Kapitel 7
„Nach der Schule schau ich mal bei Jan-Luca vorbei, hab gerade mit ihm gechattet, der hat wohl was für mich", rief Phillip durch den Haustür, dann schlug auch schon die Haustür zu.
Ich strich mir seufzend die Haare aus der Stirn und setzte mich auf das Sofa im Wohnzimmer. Jonas schlief noch, die andern bei-den waren aus dem Haus. Alice würde sich um den Jüngsten kümmern, er hatte erst zur zweiten Stunde Unterricht. Mir blieben noch höchstens zehn Minuten, dann musste ich mich auf den Weg machen, um nicht zu spät im Büro anzukommen. Nur weil für heute Nachmittag ein Meeting anstand war ich nicht schon längst da, für gewöhnlich begann ich um sechs mit der Arbeit, um möglichst früh fertig zu sein.
Vormittags half Alice meistens ihren Eltern mit dem Haushalt. Beide waren bereits pflegebedürftig, wollten sich aber auf keinen Fall eine fremde Person in den Haushalt einladen. Also ging meine Frau täglich aufopferungsvoll die zwei Kilometer dort hin, räumte auf und versorgte ihre Eltern.
In der Zeit arbeitete ihre Schwester und konnte nicht zu Hause bleiben. Um Punkt zwölf erfolgte dann die Ablösung, Josi kam zurück und übernahm. Bis dahin hatte Alice Essen gekocht, denn jetzt musste sie sich beeilen, nach Hause zu kommen, um auch dort zu kochen, schließlich kamen spätestens um eins die ersten Kinder nach Hause. Ein stressiger, stetiger Tagesablauf, jedes Mal das Gleiche.
Mir war nicht klar, wie sie es schaffte, hatte ich doch nie etwas wie elterliche Liebe gekannt. So ging das jetzt schon zehn endlose Jahre, in denen sie ihre Stelle als Psychologin aufgegeben hatte, um die Zeit zur Pflege finden zu können. Das Geld wurde immer knapper, ich bekam eigentlich nicht genug, um Alleinverdiener zu sein, aber uns blieb keine andere Wahl.
Manchmal, im ganz geheimen, verwünschte ich meine Schwiegereltern für ihre Starrköpfigkeit. Unser Verhältnis war gut, ich kannte sie nur als liebenswürdige Personen, aber ihre Art, Alice' Gutmütigkeit auszunutzen, missfiel mir sehr. Lange konnte das nicht mehr so weiter laufen, wenn ich nicht eine besser bezahlte Arbeit fand.
Weil ich früh nach Hause kam, blieb dann meist etwas Zeit, um etwas mit den Kindern zu unternehmen und den Haushalt aufrecht zu halten. Mehr als den Halbtagsjob hatte ich nicht bekommen können, ein Vollzeitjob anderswo wäre noch schlechter bezahlt gewesen. Darum blieb ich lieber dort und nutzte die übrige Zeit, um sie mit meiner Familie zu verbringen.
Die Autofahrt verlief glücklicherweise staufrei, sodass meine Nerven in ganzen Stücken am Bürogebäude ankamen. Anders als sonst musste ich dieses Mal nach einem Parkplatz suchen, da bereits einige der Luxuskarossen da standen, die meinen Kollegen gehörten. Dazwischen standen auch viele normale Wagen, nur in meiner Preisklasse fand sich nichts.
War es wirklich nichts? Ich konnte meinen Augen kaum trauen, als ich den Renault Clio in der hintersten Ecke erblickte, versteckt hinter einem großen Van, als solle er bloß nicht entdeckt werden. Er hatte noch nie hier gestanden, da war ich mir sicher, und doch kam man nur mit einem Firmenausweis auf dieses Gelände.
So sehr ich mich für den Gedanken auch verachtete, mir gefiel die Vorstellung, nicht mehr das alleinige Ziel der Reicheren in der Firma zu sein. Fest stand für mich, dass ich die Person ausfindig machen und warnen musste, wo sie hier hineingeraten war. Niemand sollte unvorbereitet in ein Gespräch mit meinem cholerischen Chef gehen müssen.
Die Gänge des Gebäudeflügels lagen überfüllt vor mir, Hektik lag in der Luft. Dies war die technische Abteilung der Metallbau-Firma, in der ich arbeitete, in unserer Hand lag die Wartung der Firmenrechner sowie die Entwicklung neuer Programme.
Meist blieb für mich nur die stupide Aufräumarbeit für die anderen, Sortierung alter Dateien und so, eben alles, worauf sie keine Lust hatten. Immerhin war ich nur eine Aushilfskraft, wenn auch auf Langzeit angestellt. Manchmal konnte aber auch ich eine der echten Aufgaben ergattern, an eigenen Programmen schreiben.
Während ich mich auf den Fahrstuhl zubewegte, der mich in den sechsten Stock bringen würde, schaute ich mich nach einem Neuling um. Die meisten kannte ich, hatte ich doch ein gutes Gedächtnis für Gesichter, auch wenn mir selten ihre Namen dazu einfielen. Einzelne waren mir fremd, aber niemand wirkte verunsichert wie am ersten Tag, und erst Recht nicht, als gehöre ihnen ein halb verrosteter Clio.
Der Fahrstuhl war ebenfalls gut besetzt, er hielt beinahe in jeder Etage. Im dritten Stock stieg mein Chef ein.
„Steffen! Du bist aber spät!", begrüßte er mich, die Hände lässig in den Hosentaschen versenkt. Sein schmieriges Grinsen nervte mich jetzt schon, erst Recht der unerlaubte Gebrauch meines Vornamens, dennoch blieb meine Miene eisern.
