Live
Es gibt vielerlei Arten von Menschen auf dieser Welt:
1. Diejenigen, die einfach nicht aufhören wollen, dich zu nerven
2. Diejenigen, die sich grundlos niedermachen lassen, nur weil sie denken, sie könnten nichts
3. Diejenigen, die alles herum posaunen, ohne irgendwelche Bedenken, egal welche Situation
4. Diejenigen, die sich selbst zu etwas Besserem machen wollen, obwohl sie gut genug sind (Fällt das zu Punkt Zwei???)
5. Diejenigen, die sich nichts sagen lassen
6. Diejenigen, die die ganze Zeit über still in der Ecke hocken und den ganzen Kram an sich vorbei ziehen lassen (Punkt Fünf, Teil Zwei)
7. Diejenigen, die sich bei dir ausheulen (Beziehungsstress, Streit mit der Familie...)
8. Diejenigen, die sehr hart arbeiten, um ihre Träume zu verwirklichen, tagein tagaus...
9. ...und am Ende dann nur in irgendeinem Büro landen (Traurig, aber wahr!)
10. Diejenigen, die alle bisher genannten Punkte in sich vereinen (Oho...)
Und zu guter letzt:
11. Diejenigen, die dich niedermachen
Beweisen kann es niemand, dass diese Typen von Menschen wirklich existieren, nur für mich ist es so.
Ich nenne diese Liste Dinge, die ich an Menschen hasse.
Okay, ihr denkt jetzt wahrscheinlich: Seriously?
Sorry, aber es ist einfach so. Ich kann nichts ändern, gar nichts.
Wisst ihr, ich bin in meinem bisherigen Leben schon mit allen elf Arten konfrontiert worden und jedes verdammte Mal habe ich mir gewünscht: Nicht schon wieder.
Der arrogante Kerl von nebenan, der seine Muskeln zum Besten gibt oder die kleine, stumme Maus, die von ihm belästigt wird - sie gehen mich nichts an. Helfen tu ich zwar, aber dann muss auch gut sein.
Ausheulen kann ich nicht ab. Es geht einfach nicht. Danke Arya, du hast mich vor dem großen, bösen Wolf bewahrt! ein absolutes No Go. Gut, vielleicht übertreibe ich mal wieder...
Ein schüchternes Dankeschön reicht völlig. Lass dir das gesagt sein, Mädchen!
Ehrlich, ohne Witz. Soll ich es buchstabieren?
I - C - H - H - A - S - S - E - E - S!!!!!!!!!
Oder ein ganz anderes Beispiel:
Letztens in der Bahn habe ich jemanden beobachtet, wie er seinem Sitznachbarn - dummerweise ich - eine ausschweifende Story über seine Ex berichtet und sich tagelang betrunken hat. So etwas geht auch nicht. Ich bin kein Seelenklempner, damit das klar ist!
Aber man muss es immer wieder aufs Neue probieren.
Nur, weil ich gestört bin, muss jeder nicht gleich zu mir kommen und einen Satz wie folgt beginnen:
Oh, gut dass du da bist, Arya. Bist du bereit, die langweiligste Geschichte aller Zeiten zu hören?
Vielleicht nicht in der Form, aber ein leichter Unterton des eben erwähnten schwingt mit. Das macht mich wahnsinnig, noch mehr als ich ohnehin schon bin.
Warum das Ganze?
Lasst es mich so sagen -
Ich bin Arya Lee, 21 Jahre alt und professioneller Seelenklempner. Nein, das ist falsch, nochmal von vorne...
Ich bin Arya Lee und bin 21 Jahre alt. Schon besser.
Ach ja und bevor ich's vergesse - ich bin krank. Psychisch krank.
Die meisten in meinem Umfeld reagieren bei diesen Worten mit Gelächter. Oder mit mitleidigem Schulterklopfen - symbolisch, versteht sich.
Oh, du bist krank...wie schlimm ist es denn?
Variante II
Oh Gott, Arya - hättest du mir das nicht früher erzählen können?
