19
„Ich möchte wirklich nichts Großes machen", wiederhole ich zum zehnten Mal, während ich mich selbst im Spiegel anschaue und den blauen Fleck direkt über meiner Augenbraue überschminke. Über das Handy kann ich meine beste Freundin seufzen hören, doch das ist mir eigentlich egal. Es ist mein Geburtstag und nicht ihrer. Mir ist absolut nicht nach feiern zu mute. Viel lieber würde ich mich in meinem Bett verkriechen.
„July komm schon, dein Bruder feiert auch und außerdem denke ich, du könntest das wiedermal vertragen", versucht sie mich zu überzeugen, doch ich schüttle nur den Kopf, obwohl sie das nicht sehen kann. Mein Augenlid ist geschwollen, doch egal wie oft ich versucht habe es zu kühlen, die Schwellung wollte einfach nicht zurückgehen. Ich kann nur hoffen, dass es niemandem auffällt, wenn ich meine Haare offen trage.
„Können wir ein anderes Mal darüber reden?", bitte ich. „Ein anderes Mal? Es sind nur noch drei Tage, Jules", erinnert sie mich und ich kann ihren mahnenden Blick quasi schon vor mir sehen, was mir ein kleines Lächeln abringt. Als es an der Tür klopft, öffne ich hastig meine Haare und kämme sie nach vorne.
„Ich muss auflegen, wir hören uns später", noch bevor Miri etwas sagen kann, drücke ich den roten Hörer. Drei Tage bis zu meinem Geburtstag, das klingt so absurd.
„Die Tür ist offen", lasse ich die Person wissen, die geklopft hat. Als die Tür aufgeht, steht Grey vor mir und sieht mich nachdenklich an. Seine Stirn ist in Falten gelegt, überlegend beißt er auf seinem Lippenpiercing rum.
„Was gibt's?" Fragend sehe ich zu ihm rüber, während ich Labello auftrage. Ich muss nur noch einmal Arbeiten, dann habe ich eine ganze Woche frei. Eigentlich hatte ich mich auf meinen Urlaub gefreut aber jetzt würde ich am liebsten durchgehend arbeiten um nicht nachdenken zu müssen.
Sein Blick fällt auf meinen Arm. Ich folge seinem Blick und kann förmlich spüren, wie mir alle Farbe aus dem Gesicht weicht. Schnell ziehe ich meinen Morgenmantel über, der Dylans Fingerabdrücke vom Vorabend überdeckt. Ich war so konzentriert auf mein Gesicht, dass ich das komplett vergessen hatte.
„War er das?" Will er wissen. Blanke Wut breitet sich auf Greys Gesicht aus. Ich hasse diesen Blick an ihm, denn ich weiß, dass sich etwas in Greys Kopf verändert hat. Als hätte man einen Knopf gedrückt. „Nein, das verstehst du falsch, ich.." „July, war er das?" Wutentbrannt sieht er mich an. Das Gefühl mich übergeben zu müssen breitet sich in mir aus.
Wie gerufen klingelt es an der Tür. Ich brauche nicht nachzusehen, wer das ist, denn das Dylan mich abholt war schon lange abgemacht und mir war auch bewusst, dass unser Streit daran nichts ändern würde.
Bevor ich reagieren kann, stürmt mein Bruder die Treppen nach unten und reißt die Tür auf. Noch bevor Dylan irgendetwas sagen kann, holt Grey aus und lässt seine Faust in das Gesicht meines Freundes fallen. Geschockt stehe ich am oberen Ende der Treppe. Es dauert ein paar Sekunden, bis ich mich wieder bewegen kann.
„Grey", schreie ich, doch da holt er schon zum nächsten Schlag aus, während Dylan den ersten noch zu verarbeiten scheint. Gleichzeitig mit meinem Vater komme ich auf der verschneiten Veranda an. Lautstark zieht er die beiden auseinander. Auch wenn ich mir wünschte, er würde von der ganzen Sache nichts mitbekommen, bin ich froh, dass er hier ist, denn ich würde die beiden nicht auseinander bekommen.
