Kapitel 33
Gefährlich legte Sham die Ohren an. Er stieg auf die Hinterbeine und ignorierte den Schenkeldruck seiner Reiterin. Liv zog ihn zur Seite und begann zu schwitzen. Sie bohrte ihm den Sporn in den Bauch und ließ ihm etwas Zügel. Doch anstatt auf den Sprung zu ziehen, tänzelte der Dunkelfuchs mit schnickendem Kopf zur Seite.
"Komm schon du Esel" Liv klatschte ihm die Springgerte auf die Schulter und versuchte ihn mit energischem Schenkeldruck vorwärts zu treiben. Sham jedoch dachte erst gar nicht daran ihren Befehlen zu folgen. Er war ein das komplette Gegenteil von Jumper oder Waya, die Liv erst später reiten würde.
"Er ist stur, bockig und springt wie eine Ziege. Ich werde niemals eine Starterlaubnis in Fontainebleau bekommen", zeterte Liv genervt in Peters Richtung. Dieser hob bloß die Brauen. Dann kam er auf den störrischen Wallach zu. In dem Moment, in dem Peter nach den Zügeln griff, beruhigte er sich sofort.
"Er ist nicht bockig. Du musst ihn einfach nur richtig bedienen", erklärte Peter. "Wenn du ihm im Maul hängst, als würdest du seine Nase an die Brust ziehen wollen, wie soll er dann den Sprung sehen? Lass die Zügel länger und versuche in Zukunft jegliche Anfängerfehler zu unterlassen"
Er tätschelte dem Wallach die Kruppe. "Nochmal"
Innerlich verdrehte die Augen. Sollte sie etwa mit Fahrleinen reiten oder was? Sie schnalzte mit der Zunge und gab Sham die Galopphilfe. Der Esel reagierte allerdings nicht, auch nicht, als Liv mit der Gerte nachhalf. Stattdessen machte er eine hundertachtzig Grad Wendung und hätte Liv beinahe im Sand abgesetzt.
Peter seufzte. "Reite eine Volte. Er verarscht dich von vorne bis hinten"
Das war Liv mittlerweile auch realisiert. In den letzten Wochen hatte es so gut geklappt. Was war plötzlich los?
"Er hat größere Stimmungsschwankungen, als eine schwangere Frau" Liv griff die Zügel nach und versuchte erneut ihn anzugaloppieren. Diesmal vollführte Sham einen gewaltigen Bocksprung.
Als sich der Wallach nicht einmal mehr antraben ließ, reichte es Liv. Frustriert schwang sie sich aus dem Sattel und zog Sham mit einem Ruck im Maul mit sich. Dieser legte die Ohren an, folgte seiner Reiterin aber dennoch aus der Halle hinaus in den Nieselregen.
"Liv, komm sofort zurück", rief Peter ihr hinterher. "Du kannst doch jetzt nicht einfach aufhören ohne nicht einen einzigen Sprung gesprungen zu sein. Er wird es das nächste Mal wiedertun. Willst du wirklich wieder bei Null anfangen?"
Liv hörte nicht auf ihn. Sie blendete seine Stimme aus. Im Moment war ihr alles egal. Tränen der Wut und Enttäuschung bahnten sich in ihren Augen an. Wieso konnte es nicht wenigstens einmal gut laufen?
Vielleicht war es von vornherein eine schlechte Entscheidung gewesen Sham zu reiten. Er war kein Turnierpferd. Er war noch nicht einmal gut genug für den Schulbetrieb. Luna war die Einzige gewesen, die mit ihm zurecht gekommen war. Luna, die immer noch nicht mit Liv sprach.
Während sie aggressiv Shams Fell bürstete, hallten Schritte in der Stallgasse wieder. Stimmen folgten.
"Es freut mich, dass Sie sich dazu entschieden haben, ihn noch einmal auszuprobieren" Herr Reutinger.
Eine weitere Männerstimme erklang.
"Eigentlich hatten wir noch ein weiteres Pferd auf den Zettel gehabt, doch das hat gar nicht gepasst"
Und eine Dritte. Lisa.
"Ich finde Tim kommt super mit ihm klar"
Tim. Livs Wanen begannen zu glühen. Dann ging sie in die Hocke und kauerte sich unter den Futtertrog. Auf gar keinen Fall wollte sie jetzt gesehen werden. Vor allem nicht von Tim. Sie musste alles in Ruhe besprechen. Allein. Das schlechte Gewissen musste endlich aus der Welt geschafft werden.