Und ganz beliebt, Variante III
Du Armer...
Leute, mal ehrlich. Ich habe mir das nicht ausgesucht, okay?
Es hat eine Zeit gegeben, da war noch alles gut. Im zarten Alter von 12, Pubertät und so...das übliche, keine große Sache.
Damals habe ich im Iran gelebt, zusammen mit meiner Mutter, meinem Vater und Bruder. Die Menschen um mich herum waren freundlich, klug und haben gerne Zeit mit mir verbracht. Ich bin ganz normal zur Schule gegangen, habe meine Hausaufgaben - größtenteils - vergessen und habe am Nachmittag mit meinen Freunden gespielt. Basketball, Fußball... Wir haben sogar die NBA nachgestellt.
Abends, oft am Wochenende, habe ich mich am liebsten vor den Fernseher gehockt und Serien geschaut. Fresh Prince of Bel Air ganz oben. Ich liebe Will Smith, das tue ich wirklich. Er hat alles verkörpert, was ich immer gewollt habe zu sein: Witzig und talentiert.
Tja und dann eines Tages kam der Krieg. Er kam still und leise, auf Katzenpfoten. Mit Waffen, die furchteinflößend waren und meinem Bruder und mir große Angst bereitet haben. Waffen, die innerhalb kurzer Zeit alles, was mir je lieb gewesen ist, gnadenlos zerstört haben. Mein Vater ist damals umgebracht worden. Nur, weil er für den Frieden gekämpft hat.
Frieden - ein so schönes Wort, zerschmettert durch Bomben oder Raketen. Die ganze Welt könnte so viel schöner sein, wenn es nur Frieden gäbe. Doch leider herrscht dort, wo ich herkomme, immer noch keiner. Und das ist traurig.
Meine ersten Jahre in Deutschland waren die Hölle. Ich wurde beschimpft, geschubst, geschlagen. Weil ich ein verdammter Ausländer war. Und bin. Meine Mum, Saman und ich - wir haben es irgendwie dann doch geschafft, zu überleben. Auf engstem Raum, ein Zimmer für Drei - im Asylheim. Vorher hat noch niemand von uns jemals hier gehaust.
Wir sind buchstäblich durchs Feuer gegangen, haben gebetet, dass alles gut wird. Saman und ich haben jede Nacht unsere Mutter weinen gehört, sie hat aus lauter Verzweiflung irgendwelche Pillen zur Beruhigung geschluckt. Sie lebt zum Glück noch.
Das alles ist ungefähr 2007 gewesen.
Jetzt schreiben wir 2015 und ich wohne mittlerweile in Berlin. Die Stadt, wo deine Träume Wirklichkeit werden, wo du alles sein kannst, was du willst. Im Heim habe ich das nie gekonnt.
Ein Jahr zuvor hat alles angefangen. Meine Krankheit hat begonnen.
Ganz plötzlich ist es über mich herein gebrochen, wie eine Welle im Meer. Reißt alles nieder.
Störung.
Allein dieses Wort reicht aus, um endlose Wut bei mir hervor zu rufen. An all die Leute, die mir das diagnostiziert haben - ihr könnt mich mal gern haben!
Vielleicht bin ich ja gestört. Vielleicht bin ich ja verrückt. Vielleicht...ach, ich weiß nicht.
Mein Therapeut nennt es Zwang.
Ich nenne es Normal.
Mein Umfeld nennt es Der ist doch verrückt.
Ich gehe zweimal die Woche zum Training, Kampfsport. Die ganze Wut aus mir raus boxen, bis ich schweißüberströmt zu Boden sacke, doch ich kann nicht aufhören. Wenn es einmal geht, klappt es auch mit dem Rest. Von acht Uhr abends bis halb zehn - unerbittlich.
Manchmal schreie ich:.
ICH BIN DOCH NORMAL, WANN KAPIERT IHR DAS ENDLICH?
Ich schreie den Boxsack an, das tue ich wirklich. Mir doch egal, ob noch irgendjemand außer mir da ist.