„Fass sie nie wieder an", knurrt Grey wütend. Seine Lippe blutet, doch im Gegensatz zu Dylan hat Grey kaum etwas abbekommen. Mein Freund hingegen liegt mit blutender Nase im Schnee. „Du Mistkerl hast jeden Schlag verdient, was bist du nur für ein Weichei." Papa schaut perplex zu mir und dann wieder zu seinem Sohn, der vollkommen außer Kontrolle zu sein scheint.
Auch Mama und James stehen in der Tür und sehen verwirrt hin und her. „Was stimmt mit dir nicht", fauche ich in Greys Richtung. Überrascht und mit großen Augen sieht er mich an, während ich Dylan helfe aufzustehen. „Er hat nichts getan, zumindest nicht was du denkst. Du kannst nicht einfach auf andere Leute losgehen!"
Ein kleiner Teil in mir fühlt sich schlecht, weil ich Grey anlüge, wo er mich doch nur beschützen wollte. Aber ich will mir nicht ausmalen was passieren würde, wenn ich jetzt die Wahrheit sagen würde. Deshalb ist es besser leise zu sein und nicht weiter aufzufallen.
Grey reist sich wutentbrannt von Papa los, der immer noch geschockt und verwirrt aussieht. Mit der Hand wischt er sich Blut von der Lippe.
„Komm", murmle ich Dylan zu. „Was hast du ihm erzählt?" So leise, dass nur ich es hören kann, stellt er mir die Frage. Es kostet mich alles, was ich habe, jetzt ruhig zu bleiben und ihn nicht vollkommen den Verstand zu verlieren. „Nichts", antworte ich trocken und bringe ihn ins Haus. Als die Tür hinter uns ins Schloss fällt, sehe ich nur noch Grey der wütend auf seinem Motorrad wegfährt. Innerlich hoffe ich, dass ihm nichts passiert, jetzt wo er so wütend ist und vielleicht nicht aufpasst.
**
Ich sitze im Wartezimmer des Krankenhauses, während Dylan seine Nase untersuchen lässt. Er war schon beim Röntgen und hat jetzt ein Gespräch mit einem Arzt. Die ganze Zeit hat er nicht mit mir gesprochen, sondern stattdessen wütend in die andere Richtung geschaut.
Ich fühle mich miserabel. Wahrscheinlich bin ich der schlechteste Mensch der Welt. Nicht nur, dass sich Grey meinetwegen geprügelt hat, ich ihn und alle anderen ständig belüge und Dylan mich hasst, für etwas, dass ich nicht getan habe, wahrscheinlich sitze ich zu alle dem auch noch mit einem Vergewaltiger in einem Raum.
Letzte Nacht habe ich so lange darüber nachgedacht, dass mein Kopf angefangen hat zu schmerzen, was aber auch an der dicken Beule an meiner Stirn liegen kann. Wieso sollte er so etwas tun? Egal was er bis jetzt getan hat, das wäre so viel schlimmer, ich könnte mir nicht ausmalen, welche Konsequenzen das hätte. Auf der anderen kann ich ihm das nicht zutrauen. Ja, er hat vieles getan, dass Falsch war, aber so weit würde er nicht gehen.
Unsicher was ich wirklich denken soll, fahre ich mir durch die Haare, die noch feucht vom Schnee sind. Nachdem ich Dylan ins Haus gebracht habe, habe ich mich so schnell wie möglich umgezogen, einfach um ihn aus dem Haus zu bringen.
Seufzend starre ich auf die Neonanzeige mir gegenüber, auf der in großen, roten Buchstaben NOTAUFNAHME steht.
