2 | Neben der Spur? Wohl eher komplett entgleist
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Am nächsten Tag nach der Schule traue ich mich nicht ins Krankenhaus. Kurz überlege ich, ob ich die Technik-AG einfach sausen lasse. Konzentration ist heute wohl nicht so meine Stärke. Im Gang begegnet mir der Leiter der AG. Er will einfach nur Tom genannt werden, ist groß, schlaksig und hat graue Strähnen in den dunklen Haaren. Dabei wirkt er gar nicht so alt.
»Ah, du bist die Erste. Kannst du mir mit den Bausätzen helfen?«, fragt er und drückt mir einige Kisten in den Arm. Soviel zu meinem Fluchtplan.
Ich stelle sie auf dem vordersten Tisch ab und setze mich dann auf einen Platz weiter hinten im Raum. Sofort stütze ich meinen Kopf in die Hände und fixiere meinen Blick auf ein Plakat über Elementarteilchen.
Nachdem auch die anderen eingetrudelt sind, beginnt Tom mit einer Erklärung über Schaltkreise und deren Verwendung. Interessiert starren die etwa sieben Leute auf die Bilder, die Tom an die Tafel projiziert. Schaltkreise. Das ist alles viel zu einfach. Und dann arbeiten wir nicht mal mit Halbleiterplättchen und Mikroprozessoren. Gedankenverloren schraube ich an meinem Taschenrechner herum und baue ihn wieder zusammen, bis Tom seinen Vortrag beendet hat. Jetzt stürzen sich alle eifrig auf die Bausätze.
Am Ende der Stunde lege ich mein Ergebnis auf den Lehrertisch und will aus dem Raum verschwinden. Tom hält mich auf.
»Du warst heute irgendwie so neben der Spur«, sagt er.
Ich unterdrücke ein Seufzen. Müssen mich das wirklich alle fragen? Vielleicht sollte ich tatsächlich mal versuchen, meine Gesichtsausdrücke mehr unter Kontrolle zu halten. Kann ja nicht schaden.
»Alles okay, ich glaube, ich habe mir eine Erkältung eingefangen.« Zur Bestätigung schniefe ich ein paar Mal. »Das Wetter.«
Tom nickt verständnisvoll. »Dann wünsche ich dir gute Besserung. Bis nächste Woche!«
»Tschüss«, sage ich und verlasse den Raum.
An der Bushaltestelle sehe ich in den grauen Himmel hinauf. Es sieht nicht nach Regen aus, nicht so wie in den letzten Tagen. Ich will immer noch nicht ins Krankenhaus. Genauso wenig wie nach Hause. An der nächsten Busstation steige ich also aus und lenke meine Schritte zu dem Ort, an dem ich immer meine Zeit verbringe, wenn ich nicht weiß, wo ich sonst hinsollte. Den Friedhof. Es ist still. Ich setze mich auf eine Bank unter zwei großen Weiden und nehme mein Buch raus. Bevor ich es aufschlage, genieße ich noch kurz den Augenblick der Ruhe. Der Wind, der ab und zu durch die Bäume fährt, lässt mich frösteln. Ich ziehe meine Jacke enger um mich. Dieser Teil des Friedhofs ist sehr alt, die Gräber von Efeu bewachsen und verwildert. Hier kommt niemand mehr her, niemand außer mir.
Schließlich schlage ich das Buch auf und lege das Lesezeichen neben mir auf die Bank. Ich liebe den Geruch von Büchern. Besonders von alten Büchern. Die Geschichte vom Hobbit war schon immer mein Lieblingsbuch. Mum hat es mir manchmal vorgelesen, als ich noch kleiner war. Es ist halt ein Klassiker.
Doch irgendwie kann ich mich nicht ganz auf das Lesen konzentrieren. Die Buchstaben scheinen vor meinen Augen zu verschwimmen und von den Seiten zu tanzen. Jetzt habe ich drei Seiten gelesen, ohne wirklich etwas mitzubekommen. Seufzend klappe ich das Buch wieder zu.
Ich muss nach Hause.
»Will?« Ich schließe die Haustür auf. Stille. Anscheinend ist er noch nicht zurück. Ich stelle meinen Schulrucksack im Flur ab und gehe ins Wohnzimmer. Auch hier ist niemand. Das Fenster ist offen, und ein Windzug hat einige Blätter vom Tisch geweht. Merkwürdig, dass Will das Fenster offenlässt. Martha würde die Krise kriegen. Ich bücke mich und hebe die Blätter wieder auf.
