Kapitel 40
Als Liv auf den letzten Sprung zuritt, wusste sie bereits, dass es nicht reichen würde. Sie hatte alles aus Sham herausgetrieben, hatte überall abgekürzt, wo sie konnte und dennoch - es war nicht genug gewesen. Vier Zehntel langsamer als Vincent überquerte sie die Ziellinie.
Sham machte einen Buckler und schnaubte zufrieden. Er hatte alles gegeben, was er konnte. Ihn trug keine Schuld. Er hatte alle Karten ausgespielt, genau wie Liv.
Fröhlich klopfte Liv ihrem Pony bei verlassen des Parcours den Hals. Lisa ritt mit Dino an ihr vorbei und Liv wünschte ihr zum Abschluss viel Glück. Heute war ihr Tag. Lisa war so toll geritten und Dino war nur so geflogen. Ihr gebührte der Sieg heute. Sie hatte ihn sich mehr als verdient.
Peter sah allerdings nicht gerade begeistert aus, als Liv ihn erreichte.
"Wärst du besonnen geritten, würdest du jetzt auf dem gleichen Platz stehen", tadelte er und richtete seine Augen in den Parcours, um Lisas Ritt zu verfolgen.
Schnaubend schwang sich Liv aus dem Sattel. Ihr Vater und auch ihr Bruder gratulierten ihr zu dem Ritt. Sie hätte alles versucht, was sie konnte, meinte Thomas Langhoff und Moritz stimmte ihm zu.
"Du bist echt gut geritten"
"Nein", widersprach ihm Peter. "Gut wäre sie geritten, wenn sie sich und ihr Pferd nicht unnötig in brenzlige Situationen gebracht hätte"
Während Peter sprach, überwand Lisa in einem rasanten Tempo den ersten Sprung. Dino war wendig und vermögend. Er kannte Szenarien, wie diese nur zu gut. Für ihn war es ein Leichtes den Stechparcours zu überwinden.
"Diese enorm engen Wendungen, weißt du wie stark das auf die Gelenke geht?" Peter sah Moritz fragend an. "Man muss das Pferd nicht noch mehr strapazieren, als es beim Springen sowieso schon wird. Liv hätte ihn schonen sollen, es war unmöglich Vincents Zeit zu toppen. Der Junge besitzt ein doppelt so schnelles Pferd"
Zwei und drei klappten perfekt und Lisa lag gut in der Zeit. Sie konnte es schaffen. Bestimmt hatte Peter ihr nicht das selbe geraten, wie Liv. Dino war nicht Sham. Und Lisa war nicht Liv. Lisa hatte bestimmt auf Peters Ratschlag gehört. Er hatte ihr gesagt, dass sie Dino auf der Distanz zu vier laufen lassen konnte ohne Befürchtungen zu haben. Jedoch durfte sie ihn auf gar keinen Fall zu schnell in die Kombination lassen, sonst würde das ein böses Ende geben.
Und Lisa hielt sich an die Anweisungen. Vor der Kombination saß sie tief im Sattel ein, um Dino zurückzunehmen und sie meisterten sie perfekt.
"Genauso bist du einmal viel zu weit gekommen", meinte Peter wieder an Liv gewannt. "Sham hätte die Stange zwischen die Beine bekommen können und es hätte weiß Gott was passieren können. Ein dritter Platz in dieser Prüfung ist mehr, als wir alle uns unter diesem Turnierwochenende erhofft haben. Du solltest stolz darauf sein, wie weit du mit Sham gekommen bist"
Er machte eine kurze Pause und blickte zu Lisa, die auf den letzten Sprung zu ritt. Sie riskierte alles. Setzte alles auf eine Karte. Sie ließ Dino laufen. Liv öffnete den Mund, doch Peter kam ihr zuvor.
"Du darfst ihn nicht überfordern, wenn-"
Es krachte.
Erschrocken wandten sich alle Blicke dem Parcours zu. Liv hatte keine Ahnung, was passiert war, doch Dino war geradewegs in den Oxer gesprungen.
Dino überschlug sich und Lisa wurde in hohem Bogen aus dem Sattel geschleudert. Drei Meter von ihrem Pony entfernt landete sie unsanft im Gras. Das Publikum schrie auf. Peter hielt sich die Hand vor den Mund und Annie sich die Hände vor die Augen.
In Livs Ohren begann es zu rauschen. Alles um sie herum verschwamm. Sie traute sich nicht zu atmen.
Lisa war schnell wieder auf den Beinen. Doch Dino stand nicht wieder auf. Schwer atmend lag der Hengst am Boden in einem Trümmerhaufen bunter Stangen. Das Rauschen in Livs Ohren wurde zu einem hellen Pfeifen.
Ohne darüber nachzudenken drückte sie Peter Shams Zügel in die Hand. Die Menschen verschwanden. Das Stadion verschwand. Und die Sprünge. Alles verschwand um sie herum. Liv rannte, so schnell sie konnte. Wahrscheinlich noch schneller.
Ihre Lunge brannte und ihre Augen ebenso.
Lisa versuchte mittlerweile dem Schimmel auf die Beine zu helfen. Sanitäter standen um sie herum versammelt, konnten ihr aber auch nicht helfen. Dino ruderte mit den Beinen und legte die Ohren an. Liv konnte das Weiß in seinen Augen erkennen.
Sie drängte sich durch die Sanitäter hindurch und stürzte an Lisas Seite. Ihre Hände umfassten Dinos Kopf. Sie ahnte nichts Gutes.