Einen Beruf habe ich nicht, keinen richtigen. Und wenn, würde mein Boss spätestens beim Lesen meines Lebenslaufs feststellen: Der hat doch nicht mehr alle Tassen im Schrank!
Vom 09.03.2014 - 16.05.2015 in psychiatrischer Behandlung...da wird allen ganz anders.
Na ja. Wer alle Menschen in seinem Umfeld nach Kategorien sortiert, kann nur krank im Kopf sein, würde man meinen.
Es gibt keinen Fachausdruck dafür, weswegen viele halt diese dumme Ausrede benutzen. Weil niemand sich auch nur ansatzweise darüber informiert hat. Es könnte ja ansteckend sein.
Manchmal spiele ich Gitarre. Manchmal, die zweite - heißt soviel wie selten. Sehr selten.
Es hat schon viele Punkte in meinem Der - ist - gestört - und - verdient - nichts - Leben gegeben, worüber ich einfach mal nachdenken muss. Der f****** Tod meines Vaters zum Beispiel.
Er hat das nicht verdient, ich hätte an seiner Stelle draufgehen sollen. Ehrlich.
Ich schreibe Songs, um das irgendwie zu verarbeiten. Alles zu verarbeiten. Obwohl meine wahre Leidenschaft eher für die Kampfkunst brennt.
Mein Therapeut hat mal gesagt:
Nicht alles kann perfekt sein, Arya. Nicht jeder kann etwas über dich wissen, deshalb fällt es vielen schwer, dich zu beurteilen.
Sieh drüber hinweg, lass die Leute reden. Du bist einzigartig, so wie du bist und das kann dir niemand nehmen.
Ein anständiger Mensch. Um die 30 Jahre ungefähr und ein waschechter Seelenklempner. Keine Eigenschaften, die ich jemals auf meiner Liste bemerkt habe. Deshalb hier Kategorie Nummer 12.
Diejenigen, die vernünftig sind.
Die Menschen, die frei von allem sind, was meine Liste zu bieten hat.
Leider existieren so wenige der Zwölfer - Individuen, dass es mir relativ schwer fällt, neue Freunde zu finden. Meine alten sind dort geblieben, keine Ahnung, was aus ihnen geworden ist. Hoffentlich kein Kanonenfutter.
Ohne den Krieg, ohne Leid und Tod wäre es doch nie so weit gekommen. Ohne meine beschissene Krankheit hätte ich meinen Dad bestimmt noch retten können. Ohne...alles. Aber es musste ja so kommen. Schicksal, nichts weiter.
Wahrscheinlich wird irgendwann auf meinem Grabstein stehen:
Hier ruht Arya Lee, auch genannt Der Gestörte
Der Geisteskranke
Der Verrückte...
Sucht euch was aus, er hört so oder so nicht mehr zu!!!
Versteht ihr, was ich meine?
Ich werde niemals irgendjemanden finden, der sich mit dem auskennt, was ich habe. Zumindest teilweise...
Niemals werde ich jemanden finden, der mich genauso nimmt wie ich bin.
Niemals werde ich einen weiteren Zwölfer finden.
Aber ey:
Ich habe mir das nicht ausgesucht!
_________
„Ist hier noch frei?"
Die Stimme kommt aus dem Nichts, während ich die ganze Zeit stumm da hocke und der leise dudelnden Musik im Hintergrund lausche. Vor mir steht ein halbvolles Glas Wodka, in dem ich meine wirbelnden Gedanken zu ertränken versuche.
Wirbelnde Gedanken. Mein Therapeut hat das gemeint, als ich wieder einen Wutausbruch hinter mich gebracht und dem fiesen Typen von nebenan ordentlich eine rein gehauen hatte. Er hat blutend auf dem Boden gelegen, der Bastard! Hat sich tausendmal entschuldigt, wollte dem Mädel sogar noch an die Wäsche - zack, hat er prompt den zweiten Schlag verpasst bekommen. Die Sanitäter haben mich in letzter Minute von ihm weg gezerrt, sonst hätte ich ihn windelweich geprügelt. Was er theoretisch verdient hat.