"Ist Liv auch da?", fragte eine vierte Stimme nun. Natürlich Tim. Liv schluckte. Wieso fragte er nach ihr?
"Ich glaube in der Halle", entgegnete Lisa wenig auskunftsfreudig. "Trainiert mit Sham"
"Der Dunkelfuchs?"
Die Schritte wurden lauter und Liv hatte die böse Befürchtung, das jemand auf Shams Box zukam. Jemand war natürlich Tim.
"Komisch", bemerkte Lisa. "Eigentlich hat sie noch bis halb Unterricht bei Peter. Vielleicht haben sie ja früher aufgehört" Sie schnaubte. "Hätte ich das gewusst, hätte ich schon früher mit dem Satteln begonnen"
"Ein sehr tolles Pferd", meinte Tim ohne Lisa eine Antwort zu geben. Liv hielt den Atem an, als Sham seinen Kopf auf die Stallgasse streckte. Theoretisch war es unmöglich sie in diesem Winkel zu sehen. Aber was war schon unmöglich.
Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, wie Tim über Shams Nase strich. Der Esel hatte gerade nicht mal eine Streicheleinheit verdient. Vor Tim zeigte er sich natürlich von seiner besten Seite.
Liv kochte vor Wut.
"Liv scheint eine ziemlich enge Bindung zu ihm zu haben, nicht war?", fragte Tim wahrscheinlich an Lisa gewandt. Die Antwort erklang nicht sofort.
"Na ja, nicht das ich wüsste. Ich glaube sie reitet ihn erst seit ein paar Monaten"
Ein leises Lachen erklang. Irgendwie ein schönes Lachen.
"Das hat doch gar nichts damit zu tun. Ein Pferd kann auch nach drei Jahren noch kein Vertrauen in den Reiter haben. Aber Sham scheint Liv blind zu vertrauen. Er kämpft jede einzelne Sekunde. Er kämpft für sie"
Wie Bitte?
Liv riss die Augen auf. Sie musste sich die Hand vor den Mund halten, um nicht sofort laut loszulachen. Das konnte er doch nicht wirklich ernst meinen. Sie war sich sicher, dass Sham viel tat. Aber für sie kämpfen? Nein, er kämpfte gegen sie.
"Tut das nicht irgendwie jedes Pferd für seinen Reiter?", fragte Lisa ein wenig genervt. Sie schien es zu stören, wie Tim über Sham und Liv sprach. Was war ihr denn für eine Laus über die Leber gelaufen? Normalerweise würde sie demjenigen, der Gutes über Liv erzählte, bloß zustimmen.
Die restliche Zeit, die sie in dem Stalltrakt verbrachten, kam Liv wie eine Ewigkeit vor. In einem Moment, in dem alle Anwesenden auf den Fuchswallach für Tim konzentriert waren, huschte Liv mit Putzkasten schließlich aus dem Stall, um Waya für die nächste Trainingseinheit fertigzumachen.
Eine Woche stand die kleine Stute nun schon auf der Anlage von Reutingers und Liv war noch immer so begeistert von ihr, wie am Anfang. Die braune Schönheit verfügte über riesiges Vermögen und arbeitete voller Begeisterung mit Liv. Nicht gegen sie.
"Hallo, du Süße", begrüßte Liv Waya, die direkt neben Indiana, Lisas Stute, stand. Sie beschnupperte Liv mit ihren weichen Nüstern und Liv strich ihr über den Kopf. Einfach ein traumhaftes Pferd.
Schnell war sie gesattelt und Liv warf eine Abschwitzdecke über ihre Kruppe, dass der Sattel auf dem Weg zur Halle nicht nass wurde. Kurz davor gurtete sie schließlich noch einmal nach und schwang sich in den Sattel. Die Decke hielt sie in der einen Hand, während Liv die Stute mit der anderen zum Hallentor dirigierte.
Ausgerechnet Tim probierte gerade den Fuchswallach aus. Hätten sie nicht in die kleine Halle gehen können? Als Liv die Abschwitzdecke auf der Bande platzierte und "Tor frei" rief, fielen prompt alle Blicke auf sie. Abgesehen von dem von Lisa, die neben Moritz gegen die Bande lehnte. Ihre Augen hafteten noch immer auf Tim, der den Wallach durch die ganze Bahn traben ließ.