"Dino", flüsterte Liv. "Dino"
Tränen sammelten sich in ihren Augen. Sie hatte das Gefühl, dass dies ein Abschied für immer sein könnte. Der Hengst verschwamm und mit ihm all die Furcht, die sich in diesen Sekunden in Liv zusammenbraute.
Erst jetzt bemerkte Liv den rötlichen schimmer unterhalb des Fesselgelenks des rechten Vorderbeins. Schlaff hing der Huf nach unten. Liv öffnete den Mund, wollte schreien, doch ihre Stimme versagte.
Tränen liefen über ihr Gesicht. Tropften auf ihre Hose, auf das Gras. Lisa zerrte immer noch an den Zügeln. Doch der Hengst stemmte sich bloß dagegen.
Liv legte ihrer verzweifelnden Freundin eine Hand auf die Schulter. Sie sah ihr in die verweinten Augen und schüttelte den Kopf. Lisa ließ von ihm ab und setzte sich neben Liv ins Gras.
"Er muss aufstehen", hauchte Lisa mit rauer Stimme. Liv wusste es und sie glaubte, dass Dino von allein aufstehen würde. Pferde waren Fluchttiere.
"Dino, mein kleiner Dino", flüsterte Liv. "Du darfst nicht aufgeben. Du bist ein Kämpfer, das weißt du doch. Du bist mein Kämpfer. Du darfst mich nicht verlassen. Ich möchte dich nicht verlieren" Liv zog die Nase nach oben. Sie schluchzte.
"Du bist doch das Pony, das nur einmal im Leben kommt. Du bist noch jung und kräftig und wunderschön. Du hast noch so viel vor dir. Du wirst noch so viele Turniere und Große Preise gewinnen. Das hätte dein Tag werden sollen. Du wärst eigentlich ganz oben auf dem Treppchen gewesen. Dino, bitte, hör nicht auf zu kämpfen. Ich weiß, dass du stark bist"
Plötzlich wurde der Hengst nervöser. Er schlug mit dem Kopf und ruderte schneller mit den Beinen. Lisa sprang auf, doch Liv blieb neben ihm. Als hätte er sie verstanden, versuchte er nun mit allen Kräften auf die Beine zu kommen.
Ein Krankenwagen kam näher.
Liv versuchte ihm auf zu helfen, doch sie war zu langsam.
Ein heftiger Ruck ging durch ihren Körper und auf einmal sah sie nur noch schwarz.
***
"Gehirnerschütterung"
"Der Hengst hat sie voll erwischt"
Ein Sanitäter leuchtete mit einer Taschenlampe in ihre Augen. Seine Hände waren kalt und das Licht schmerzte in ihren Augen. Sie blinzelte.
"Sie ist wach", hörte sie eine tiefe Stimme.
Livs Kopf dröhnte. Ein heftiges Pochen zog sich durch ihren gesamten Körper. Ihr Atem ging nur langsam und schwer.
"Bleib ruhig liegen, beweg dich nicht", meinte der Sanitäter, der ihre Augen malträtiert hatte mit ruhiger Stimme.
Liv hatte keine Ahnung, was passiert war. Alle Erinnerungen waren schwarz. Schwarz und ausgelöscht. Bis auf eines. Dino.
Dino.
Langsam richtete sich Liv auf. Ihre Glieder schmerzten und ihr Kopf tat so höllisch weh, dass es sich anfühlte, als würde er sofort in alle Einzelteile zerbarsten.
"Wo ist Dino?" Man verstand sie kaum. Ihre Kehle war trocken und ihre Stimmbänder gereizt. Sie räusperte sich.
"Wo ist Dino?" Ihre Stimme klang beinahe hysterisch. Sie saß in einem Krankenwagen. Die beiden großen Türen am hinteren Ende standen noch offen.
"Alles ist gut, wir werden dich jetzt ins Krankenhaus bringen", versuchte der Sanitäter sie zu beruhigen, doch Liv widersetzte sich.
"Nein" Sie sprang auf und begann zu laufen. Ihr Kopf drehte sich. Menschenmassen versperrten ihr den Weg. Hundert Gesichter und keines das, wonach sie suchte.
Hinter sich konnte Liv die Stimme der Sanitäter hören, die nach ihr riefen. Sie lief so schnell, wie ihr schmerzender Körper es zuließ. Und dann plötzlich sah sie ihn.
Dino stand ein wenig abseits hinter den Stallzelten. Sein Kopf war gesenkt und sein rechtes Vorderbein mit einem Verband gestützt. Lisa hatte ihren Kopf in seiner Mähne vergraben. Ein Mann unterhielt sich gerade mit Peter. Livs Vater und Herr Reutinger waren ebenfalls bei ihm.
"Wir brauchen das Einverständnis des Besitzers, damit wir ihn erlösen können", meinte der Fremde zu Peter.
"Lisa, wir sollten ihn nicht leiden lassen" Herr Reutinger hatte seine Hand auf die Schulter seiner Tochter gelegt. Diese aber ließ nicht von Dino ab.
Liv blieb abrupt stehen. Mit leeren Augen betrachtete sie das Szenario. Lisas Vater versuchte sie von Dino wegzubringen. Peter unterhielt sich mit Thomas Langhoff und dem Fremden, wahrscheinlich ein Tierarzt, bis Livs Trainer sie entdeckte.
Er kam auf sie zu und nahm sie vorsichtig in die Arme; sagte kein Wort.
Liv biss sich auf die Unterlippe.
"Wie ... wie schlimm ist es?", fragte sie mit zittriger Stimme, obwohl sie die Antwort längst kannte.
Peter sah ihr in die Augen.
"Wir können nichts mehr für ihn tun"
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