Ich wende meinen Blick ab. Also war Will bei der Polizei. Ich wünschte er hätte es nicht getan. Auf einem anderen Zettel fällt mir mein Name ins Auge. Warum steht mein Name in diesen Dokumenten? Neugierig lege ich den Rest zurück auf den Tisch und widme mich dem einen Blatt. Judy Elizabeth Linford. Das bin ich. Außer es gibt zufälligerweise noch eine andere, und irgendwie ist ihre Geburtsurkunde hierhergelangt. Unwahrscheinlich. Ich habe nie verstanden, warum Mum mir so einen stereotypischen Zweitnamen gegeben hat. Einfach nur Judy hätte auch gereicht.
Geburtsdatum, Geburtsort, Krankenhaus, und so weiter... Mutter: Lindsey Linford, mit dem Vermerk verstorben. Ich schlucke. Bis hierhin war mir alles bekannt, deswegen erwarte ich, dass im nächsten Feld nichts stehen würde, oder ein unbekannt. Stattdessen steht hier etwas ganz und gar anderes. Ungläubig starre ich auf die Buchstaben.
»Das ist ein Scherz«, murmele ich zu mir selbst.
»Ist es nicht.« Ich fahre herum. Irgendwie hat sich Will hereingeschlichen.
»Hast du mich jetzt aber erschreckt«, sage ich. »Was meinst du damit? Was ist das? Das kann nicht stimmen, das muss ein Fehler sein...« Ich halte kurz inne. »Wie kommst du überhaupt an diese Dokumente? Die haben dir die doch nicht einfach mitgegeben.«
Er zuckt mit den Schultern und will mir das Blatt abnehmen. »Ich habe da so meine Kontakte.«
»Kontakte?« Ich will noch mehr sagen, aber mein Kopf ist auf einmal wie leergefegt. Lediglich diese wenigen Buchstaben schwirren in meinen Gedanken herum.
»Wir wollten es dir schonend beibringen«, sagt Will jetzt.
»Ihr? Martha auch?«, frage ich. »Habt ihr mich angelogen, die ganze Zeit lang?«
»Ich wusste davon nichts, wirklich«, verspricht Will, nimmt mir nun endlich die Dokumente ab und verstaut sie in einem Pappordner.
»Und Martha? Wusste sie es?«
»Judy, wir fahren jetzt zu ihr ins Krankenhaus, ja? Und dort klären wir die ganze Sache, in Ordnung?«
Ich schüttele den Kopf. Das kann nicht wahr sein. Es kann einfach nicht stimmen. Ich starre das Blatt an. Da steht es schwarz auf weiß. Vater: Anthony Edward Stark.
»Aber warum hat Mum mir dann nie von ihm erzählt?« Ich sitze mit einer Tasse Tee auf einem wackeligen Stuhl im Krankenhauscafé. Martha wurde von Will in einem Rollstuhl hierhergeschoben und sieht nun aus dem Fenster auf das matschige Gras und die kahlen Bäume.
»Vielleicht wusste sie nur nicht, wie sie es dir erzählen sollte?«, überlegt Will, während er sein Notebook aufklappt.
»Sie hat es Martha erzählt. Und noch anderen Leuten, wer sonst hätte dieses Dokument anfertigen können?«
»Ich kannte ihn damals nicht. Nur seinen Namen. Mehr hat Lindsey mir nicht anvertraut«, sagt Martha leise.
»Und niemand wusste wer dieser Stark ist?«
»Unwahrscheinlich«, sagt Will. »Tony Stark ist berühmt. Ein Superheld.« Er dreht sein Notebook zu uns. Ein Video zeigt einen rot-goldenen Roboter in den Himmel aufsteigen und blaue Blitze oder so was in Art abschießen. »Vor ein paar Jahren war das hier überall in den Nachrichten.«
Ein nächster Videoausschnitt zeigt einen brünetten, eleganten Mann, Anfang vierzig vielleicht. Er sieht kurz auf einen kleinen Zettel. »Die Wahrheit ist...« Er hält inne und lässt den Zettel sinken. »Ich bin Iron Man.«
»Achso, der Typ war das.« Ich erinnere mich. Ganz schön großer Trubel. »Und jetzt? Was passiert jetzt? Muss ich zu ihm ziehen, weil er mein Vater ist?« Ganz sicher nicht. Allein den Gedanken daran finde ich schrecklich. Der Typ ist ein Fremder.
»Wir müssen ihn irgendwie kontaktieren«, sagt Will und sieht auf einen anderen Zettel aus dem Pappordner. »Außerdem sieht das Dokument hier vor, dass das Sorgerecht an den nächsten Sorgeberechtigten übertragen wird.«
»Das ist Martha«, sage ich bestimmt.
