[22] Misstrauen
Thomas ist derjenige, der als erstes wieder seine Sprache wiederfindet.
"Alina? Was tust du hier??"
Mein Blick wandert langsam von den Trümmern des Roboters hinauf zu dem verwirren Gesicht des Jungen, der mich mehr überrascht als wütend mustert. Schon setze ich an, um ihm eine Erklärung zu liefern, da werde ich von einem lauten Zwischenruf abgewürgt.
"Was ist denn hier passiert?!"
schallt Minhos aggressiver Ton zwischen den engen Gassenmauern heran, und kurze Zeit später ringen sich er, Brenda und Jorge um den entführten Freund und bombadieren ihn mit Fragen. Davei werde ich so eiskalt ignoriert und abgegrenzt, dass ich Thomas fast um den Hals gesprungen wäre, als er die anderen zu Seite drängt und ein paar Schritte auf mich zu kommt.
"Alina, nochmal: Was tust du hier?"
fragt er mich erneut, ohne die empörten Knurrer seiner Freunde zu beachten. Ohne jegliches Misstrauen und Wut sieht er mir ins Gesicht, die Augen dabei so unschuldig und ehrlich, als erwarte er bereits, dass eine logische Erklärung für meine angebliche Zugehörigkeit zu ANGST folgen wird. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass Thomas wahrscheinlich seit der Kontrollübernahme am eigenen Leib - man erinnere ich an die Buchstelle, wo ANGST ihn fast dazu gebracht hätte, den Arzt zu töten, der ihnen die Implantate entfernen sollte - so und so schon 1 und 1 zusammengerechnet hat. Also tue ich ihm den Gefallen und spreche es laut aus:
"ANGST hat mich kontrolliert, damals, in dieser Halle. Du hast selbst gesehen, Thomas, wie machtlos man dann ist. Man hat überhaupt keine Chance. Ich stehe nicht auf deren Seite, und werde es auch nie tun! Glaubt mir, ich wollte und will euch nur helfen, das hier zu überstehen, gerade jetzt! Im letzten Abschnitt der Geschichte!"
Zum ersten Mal bin ich mir sicher, dass ich eine wichtige Ansprache nicht verkackt habe. Sowohl bei Referaten als auch hier bei den Lichtern war dies immer der Fall, doch in diesen wenigen Sätzen habe ich sowohl A: Gezeigt, dass ich über die Implantatentfernung Bescheid weiß, somit also wieder auf mein Buchwissen hingewiesen, und B: eine äußerst logische Erklärung für meinen "Seitenwechsel" gebracht.
Thomas scheint sofort und auf der Stelle überzeugt von meiner Story und nickt eifrig, seine Mundwinkel zucken sichtbar himmelwärts.
"Das hatte ich vermutet"
sagt er halblaut, und bestätigt somit mein Bauchgefühl. Zu meiner Überraschung scheinen auch Brenda und Jorge ein Licht aufzugehen. Jorges harter Blick erweicht und seine angespannten Züge glätten sich.
"Das traue ich ANGST durchaus zu. Dennoch bin ich mir nicht ganz sicher, ob es die reine Wahrheit ist."
Brenda scheint sich diesen Worten anzunehmen, sie nickt zustimmen, während Minho... Minho starrt mich weiterhin düster an, als wolle er mich jeden Moment abschlachten. Was hätte ich von solch einem Temperament auch erwarten sollen? Natürlich erlaubt sein Ego nicht, einfach nachzugeben. Er wird mich wahrscheinlich so lange hassen, bis ich glasklare Beweise auf den Tisch knalle.
Diesen Gedanken beseite schiebend, versuche ich mich auch Jorges Äußerungen zu konzentrieren. Sie klingen nicht vorwurfsvoll, eher sachlich wie die eines Taktikers, und erscheinen mir in ihrer Situation auch logisch. Verzweifelt durchkämme ich mein Gedächtnis nach Erinnerungen, die mir helfen könnten, meine Unschuld zu beweisen, als ganz hinten im verstaubten Unterstübchen mir plötzlich ejn Knopf aufgeht und mir ein gezischtes "Shit!" entfährt.
"Was?"
fragen alle mehr reflexartig, und ich schüttel wild den Kopf.
"Wir müssen zu eurem Berk zurück, bevor sie Newt holen! Sie wollen ihn zu diesem Crankpalast bringen!"