„Guten Tag, Herr Ludwigs! Ja, wegen des Meetings heute habe ich mich entschlossen, etwas später anzufangen. Sonst hätte ich eine Pause einschieben müssen, bei einer halben Stelle wohl unnötig."
Seine Mundwinkel blieben in ihrer verzerrten Stellung, dabei flüsterte er mir ein „Auch frühe Vögel müssen einmal ausschlafen!" zu. Ich verkniff mir eine Antwort und starrte lieber übermäßig interessiert auf die Anzeige, die gerade von vier auf fünf umsprang.
„Tut mir Leid, du musst noch weiterfahren! Im fünften Stock liegen nur große Büros!", verabschiedete mein unfreiwilliger Wegbegleiter sich gehässig, aufmerksam geworden durch meinen fokussierten Blick. Ich könnte wetten, er wäre weitergefahren, ohne es zu merken. Er war nicht besonders helle.
In meinem Büro erwartete mich eine Überraschung, die mich zunächst an mir selbst zweifeln ließ. Mein Schreibtischstuhl war besetzt, jemand hatte sich darauf niedergelassen, dabei wühlte er seelenruhig in meinen Sachen. Durch den Klang meiner Schritte aufmerksam geworden hob die Person den Kopf und blickte mir frech ins Gesicht.
Der Fremde besaß wilde, blonde Locken, die ein eingefallenes Gesicht umrahmten. Seine gedrungene Gestalt ließ große körperliche Kraft vermuten, die in krassem Gegensatz zu dem Alter stand, das sich nach seinem Aussehen vermuten ließ. Er musste einige Jahre mehr als ich auf der Welt sein, oder, und hier beschlich mich ein leiser Verdacht, große Entbehrungen durchgemacht haben.
„So sieht man sich wieder, Steffen Mortes!" Meinen Nachnamen hob er seltsam hervor, als kenne er mich schon lange, habe ihn aber gerade erst neu entdeckt. Mein Ausdruck musste alles andere als geistreich gewirkt haben, denn es folgte ein dreckiges, kaltes Lachen.
Dieses Lachen kannte ich, ich kannte den Mann vor mir, kannte seine Locken. Mit zwei schnellen Schritten wich ich zurück, klammerte mich am Türrahmen fest und schloss die Augen. Mein Herz begann zu rasen, alles schien sich zu drehen. Was war hier los, das durfte nicht passieren, nicht nach all der Zeit! Konnte meine Vergangenheit mich denn niemals in Ruhe lassen, würde ich je meine Kindheit hinter mir lassen können?
Ich wusste genau, wer dort auf meinem Stuhl saß, dass es real war, und doch wünschte ich mir nichts mehr, als endlich aus diesem Alptraum aufzuwachen. Mein Brustkorb fühlte sich eng und klein an, wenn ich atmete, darum schnappte ich öfter nach Luft. In mir machte sich Panik breit. Mir blieben gerade zwei Möglichkeiten: Ich erstickte oder fiel dem Monster in meinem Büro zum Opfer.
Beides schien mir eine schlechte Wahl, darum versuchte ich, noch schneller zu atmen, und verließ den Türrahmen, um so schnell wie möglich das Gebäude zu verlassen, mich für heute krankzumelden. Auf meiner Netzhaut hatte sich ein Bild eingebrannt, das des blonden Dämonen in meinem Büro, es ließ mich nicht mehr los und störte meine Sicht.
Ich brauchte nur wenige Meter, dann gelangte ich zur Toilette und schloss mich keuchend in einer Kabine ein. Alles tat mir weh vom vielen Atmen, in mir kroch Übelkeit hoch. Vieles konnte ich verkraften, aber eine derartige Erinnerung aus der Kindheit war zu viel.
In meinem Büro saß Lars, mein kurzzeitiger Jagdleiter, derjenige, dem ich viele durchwachte Nächte zu verdanken hatte. Neben den Blonden schob sich nun völlig unerwartet eine andere Person, die mir mindestens genauso viel Angst einjagte. Björns Gesicht, vernarbt wie eh und je, tauchte auf, grinsend und bedrohlich.
Ein leiser Schrei entfuhr mir, und obwohl ich genau wusste, dass es nicht sein konnte, der brutale Anführer nicht hier sein konnte, er kam mir so real vor. Ich wusste genau, was hier vor sich ging, und doch war ich machtlos meinem Körper gegenüber.
Mein Atem verlangsamte nach einigen Minuten etwas, meine Gedanken klarten auf. Wer auch immer mich gerade überrascht hatte, es war mit Sicherheit nichts bedrohliches. Es war höchst unwahrscheinlich, dass Lars es nach all der Zeit in diese Firma geschafft hatte, noch unmöglicher, dass er meinen Schreibtisch durchsuchte. Was sollte er auch da suchen, ich besaß nichts darin!
Langsam übernahm mein Gehirn wieder die Kontrolle, es zwang meine Beine zurück in Richtung meines Büros. Lars würde nicht dort sein, er konnte nicht, es war alles nur Einbildung. Ein Flashback, eine Erinnerung. Das Büro war mit Sicherheit leer, niemand dort, alles so wie immer. Die wenigen Meter über den Flur vergingen viel zu schnell und waren doch zäh wie Käsefondue.
Das Büro schien leer. Entschlossen lugte ich um die Ecke, bereit, sofort wieder zu verschwinden. Den Versuch, seriös zu wirken, hatte ich längst aufgegeben. Doch da war er. Lars saß noch immer dort, hatte sein Werk nicht einmal unterbrochen. Ich wich zurück, schloss die Augen, bewegte mich zum Ausgang. Ich musste hier weg, es war real. Ich konnte nicht mehr bleiben, ich brauchte jetzt Jan-Luca.
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