Als Peter, der gerade einen Sprung hochgezogen hatte, Liv entdeckte, musste er grinsen.
"Hat sich die Prinzessin wieder beruhigt?" Er hob die Brauen.
Tim warf ihr beim Vorbeireiten einen belustigten Blick zu, der sie aus unerfindlichen Gründen puterrot anlaufen ließ.
Mit gesengtem Kopf ließ sie Waya Schritt laufen. Was machte eigentlich Moritz hier? Hatte er heute nicht bis um vier Schule?
Waya lief so toll, wie eh und je und Livs Laune wurde langsam besser. Allerdings hielt dies nicht lange an, denn Herr Reutinger kam auf die tolle Idee, dass Tim doch die Stunde mit Liv mitreiten könnte.
Da sich Liv nun kein bisschen mehr auf Peters Unterricht konzentrieren konnte, durchlebte sie die Stunde mehr schlecht als recht. Selbst eine Aussage, die Herr Reutinger tätigte, konnte sie nicht begeistern.
"Die Zukunft Deutschland, vereint in meiner Reithalle"
Liv warf Tim einen skeptischen Blick zu. Seine Augen ruhten auf ihr und ihre Wangen färbten sich rosa.
Es war unerträglich Tim in die Augen zu sehen und Liv hatte nicht einmal eine Ahnung, wieso. Eigentlich müsste sie Vincent gegenüber das schlechte Gewissen haben, nicht ihm.
Später beeilte sich Liv mit dem Absatteln von Waya, um Tim im Stall abzufangen. Zum Glück war er allein.
"Hey", meinte sie vorsichtig, um ihn nicht zu erschrecken. Leicht verwirrt schaute er hinter dem muskulösen Fuchs hervor. Seine Wangen waren etwas gerötet, doch er lächelte.
"Hey, Liv"
Liv erwiderte das Lächeln mit zusammengepressten Lippen. Sie hatte überhaupt keine Ahnung, wie sie anfangen sollte. Was sollte sie sagen? Oder besser gesagt: Wie sollte sie es sagen? Sie wollte ihn weder verletzen noch verärgern. Sie hatte Angst davor sich zu rechtfertigen. Wieso hatte sie sich auch in so eine prekäre Situation bringen müssen?
"Tim ich-"
"Ich muss-"
Die beiden sahen sich an.
"Du zu erst", meinte Tim und schloss die Boxentür hinter sich. Liv erkannte wie seine Hände leicht zitterten. Er versteckte sie in den Hosentaschen seiner Reithose.
Tief atmete Liv ein. Und wieder aus.
"Also ... ähm. Der Kuss neulich" Sie blickte auf den Fuchs, der an dem Heunetz herumspielte. "Ich - ähm - ich hab ... es war ein Fehler. Ich hab keine Ahnung, was mit mir los war. Aber ... na ja, ich glaube es war nicht das, was ich wirklich wollte" Wieder wich sie seinem Blick aus.
Tim wirkte angespannt. Er kaute nervös auf seiner Unterlippe und knackte die Fingerknöchel. Nun sah er ihr direkt in die Augen. Er wirkte irgendwie ... verletzt. Gebrochen.
"Liv, ich muss dir auch was sagen" Er machte eine kurze Pause. Blickte zu Boden. Hob die Brauen und presste die Lippen aufeinander.
"Ich ... Ich" Seine Wangen färbten sich noch röter, als sie ohnehin schon waren. "Liv, ich ... ich hab mich glaub ich in dich in verliebt" Er blickte auf die Reitstiefel, dann zu der Boxentür. "Schon ... schon total lange. Ich fand dich irgendwie schon immer toll. Aber ... aber"
Er hielt sich die Hand vor den Mund. Seine Augen waren glasig.
Liv hatte keine Ahnung, was sie sagen sollte. Sie stand wie angewurzelt da.
"Aber ... na ja. Ich wusste, dass ... ach ... wie auch immer. Ist ja auch egal" Hektisch blickte er auf seine Armbanduhr. Starrte zu Sham ein paar Boxen weiter. "Er ist ein tolles Pferd", meinte er mit rauer Stimme. "Mach was draus"
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