintern fallen. Deutlich spüre ich die vielen Augen der Jungs auf mir, die alle sagen: Warum hast du es so weit kommen lassen? Ich zwinge mich für eine schuldbewusste Miene und halte den Kopf weiterhin gesenkt.
"Nun denn. Brenda und ich werden sie einmal versorgen, währenddessen könnt ihr das Spektakel vorbereiten, vergesst die Fesseln nicht, den Pfahl, die Rute..."
Mit jedem Wort werden die Augen der Cranks größer und gieriger und sie nicken heftig. Wie ich gehofft habe, macht keiner auf die geringe Anzahl an Begleitern aufmerksam, alle unterhalten sich bereits tuschelnd und diskutieren über die ach so begehrte Show. Mir kommt das Kotzen bei dem Gedanken, dass sich einst normale Menschen so dermaßen auf eine Folterung freuen können, verscheuche den Gedanken aber schnell wieder. Das würde mich nur depressiv machen, mit dem Hintergedanken, dass ich auch mal so enden werde.
Die Erkenntnis trifft mich wie ein Schlag in die Magengrube und nun ist die Verzweiflung nicht einmal gespielt, die ich als Grimasse nach außen dringen lasse.
Ich bin wahrscheinlich nicht immun. Das ist nur diese eine, spezielle Generation, und davon auch nicht alle. Ich bin es nicht. Ich werde so und so sterben, egal, wie ich hier nun weiterarbeite.
Und zum ersten, zum allerersten Mal kommt mir der Gedanke:
Hat es überhaupt einen Sinn?
Einen Sinn, hier zu riskieren und zu opfern, wo es doch so oder so aufs gleiche hinausläuft?
Dass ich sterbe?
Hallo.
Tschuss.
:P
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