Brief im Exil
Jude zuckt kaum zusammen, als sie ihren Dolch aus der Brust ihrer toten Gegnerin zieht. Sie hatte einen weiteren Auftrag, um ihre Familie zu versorgen, denn Vivi glaubt, dass sie für den Rest ihres Lebens von verzaubertem Geld leben können.
Jude wischt den Dolch an ihrem schwarzen Sportoberteil ab (sie findet es sehr bequem für den Kampf), bevor sie die Leiche zum Fluss schleppt. Jude weiß, dass sie ihn begraben sollte, aber sie ist müde und weiß, dass die Leiche, wenn sie flussaufwärts schwimmt, Fairie erreichen wird und nicht von der sterblichen Polizei entdeckt wird. Wenn der Hochkönig sie zufällig findet, wie ist das ihre Schuld? Sie lächelt ein wenig bei dem Gedanken, als sie die Leiche in den Fluss wirft und nach Hause geht.
"Zuhause" ist jetzt die kleine Wohnung, in der Jude mit Vivi und Oak lebt. Technisch gesehen gehört sie Heather, nur dass Heather nach ihrem Besuch bei Fairie bei ihren Eltern lebt. Jude macht ihr keine Vorwürfe.
Die Wohnung ist nur einen kurzen Spaziergang vom Fluss entfernt und sie ist in fünf Minuten dort. Oak spielt draußen und malt etwas mit Kreide auf die Einfahrt. Als er Jude sieht, lächelt er.
"Jude, schau mal!" Oak deutet auf den Bürgersteig, der die Wohnung hinaufführt. Jude joggt herüber und stellt sich hinter ihn und schaut sich seine Zeichnung an. Es ist ein Regenbogen, mit den Farben in der falschen Reihenfolge. Es gibt auch ein Smiley-Gesicht und einen Schmetterling, der in leuchtendem Pink gezeichnet ist. Jude zögert eine Sekunde und trauert um die Kindheit, die ihr entrissen wurde, bevor sie lächelt und Oaks Haar zerzaust.
"Es sieht toll aus, Oak."
Oak lächelt über das Kompliment, bevor er in die Hocke geht, um seine Arbeit vortzusetzen. Auch Jude erlaubt sich ein Lächeln, bevor sie hineingeht. Heathers Wohnung befindet sich im Erdgeschoss, so dass sie zum Glück keine Treppen steigen muss. Ihre Muskeln schmerzen schon von ihrem letzten Job.
Sie legt ihre Schlüssel auf den Tisch neben der Tür und streift ihre Turnschuhe aus.
"Jude, du bist wieder blutüberströmt", sagt Vivi und wendet den Blick vom Fernseher ab. Sie sitzt auf dem Boden neben dem Couchtisch, ein missbilligender Gesichtsausdruck, passend zum Ton ihrer Stimme. Die Zuschauer im Fernsehen lachen über etwas, das wahrscheinlich nicht lustig war.
"Aber ich habe Geld", lächelt Jude (kein sehr glückliches Lächeln) und zeigt auf den Stapel Geld auf dem Tisch vom gestrigen Job. "Er wäre sowieso bald gestorben.", sagt sie, und als sie Vivis Gesicht sieht, fügt sie hinzu: "Außerdem hat er die Sterblichen terrorisiert."
Vivi wendet sich einfach einem Comicheft auf dem Tisch zu und klappt es auf. Es ist einer von Heathers Favoriten. Jude weiß das, weil ihre Schwester eine ganze Kiste davon hat.
"Ich werde duschen gehen. Du solltest Oak Dinner machen", sagt Jude.
Bevor Vivi antworten kann, öffnet Oak die Tür und packt Jude mit gerunzelten Augenbrauen am Handgelenk. "Es ist jemand hier, der dich sehen will. Er ist von Fairie.«
Das Publikum auf der Leinwand lacht wieder.
"Bleib hier", Jude greift nach dem Dolch an ihrer Seite und wünscht sich, sie hätte Zeit, Nightfell zu holen, das gerade in ihrem Zimmer liegt. Vorsichtig öffnet sie die schwere Tür. Jude hebt die Hand, um die Sonne abzuschirmen. Die andere Hand hält die Tür offen, während sie ihren Dolch umklammert. Sie schaut sich von ihrem Standpunkt aus um und sieht niemanden.
»Oak?« Sie ruft durch die Tür: "Bist du sicher, dass jemand hier war?"
"Da bin ich mir sicher! Er hatte eine hässliche Nase!" Oak ruft aus Vivis schützendem Griff zurück.
»Kakerlake?« Fragt Jude und gerät plötzlich in Panik. Sie kann ihm nicht ins Gesicht sehen. Man kann sie nicht an die Fee erinnern, an den Hof der Schatten, an den Hochkönig. Sie würde sich sofort in eine Spirale drehen. Und das kann sie nicht.
20 Sekunden vergehen, und Jude atmet tief durch. Sie entspannt sich ein wenig, bewegt aber den Dolch vor sich hin und hält mit dem Fuß die Tür auf.
Noch ein Sekunde, und dann: "Du denkst, meine Nase ist hässlich?"
Jude fährt herum. Sie erkennt diese Stimme. Natürlich tut sie das. Und sie vermisste es, so sehr sie es auch hasst, es zuzugeben.
»Wo bist du?« verlangt Jude zu wissen.
"Genau hier", sagt er von links.
Jude dreht sich um, und da, auf ihrem Vorgarten, ihrem sterblichen Vorgarten, steht die Kakerlake. Sie möchte weinen.