Das Verlangen einfach zu gehen überkommt mich. Nicht nur aus dem Krankenhaus, sondern aus der Stadt, diesem Land und vielleicht auch dem Planeten. Alles in mir will einfach noch weg, irgendwo hin wo ich niemandem mehr weh tun kann denn das scheint in letzter Zeit alles zu sein, was ich tue. Egal wohin ich gehe, ich hinterlasse nur Chaos und verletzte Menschen.
Die Tür zu Besprechungsraum sieben öffnet sich. Raus kommt Dylan mit etwas Watte in der Nase und einem Auge, dass sich bereits bläulich verfärbt. Schnell stehe ich von meinem Stuhl auf und vergesse den Gedanken daran,abzuhauen. Was für ein feiger Mensch wäre ich, wenn ich das tun würde?
Was hat der Arzt gesagt?", will ich wissen. Fragend sehe ich ihn an und reiche ihm seine Jacke, doch anstatt mit eine Antwort zu geben schweigt Dylan, nimmt seine Jacke entgegen und geht an mir vorbei. Bedröppelt wie ein ausgesetzter Hund stehe ich auf dem Fleck und schaue ihm hinterher. Nichts in mir will ihm hinterhergehen, aber ich weiß, dass ich das muss. Weil ich daran schuld bin das es ihm so geht.
Wir schweigen weiterhin. Als wir im Aufzug stehen, die langen Flure entlang laufen, bis zur Tiefgarage wo sein Auto steht. Für einen kurzen Moment zweifle ich daran, dass Dylan mich überhaupt wahrnimmt, denn als er die Tür zu der Tiefgarage öffnet, achtet er nicht darauf, dass ich noch hinter ihm stehe, sondern er lässt sie vor meiner Nase zufallen.
Erst als wir im Auto sitzen höre ich ihn tief ein und ausatmen. Einen Moment lang starrt er nur das Lenkrad an, seine Hand umklammert es ruhig.
„Es tut mir leid, was da passiert ist. Grey hat mich gar nicht erst zu Wort kommen lassen, sondern ist einfach losgestürmt. Ich...", meine Worte hallen viel zu laut im leisen Auto nach.
„Dein Bruder ist ein gewalttätiges Arschloch, Jules. Und wenn du mich fragst, solltest du dafür sorgen, dass du so weit weg von ihm kommst, wie es nur möglich ist." Ich bin unsicher, weil Dylan so ruhig spricht, wie ich es von ihm nicht gewohnt bin. Normalerweise würde er ausrasten, schreien und vermutlich auch um sich schlagen, doch das er genau das nicht tut, macht mir angst.
„Grey ist nicht gewalttätig", widerspreche ich. Grey ist einer der sanftesten und tollsten Menschen, den ich kenne. „Das sehe ich anders und wenn du willst, dass das zwischen uns funktioniert, dann musst du dich entscheiden."
Noch bevor er zu Ende gesprochen hat, sehe ich ihn mit großen Augen an. Das kann er doch nicht ernsthaft verlangen.
„Du erwartest das ich mich entscheide? Zwischen dir und meiner Familie?" Geschockt sehe ich ihn an. Nie im Leben würde ich mich gegen meine Familie entscheiden. Nicht mal für Dylan.
„Ich erwarte das du erwachsen und verantwortungsvoll handelst, Jules." Gleichgültigkeit liegt in seinen Augen und es ist dieser Moment, in dem ich zum ersten Mal realisiere, wie egal es ihm wäre, wenn ich diejenige mit der gebrochenen Nase gewesen wäre. Dass es ihm egal ist, dass er mich verletzt hat und das er damit wohl niemals aufhören würde.
„Tut mir leid, aber wenn du denkst, ich würde mich für dich entscheiden, dann liegst du falsch." Mit Tränen in den Augen sehe ich nach draußen und warte einen Moment, doch von ihm kommt nichts. Kein Wort verlässt seinen Mund, weshalb ich die Tür öffne und aussteige, nur um sie mit voller Wucht wieder zuzuwerfen. Niemals entscheide ich mich für ihn.
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