23 | Zwei Dinge
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Drei Worte. Wie können drei kleine Worte mich nur so aus der Bahn werfen? Ich habe nicht damit gerechnet, laut Will hat niemand damit gerechnet.
Sie ist tot.
Nach einer Operation am Bein löste sich ein Blutgerinnsel, wanderte zum Herzen und - das war's.
Den Flug nach London bekomme ich kaum mit. Wie benebelt starre ich die ganze Zeit aus dem Fenster auf die endlose Wolkenfront. Irgendjemand hat mir für die Beerdigung ein schwarzes Kleid mit kurzen Ärmeln rausgelegt. Vielleicht war es Ilona, vielleicht auch jemand anderes. Ich trage das Kleid. Ich trage auch den kleinen Hut mit einem dämlichen, schwarzen Schleier und schwarze Lackschuhe. Das ist mir alles egal.
Sie kann nicht einfach so weg sein.
LONDON, GROSSBRITANNIEN
Als ich am Flughafen ankomme, erwarte ich halb, das Will und Martha mich abholen kommen, aber da steht nur mein Cousin. Martha ist weit und breit nicht in Sicht. Da trifft es mich wieder.
Sie ist nicht da. Sie wird mich nie wieder in eine ihrer kräftigen Umarmungen ziehen, nie wieder Will herumkommandieren, mich nie wieder mit diesem Lächeln ansehen, dass ihre Lachfalten um die Augen hervortreten. Ich fühle mich hilflos, wie damals, als Mum gestorben ist - und jetzt auch noch Martha. Warum ist das alles nur so unfair?
In Marthas Haus - das nun nicht mehr ihres ist - warten schon viele, schwarzgekleidete Menschen. Auf dem Kaminsims steht eine schlichte Urne. Alles in mir ist leer. Sollte ich nicht traurig sein? Wer sind diese ganzen Leute bloß? Vielleicht weiß ich einfach nicht genug über Martha, vielleicht wusste ich das nie.
»Die Beisetzung ist erst in zwei Stunden«, flüstert Will mir zu. »Du hast noch etwas Zeit. Vielleicht willst du dich nochmal ... umsehen?«
Ich nicke wie in Trance. Aber das kann ich mir nicht antun. Hier sind zu viele Erinnerungen. Doch nach einer Weile bin ich es leid, nur auf dem Sofa mit dem hässlichen Blümchenmuster zu sitzen. Ich ertrage die Stimmung hier drin einfach nicht mehr.
Also gehe ich raus. Ich laufe die Straßen entlang, nehme die Welt um mich herum aber nur gedämpft war. Auf einmal fällt mir ein, woher ich dieses Gefühl der Leere noch kenne: von Lokis Gedankenbann. Ich stoße aus Versehen gegen jemanden.
»'Tschuldigung«, nuschele ich kaum hörbar und sehe kurz auf.
»Na, wenn das nicht Judy Stark ist«, sagt eines der Mädchen herablassend. Die vier tragen zwar keine Schuluniform, aber trotzdem weiß ich, wer sie sind. Und dieses Gesicht, das aussieht wie ein zermatschter Pfirsich, würde ich überall wiedererkennen. »Denkst wohl, du bist zu berühmt, um anderen Leuten Platz zu machen, hm?«
»Lass gut sein, Paige«, sagt ein anderes Mädchen leise. Ihre Augen huschen nervös zu mir.
Ich öffne überrascht den Mund. Ally hat sich zwar die Haare geschnitten, aber sie sind noch genauso feurig-rot wie damals, als ich sie das letzte Mal gesehen habe. Schuldgefühle kriechen in mir hoch und gesellen sich zu denen von Marthas Tod. Seit ich London verlassen habe, habe ich kaum einen Gedanken an mein altes Leben verschwendet. Oder an meine alten Freunde.
»Ist es also wahr? Bist du Tony Starks Tochter?«, fragt das mopsähnliche Mädchen hinter Paige neugierig.