"Warum bist du hier?" Fragt sie stattdessen. »Euer König hat mich verbannt.«
"Das ist genau der Grund, warum ich hier bin. Elfhame ist ein Chaos ohne dich. Ich komme, um dich zu sehen.«
"Was meinst du damit, 'Elfhame ist ein Chaos'?" Judes Verstand schwankt. Das fühlt sich nicht echt an und sie weiß nicht, wie sie darauf reagieren soll.
"Du hattest einen großen Einfluss auf den Hochkönig, nicht wahr?"
"Das hatte ich", antwortet Jude, obwohl sie mehr als nur einen Einfluss hatte. Sie hatte das Kommando über ihn. Und sie hat es dummerweise aufgegeben. Und das alles nur für das dumme Heiratsangebot des dummen Cardan Greenbriar. Sie hasst ihn. Sie hasst ihn so sehr.
"Du musst zurückkommen, Jude."
Diese Worte sind ein großer, riesiger Schlag ins Gesicht. Wollte sie zurück? Jude spottet über diese Vorstellung. "Nein. Du hast mich ins Exil geschickt, erinnerst du dich?«
"Ich habe dich nicht verbannt. Der Hochkönig tat es. Und hast du nicht darüber nachgedacht, warum? Er ist klug, auch wenn er sich nicht so verhält."
"Cardan kann verrotten." Jude hasst ihn. Sie hasst es, wie er lächelt, wie er sie hereingelegt hat, wie er sie geküsst und ins Exil geschickt und in die Welt der Sterblichen geworfen hat. Sie hasst es, dass sie ihn vermisst. Sie hasst es, dass sie es so gut ignoriert hat und jetzt bricht alles über sie herein, nur weil die Kakerlake sein Gesicht in der Welt der Sterblichen gezeigt hat.
»Jude.«
"Er. Kann. Verrotten.« Jude runzelt die Stirn. Innerlich möchte sie sich zu einem Ball zusammenrollen und nie wieder gesehen werden.
"Ich habe einen Brief für dich, vom Hochkönig, sowie eine Botschaft. Die Botschaft ist folgende: Er hat dir Briefe geschickt, und er ist sich nicht sicher, ob du sie bekommen hast oder ob du einfach nur stur bist. Er hat mir einen mit gegeben und möchte, dass du antwortest." Die Kakerlake gibt Jude den besagten Brief. "Es war schön, dich wiederzusehen, Jude. Bitte ziehe es in erwägen, wiederzukommen."
Jude steht da, bis er geht. Sie steht dumm weiter da, bis Vivi herauskommt, sie hereinführt und sie auf die Couch setzt.
"Worum ging es?"
"Sie wollen, dass ich zurückgehe."
"Wer will, dass du zurückgehst?" fragt Vivi, während sie den Rücken ihrer Schwester in beruhigenden Kreisen reibt.
"Die Kakerlake. Cardan."
Vivi zieht überrascht die Augenbrauen hoch. "Cardan will, dass du zurückgehst? Nach Elfhame? Heißt das, dass er dich begnadigt hat?"
"Ich weiß es nicht", antwortet Jude, gefährlich nahe am Weinen.
"Gehst du zurück?"
»Ich weiß es nicht.«
Vivi nickt verständnisvoll und drückt die Hand ihrer Schwester, bevor sie langsam aufsteht. "Ich werde Tee aufsetzen. Kamille?«
Jude nickt nur und schaut auf ihre Hände. Der Brief ist immer noch da. Jude sollte ihn nicht öffnen, sie sollte ihn verbrennen, loswerden, aber sie faltet ihn trotzdem zitternd auseinander.
Es ist Cardans Handschrift. Natürlich ist es das. Es ist von ihm, nicht wahr? Trotzdem ist es ein dicker, fetter Schlag in die Magengrube.
An die Hochkönigin von Elfhame,
Über mir ist derselbe silberne Mond, der auch auf dich herabscheint. Wenn ich ihn ansehe, erinnere ich mich an das Glitzern deiner Klinge, die du gegen meine Kehle gedrückt hast, und an andere romantische Momente.
Ich weiß nicht, was dich davon abhält, an den Hof zurückzukehren - ob es Verdruß über mich ist, oder ob du, nachdem du einige Zeit in der Welt der Sterblichen verbracht hast, zu der Überzeugung gelangt bist, dass ein Leben frei von Feen besser ist, als über sie zu herrschen.
In meinen elendesten Stunden glaube ich, dass du nie wiederkommen wirst. Warum solltest du auch? Du hast immer genau gewusst, wer ich bin und kanntest all meine Schwächen, du hast all meine Fehler und Narben gesehen. Ich schmeichelte mir, dass du in manchen Augenblicken andere Gefühle für mich hegst als Verachtung, aber selbst wenn das wahr wäre, wären sie nur ein kleiner Teil gegen die anderen Gefühle, die du für mich hegst und diese sind nicht all zu positiv.
Und doch ist mein Herz mit dir gegangen in die fremden Welt der sterblichen, wie es mit dir in den kalten Wassern der Unterwasserwelt ertränkt wurde.
Es war dein, ehe ich es zugeben konnte, und es wird dein bleiben.
Cardan
Jude hasst ihn. Sie hasst ihn so sehr. Sie hasst ihn so sehr, dass sie weint und weint und weint. Sie hasst ihn und sie vermisst ihn und sie muss zurück, denn wie könnte sie nicht?
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