Erst nach kurzer Einwirkzeit scheint meine Warnung durchgesickert zu sein, da Thomas und Minho leicht erschrockene, aber ratlose Blicke wechseln - klar, sie haben keine Ahnung, was ein Crankpalast ist - und Brenda und Jorge sich die Haare raufen. Doch anstatt dass der Älteste zum Aufbruch drängt, bleibt er wie angewurzelt stehen und mustert mich kritisch.
Er denkt vielleicht, das ist eine Falle.
kommt es mir, doch bevor ich meine Schuld erneut anfechten kann, dreht er sich weg und zieht die Jugendlichen - ohne mir natürlich - an sich heran.
"Wir müssen so und so zurück, Leute. Wir suchen uns am besten ein Taxi und fahren zurück zum Hafen, zum gehen ist es zu weit. Und sie"
er sieht über die Schulter hinweg zu mir, als ob ich keine Ahnung, hätte, was sie beredeten,
"nehmen wir vorerst mit."
"Ihr wisst schon, dass ich jedes Wort verstehe? So dumm bin ich nun auch wieder nicht!"
Trotz der eigentlich Frechheit bin ich nicht böse, sondern einfach nur ungeduldig. Vielleicht lässt sich Newts Abführung noch verhindern...
"Nagut. Gehen wir."
Brenda klatscht laut in die Hände, um dem ganzen einen Schlussstrich zu verpassen, und die Truppe setzt sich in geschlossener Formation in Bewegung. Mir bleibt nichts anderes übrig, als wie der letzte Loser hinterherzulaufen, wohl wissend, dass die Chancen auf ein Taxi extremst schlecht stehen. Immerhin haben sie im Buch auch keines mehr gefunden.
Und wir hätten auch keine Fahrgelegenheit gefunden, wenn ich nicht als Multi-Kultur-Braut meine Insider-Kontakte ausgepackt hätte. Zwar sehen wir keine Fahrzeuge auf der Straße, dafür aber ein paar Menschen; darunter ein guter alter Freund von mir, den ich überall errochen hätte.
"CARTER! CARTER BLEIBEN SIE STEHEN!!"
Der Alte dreht sich verwundert zu mir um, doch dann scheint ihm ein Licht aufzugehen und er grinst mich zahnlos an. Mit einem Blick hinter mich bemerkt er:
"Du hast ja deine Freunde wiedergefunden, da bin ich aber froh!"
Ich wechsle einen kurzen Blick nach hinten, wobei allen nur ein Fragezeichen über ihren Köpfen schwebt, dann wende ich mich wieder Carter zu. Der Typ scheint mich definitiv zu mögen - warum auch immer, also wieso nicht ein wenig ausnutzen...
"Es ist schrecklich! Wir suchen noch einen Freund, der aber nun am anderen Ende der Stadt ist! Wer weiß was ihm passiert, wenn er ganz alleine ohne Zuflucht hier herumrennt? Bei Nacht?"
Meine Stimme nimmt einen überdramatischen Jammerton an, was irgendeiner Person hinter mir ein gespieltes Husten entlockt. Doch ich lasse mich davon nicht aus der Rolle bringen und spiele weiter meinen Part.
"Er ist geistig nicht ganz komplett, wissen Sie? Ich mache mir wahnsinnige Sorgen! Und es ist noch so weit bis zum Tor!"
Immerhin war das nicht gelogen. Newt ist wirklich psychisch angeschlagen; aber dass es sich um den Brand handelt, muss ja nicht unbedingt erwähnt werden.
Carters unwillige Grimasse glättet sich immer mehr, fast habe ich seine alte Schale gebrochen. Der Arme muss ziemlich einsam sein, um dieser Heuchlerei einer fast Fremden zu verfallen.
"Er ist wirklich ein guter Freund"
betone ich noch einmal, und Carter beginnt nachdenklich zu kauen. Verzweifelt suche ich nach einer Steigerung; und stocke promt. Wenn ich das laut ausspreche, wird Minho mich endgültig hassen. Doch ich tue es für Newt; für einen guten Freund.
"Wissen sie... er ist mein Freund."
schluchze ich und drücke so fest ich kann auf die Tränendrüse.
Ich kann bis hierher Minhos Kiefer knacken hören, was mir eine unangenehme Gänsehaut bereitet.
Doch Carter schluckt es; seine bärtigen Lippen verziehen sich zu einem Lächeln und er nickt beruhigend.
"Na wenn das so ist, bringe ich euch natürlich dort hin!"