»Klappe halten, Abigail«, schnauzt diese sie an. »Natürlich ist es Miss Ich-halte-mich-für-was-besseres.«
»Wow, ich bin beeindruckt, du kannst die Nachrichten verfolgen«, sage ich verbissen. Ich habe jetzt nicht die Nerven für eine Diskussion mit jemandem, den ich überhaupt nicht leiden kann. »Weißt du, Paige, wie wär's, wenn du einfach zur Seite gehst, damit wir beide getrennter Wege gehen können und du mich nie wiedersehen musst?«
»Sonst was?«, fragt sie angriffslustig.
»Sonst was? Hast du mir überhaupt zugehört, ich drohe dir nicht, ich biete dir hier 'ne ganz simple Lösung an!« Sie regt mich so auf. Kann sie nicht einmal kein komplettes Arschloch sein und mich einfach in Ruhe lassen?
»Dann hol doch deinen Daddy, vielleicht rettet der dich ja vor mir.«
So, jetzt reicht's. »Du bist keine Bedrohung. Nicht für mich, nicht für meinen Vater und erst recht nicht für den Iron Man.« Ich schubse sie beiseite und gehe den Weg zurück zu Marthas Haus. Jedenfalls ist das mein Plan.
»Pah, du bist nur berühmt, weil deine Mutter eine der Schlampen war, die mit Tony Stark geschlafen hat«, ruft Paige mir nach.
Abrupt bleibe ich stehen. Unvorstellbare Wut baut sich in mir auf. Ich balle meine Hände zu Fäusten und drehe mich wieder um. Paige steht immer noch auf dem Bürgersteig, mit einem fetten, gehässigen Grinsen. Wie gerne würde ich es ihr aus dem Gesicht schlagen. ›Sie ist unvorbereitet, Schwerpunkt auf dem linken Bein, ihre Körpermasse kann ich ausnutzen...‹ Einige Stunden Kampftheorie tauchen wieder in meinem Kopf auf. Aber bis auf ein paar Tritte gegen einen Boxsack habe ich quasi noch keine praktischen Erfahrungen. Mein Mundwinkel zuckt leicht nach oben. Paige auch nicht.
Als sie den Hass in meinen Augen erkennen kann, ist es schon zu spät. Blitzschnell landet meine Faust direkt auf ihrer Nase und mein Knie in ihrem Bauch. Die drei anderen Mädchen weichen erschrocken zurück.
»Niemand nennt meine Mutter so«, zische ich.
Paige hält sich die blutige Nase und keucht. Für einen kurzen Moment fühle ich mich gerächt und zufrieden. Doch dann sehe ich das Entsetzen in Allys Augen und mein triumphierendes Lächeln verschwindet.
Zurück im Haus sperre ich mich auf dem Klo ein. Ich atme ein, ich atme aus. Ein, aus. Ich starre auf meine Hände. Die Knöchel meiner rechten Hand sind rot angelaufen, langsam setzt auch der Schmerz ein. Ich habe Paige geschlagen. Noch vor einem Jahr hätte ich mich das niemals getraut. Ich habe eher Worte ausgeteilt als Schläge. Was ist nur mit mir passiert? Vielleicht ist es einfach nur die Trauer und diese Wut... Sie hat Mum beleidigt!
Ich sehe in den Spiegel, in mein eigenes, blasses Gesicht. Entschieden reiße ich mir den dämlichen Schleier vom Kopf.
♦
Beerdigungen sollten immer im Platzregen stattfinden, an einem einsamen Grab. Und nicht in der brütenden Hitze eines Sommertages. Der Himmel ist strahlend blau. Haben die da oben denn nicht mitbekommen, dass heute kein glücklicher Tag zum im-Freibad-liegen ist? An Mums Beerdigung kann ich mich nicht erinnern, ich weiß nicht mal, ob ich überhaupt anwesend war. Zu diesem Zeitpunkt war mir das wahrscheinlich einfach noch nicht so bewusst.
Alles geht schnell vorbei, jemand redet - ein Mann im dunklen Anzug, dann nochmal Will - die Urne wird in die kleine Parzelle gesetzt und eine Minute lang schweigen alle. Erst jetzt kommen mir die Tränen. Nach Wills Anruf habe ich nicht geweint, auch nicht im Flugzeug oder in Marthas altem Haus. Die Leere in mir wird plötzlich mit mehr Emotionen überschwemmt, als ich standhalten kann. Vom Weinen und der prallen Sonne bekomme ich Kopfschmerzen, ein dumpfes Pochen in meinen Schläfen.