Sie lächelt traurig. »Nicht mehr, Liebes. Das musst du verstehen.«
»Genau, laut diesem Dokument ist das Stark. Lindsey hat das Sorgerecht an ihn übertragen, im Falle ihres Todes.« Er schielt zu seiner Mutter. »Oder falls der vorhergehende Vormund nicht mehr dazu fähig ist.«
Ich verschränke die Arme. »Wieso hat Mum das gemacht?«, frage ich verständnislos.
Martha wendet ihren Blick wieder zu mir. »Judy, das war alles nur für dich. Auch sie wusste, dass ich nicht ewig für dich sorgen kann.«
»Nein, ich meine – der Typ hat sich noch nie für mich interessiert. Warum sollte er es plötzlich, wenn ich zu ihm fahre und ihn begrüße mit: ›Hey, ich bin deine lang verschollene Tochter, ich wohne ab jetzt hier‹?«
»Natürlich nicht«, beruhigt mich Martha und streicht mir durch die Haare. »Mach dir darum keine Sorgen. Wir kriegen das schon hin.«
♦
Ich betrachte das Foto über meinem Schreibtisch. Darauf sind ich und meine Mutter zu sehen. Ich, mit dem verträumten, pausbäckigen Gesicht einer Fünfjährigen, sitze auf einer Bank am Ufer der Themse mit einem Eis in der Hand, während Mum neben mir in die Kamera lächelt. Ihr dunkles Haar ist zu einem Zopf geflochten und hängt locker über ihre Schulter. Die Sonnenbrille hat sie hochgeschoben. Das Bild wurde im Sommer vor acht Jahren aufgenommen. Ich kann mich kaum daran erinnern, aber wenig später zogen wir nach Kanada. Von da an sind wir ständig umgezogen. Ich weiß immer noch nicht, wieso. Kaum habe ich mich an einem Ort eingelebt, zogen wir woanders hin.
Bis vor fünf Jahren.
Ich erinnere mich noch ganz genau an den Tag, an dem die Frau in dem dunklen Anzug zu mir kam. Sie kniete sich vor mich. ›Deine Mummy wird heute nicht mehr nach Hause kommen‹, sagte sie. ›Deswegen ziehst du jetzt zu deiner Großtante nach London, ja?‹ Ich nickte, das Umziehen war ich gewöhnt, wir waren gerade von Marrakesch nach Bergen gezogen. Aber dass Mum nicht nach Hause kommen würde – nie wieder zurückkommen würde – das verstand ich erst einige Zeit später. Es war, als würde ein Teil aus mir herausgebrochen werden, ein Loch, das nicht mehr gefüllt werden kann. Manchmal gab es Dinge, die ich ihr unbedingt sagen wollte. Oder ich sah ein vertrautes Gesicht in einer Menge. Morgens wachte ich auf, mit dem Gefühl, das alles in Ordnung ist. Bis mich die Erkenntnis wie ein Schlag traf.
Sie war nicht da. Sie würde nie wiederkommen. Ich würde nie wieder ihr Lachen hören oder eine ihrer Umarmungen genießen können. Ich war gerade mal sieben Jahre alt, und Mum für immer aus meinem Leben verschwunden. Ich vermisse sie schrecklich, auch nach so langer Zeit noch. Seit ihrem Tod wohne ich also hier, in London. Ich habe hier Freunde und ein ganz normales Leben. Was will ich mehr?
Von meinem Vater wusste ich nichts. Mum hat nie von ihm gesprochen, jedenfalls kann ich mich nicht daran erinnern. Immer wenn ich Kinder mit ihren Eltern gesehen habe – beiden Eltern – fragte ich sie nach meinem Dad. Ich war ja nicht dumm, ich wusste, es muss da jemanden geben. Aber Mum lächelte jedes Mal nur und sagte: ›Wir brauchen keinen Mann in unserem Haushalt. Wir haben doch uns zwei, ja? Wir zwei gegen den Rest der Welt.‹ Dann wuschelte sie mir liebevoll durch die Haare, und ich war glücklich. Wir waren glücklich.
Doch dann gab es nur noch mich. Ich allein gegen den Rest der Welt.
~
Okay danke erstmal an alle die das hier lesen xD
Ich wollte das erste Kapitel erstmal ohne Kommentar hochladen, denn keiner mag langes Autorengelaber.
Jedenfalls ist das hier der Erste Teil einer laaaangen Reihe von Geschichten, die sich bei Judy im Marvel Universum abspielen.
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