Innerhalb kürzester Zeit waren wir beim Tor; außer Carter und mir sprach niemand, was auch verständlich war, denn der Alte quetschte so viel aus mir heraus, dass ich bald die wirresten Fantasiegeschichten erzählte, damit er einfach nur seine Klappe hielt.
Schwierigkeiten gab es erst bei der Sicherheitskontrolle. Erstens hatte ich keinen Pass; damit fing die Sache schon mal an.
Zweitens habe ich doch auch den Brand; wie also sollte ich da durch? Mir lässt aber keiner Zeit, dies alles zu äußern, als alle schon durch die Sicherheitschecks laufen, als wäre es Routine. Einer nach dem anderen läuft durch den Detektor, während ich verzweifelt versuche, unauffällig Aufmerksamkeit zu erlangen, bis auch der letzte - Minho - hineinsteigt. Kurz entsteht ein Blickkontakt zwischen uns beiden, und ich meine, Schadenfreude in seinen Augen aufblitzen zu sehen. Dann schließt sich die Tür; und weg ist er. Mir bleibt das Herz stehen.
Hallo? Was soll das? Wollen die mich einfach hier lassen? Nein, Moment... was ist, wenn sie das wirklich wollen? Wenn das ihr Plan war, mich hier abzuhängen? Der Gedanke an solch eine Hinterhältigkeit frisst mir ein Loch in die Brust wie ätzende Säure.
Aber nicht mit mir.
Nicht jetzt, wo ich Newt so nahe bin.
"Entschuldigung? Hört mich jemand?" Frage ich ins Nichts. Kurz darauf kommt auch schon eine Frauenstimme als Antwort:
"Ja, Miss. Sie müssen ihre Passdaten eingeben und dann die Sicherheitschecks durchqueren."
Die Frau klingt genervt und müde. Es scheint der letzte Part ihrer Schicht zu sein, dementsprechend motiviert klingt sie.
Gut für mich.
"Hören Sie... das Problem ist, ich habe keinen Pass. Ich hatte einen, wie ich herkam - natürlich - nur ist er mir abhanden gekommen."
Die Wachenfrau setzt zum reden an, doch ich quasel erbarmungslos weiter, bevor sie sich noch aufregen kann.
"Aber es wäre trotzdem sehr nett, wenn Sie mich durchlassen würden. Wissen Sie, ich habe nicht vor, hierher zurückzukehren, also ist es doch egal, was mir mir passiert? Wichtig ist doch nur, dass kein Virus hinein kommt!"
Ein genervtes Knurren ertönt aus den nicht sichtbaren Lautsprechern.
"So etwas ist eine Frechheit. Allein die Frage ist eine Frechheit. Ich sollte Sie dafür verwarnen."
Mein Mut sinkt mir einen Moment lang bis zu den Zehenspitzen; aber nur einen Moment.
"Aber leider haben Sie recht. Und bevor wir einen Crank mehr im Palast haben: Bitte, gehen Sie! Und kommen Sie nie wieder!"
Hatte ich auch nicht vor
denke ich bei mir, und laufe wie vom Teufel gejagt durch die Kabine, deren Türen sich gerade beidseitig geöffnet haben.
Wie das, was gerade passiert ist, möglich war, weiß ich nicht; aber es verstärkt meine innere Überzeugung, dass das ganze hier ebenfalls nur eine weitere Story ist, die gut enden muss, umso mehr. Vielleicht habe ich deshalb immer überlebt; weil ich die neue Geschichte zu einem bestimmten Ziel bringen soll. Danach bin ih wahrscheinlich unwichtig; und ab da sollte ich spätestens aufpassen.
Die Gesichter von den anderen sind köstlich, als ich plötzlich hinter ihnen auftauche. Jorge zuckt so arg zusammen, dass er fast das Pad fallen gelassen hätte, mit dem er gerade den Berk entsperrt. Nun steigt doch etwas bittere Säure in mir hoch und ich verschränke die Arme vor der Brust.
"Damit habt ich nicht gerechnet, was?"
gifte ich sie an und tatsächlich verziehen sie etwas schuldbewusst die Gesichter.
"Wir haben nichts..."
setzt Brenda versuchshalber an, doch Thomas gibt sich sofort geschlagen.
"Tut uns leid. Das war wirklich fies."
Ich will schon etwas erwidern, da zischt es und die Luke des Berks senkt sich langsam zu Boden. Niemand bleibt mehr Zeit zum Reden; schon zische ich die Rampe hoch ins Innere des Fluggefährts, das dunkel und verlassen daliegt.
Dunkel und verlassen.
Shit.
Wir sind zu spät.
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