Viele Menschen, die ich nicht kenne, schütteln mir die Hand und murmeln so etwas wie »Mein Beileid«. Ein paar von ihnen sehen mich ein wenig zu lang an.
Dann ist es vorbei. Die schwarzgekleideten Leute machen sich auf dem Weg zum Friedhofsausgang, eine Steinplatte wird auf das Grab gelegt und die Blumen darauf platziert.
Will berührt meinen Arm.
»Ich möchte noch kurz hierbleiben«, murmele ich.
Er nickt verständnisvoll und geht mit schleppenden Schritten davon. Einige Meter vom Grab entfernt wartet ein junger, blonder Mann auf ihn. Er umarmt Will lange, dann gehen sie Hand in Hand vom Friedhof. Wenigstens hat Will nun ein eigenes Leben, um das er sich kümmern kann.
Ich sollte irgendetwas tun. Mich ins trockene Gras fallen lassen, mich bei Martha für alles bedanken, ein letztes Mal mit ihr reden ... Einfach ... einfach nur...
Ich starre lange auf das Grab. Irgendwann legt jemand seine Hand auf meine Schulter. Ich drehe meinen Kopf ein Stück. Es ist Tony.
»Du bist doch gekommen«, sage ich mit kratziger Stimme.
»Na klar. Ich kann mein Küken doch nicht allein lassen.« Er zieht mich in eine feste Umarmung.
Was vorher nur Tränenbäche waren, verwandelt sich jetzt in einen Wasserfall.
»Es ist okay ... lass es einfach raus, genau.«
Ich schluchze ungehemmt in Tonys schwarze Anzugjacke, selbst, als keine Tränen mehr kommen, halte ich ihn fest umklammert. Die Gewissheit, dass zumindest er noch da ist, ist ein kleiner Lichtblick an diesem trostlosen Tag.
♦
Will hat zwar angeboten, dass wir in Marthas Haus übernachten könnten, aber allein der Gedanke daran ließ mich fast wieder in Tränen ausbrechen. Deshalb haben wir in einem Hotel übernachtet.
Tony klopft am Türrahmen. »Übermorgen ist eine wichtige Pressekonferenz von Stark Industries in L.A. Du musst nicht mitfliegen, wenn du nicht willst, und ich würde auch hierbleiben, dann klär ich das mit Pepper-«
»Ich komme mit«, sage ich bestimmt.
»Sicher?«
Ich nicke. »Ja.« Kaum zu glauben, aber London scheint für mich ein Ort geworden zu sein, der in mir so viel Abneigung auslöst, dass ich keinen Tag länger hier verbringen will. Und ganz besonders will ich jetzt nicht anfangen, in Verbitterung über Marthas Tod zu versinken.
Als wir durch die Stadt zum Flughafen fahren, wird mir bewusst, dass das vielleicht das letzte Mal sein könnte. Es gibt keinen Grund mehr für mich, hierher zurückzukommen. Will wird mit seinem Freund zusammenziehen und sein Studium fortsetzen, das hat er mir versichert.
Als ich noch kleiner war und wir ständig umgezogen sind, habe ich mich vor der Abreise immer von allem möglichen Dingen verabschiedet. Von Häusern, Straßenschildern, Parkanlagen, streunenden Katzen...
Aber heute nicht. Heute verabschiede ich mich nur von Martha.
STARK INDUSTRIES, LOS ANGELES
Die Pressekonferenz ist anscheinend wirklich was Großes. Sie findet im Konferenzsaal des Hauptgebäudes von Stark Industries in Los Angeles statt. Wir sind, um den Paparazzi zu entgehen, durch den Hintereingang ins Gebäude gelangt. Pepper hat mir zwar angeboten, dass ich mich in die erste Reihe setzen könnte, aber schon ein Blick durch die Tür hat mich davon abgeschreckt. Deswegen verfolge ich das Geschehen lieber per Liveübertragung aus einem Raum hinter dem Saal. Es müssen so um die fünfzig Journalisten anwesend sein, begleitet von Kameras und Mikrofonen. In den Trubel will ich mich lieber nicht reinstürzen.
Pepper stellt sich hinter ein Pult vor die Menge und redet über Jahresumsätze, neue Projekte und Geschäftspartner, zeigt Schaubilder und Diagramme. Das alles macht sie mit bewundernswerter Leichtigkeit und Selbstsicherheit. Sie ist auf jeden Fall die Richtige für den Job als CEO.
»Und nun, zum Abschluss«, sage Pepper schließlich, »noch ein paar Worte vom Namensgeber der Firma, Tony Stark.«
Alle Anwesenden klatschen. Tony kommt nach vorne geschlendert, sagt kurz etwas zu Pepper und nimmt dann ihren Platz hinter dem Pult ein. Der Applaus verebbt. Der Ablauf wurde bestimmt schon tausendmal besprochen: Tony stellt jetzt ein neues Förderprojekt für Schulen vor, und danach können noch Fragen gestellt werde.
Aber erstmal sagt er nichts.
Die Gesichtsausdrücke der Journalisten variieren von erwartungsvoll über verwirrt bis ungeduldig.
Tony stemmt sich mit beiden Händen auf das Pult. »Ich habe zwei Sachen zu sagen.«
Zwei? Geht es nicht nur um das Förderprojekt?
Während er weiterredet, entfernt er sich vom Pult. »Die Wahrheit ist ... nicht immer etwas Gutes. Aber sie ist kostbar. Ich musste vor ein paar Jahren auf die harte Tour erfahren, was meine eigene Firma eigentlich angestellt so hat, mit ihren Produkten, mit den Waffen. Davor möchte ich alle Beteiligten bewahren. Ich möchte Ihnen allen hier, heute eine Wahrheit präsentieren.«
Tony lässt seinen Blick über die Anwesenden schweifen und vergräbt seine Hände in den Hosentaschen.
»Ich kenne da ein Mädchen. Sie ist stur, furchtbar eigensinnig und trotzdem auf eine gewisse Art liebenswert. Aber so sind Teenager nunmal, hab ich mir sagen lassen. Wer von Ihnen hat Kinder? Sie? Ja? Dann wissen Sie bestimmt, dass es nicht einfach ist, als Eltern die richtigen Entscheidungen zu treffen.«
Er hält kurz inne.
»Nun, ich habe eine Entscheidung getroffen. Seit einiger Zeit schon versuche ich, Verantwortung zu übernehmen, was unglaublich schwer ist, das können Sie mir glauben. Ich entschied also, dieses Kind, dieses Mädchen, von dem ich spreche, so gut es ging vor der Öffentlichkeit zu - nicht zu verstecken - sondern zu beschützen, im Hintergrund zu halten.
Tja, wie sich herausstellte, habe ich die falsche Entscheidung getroffen. Als Eltern kann man es wohl nie allen recht machen. Jetzt im Nachhinein weiß ich, dass ich bei dieser Entscheidung nur nach meinen eigenen Interessen gehandelt habe - und nicht nach ihren, was ich eigentlich hätte tun sollen. Ich hoffe, sie kann mir für all diese Fehlentscheidungen verzeihen, denn ebendieses Mädchen, von dem ich spreche, ist meine Tochter. Das sollten Sie alle wissen, denn darauf bin ich stolz und ich würde alles für sie tun. Auch, wenn es mir nicht immer leichtfallen wird.«
Jetzt sieht er direkt in die Kamera, die das Geschehen zu mir überträgt.
Ich kann nicht anders, ich springe vom Sofa auf, renne den kurzen Flur entlang und reiße die Tür zum Konferenzsaal auf. Viele Köpfe drehen sich zu mir um, aber das ist mir egal. Ich sehe Tony auf der Bühne stehen und laufe auf ihn zu. Dann umarme ich ihn.
»Ich hoffe das war, was du dir gewünscht hast«, sagt er.
»Ich kann mir nichts Besseres als das hier vorstellen.« Ich drücke ihm einen Kuss auf die Wange. »Danke, Dad.«
Tony schmunzelt »Sind wir jetzt schon an dem Punkt angekommen?«
»Auf jeden Fall.«
Undjetzt habe ich wirklich das Gefühl, angekommen zu sein. Zuhause.
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