Meine unkontrollierten Aggressionen sind das, was meine Krankheit ebenfalls ausgelöst hat - es hat sie quasi mit in mein komplett geschädigtes Hirn importiert. Wie der Beipackzettel meiner Medis, die ich deshalb nehmen muss.
Und das Ende vom Lied: Mein Therapeut hat mich dazu verdonnert, meine Gedanken zu ordnen und aufzuschreiben. Egal wo, egal wann. Egal was. Hauptsache, du kriegst es in den Griff.
Nun sitze ich hier also in einer relativ schnieken Bar irgendwo in Kreuzberg und notiere meine Eingebungen. Sogar die Liste habe ich dabei, das habe ich wirklich. Fast immer, wenn jemand zu mir kommt, um etwas zu sagen. Ich muss ja herausfinden, wer von ihnen ein Zwölfer ist.
Mit wem ich bisher etwas klar gekommen bin, sind die Sechser. Warum ist doch offensichtlich:
Sie sind stumm wie ein Karpfen und melden sich nur, wenn sie - beispielsweise in einer Bar - etwas zu Trinken haben wollen.
Wie der Typ, der immer noch auf seinen freien Platz neben mir wartet.
Zweifelsohne ein Sechser.
Oft genügt mir nur ein Blick, dann kann ich bereits die Nummer von Mensch bestimmen. Mit wem ich gar nicht kann, sind - ratet doch mal...
Richtig, die Elfer und Einser. Ich kann mich nicht entscheiden, aber momentan sind es eben die Elfer.
Ich finde es grausam, dass manche Menschen nur an der Ethnie, Herkunft oder der sexuellen Orientierung festmachen, ob jemand etwas wert ist oder nicht. Und den Gegenpol bilden ganz klar die Einser mit Sätzen wie Oh Mann, der Jimmy vögelt schon wieder diese Nutte oder Hast du gesehen, wie viel Make Up der Marc heute drauf hat? Ist ja widerlich...
„Bist du taub oder so?"
Ruckartig drehe ich meinen Kopf zu dem Kerl neben mir herum, darauf gespannt, wie er reagieren wird, wenn ich... Nein, Arya. Tu das nicht.
Ich entspanne mich sofort wieder, klammere meine zitternden Finger um das Glas. Schaue in die trübe Flüssigkeit, dann wieder hoch. Die Erkenntnis trifft mich wie ein Stich mit tausend Stecknadeln in die Brust.
Der Typ aus der Bahn!
Ich blicke abwechselnd zwischen ihm und dem Wodka hin und her, kann es nicht fassen.
Er ist doch ein verdammter Sechser, aber er hat gestern noch wie eine Sieben geklungen...
Was zur Hölle ist hier los???
Alles verschwimmt vor meinen Augen zu einem bunten Wirbel aus Farben, Schweiß rinnt mir von der Stirn. Mein Puls rast, ich kralle mich an der Tischkante fest. Bloß nicht umkippen!
Doch mein Gedächtnis ist anderer Meinung -
Nicht nochmal...
Sechser, Sechser, Sechser!!!
______
Entweder es passt nicht. Oder es wird mir in dem Moment zu viel. Ich...Ich habe keine Ahnung.
Ich weiß nur, dass es manchmal eskaliert, wenn einer nicht ins Schema passt. Genau wie jetzt gerade.
Meine sorgfältige Arbeit, jede einzelne Notiz - alles umsonst.
Ich habe keine Ahnung, wie es gekommen ist, doch bestimmt mit der Krankheit. Am Anfang ist es nur ein Ziehen im Kopf, das mir vermittelt:
Etwas stimmt nicht!
Dann, wenige Minuten später, beginnt sich alles zu drehen. Der Boden, die Decke...alles.
Ich kann es nicht kontrollieren.
Mein Schema ist zerstört worden.
________
„Alles okay bei dir?", holt mich seine Stimme in die Realität zurück, ich keuche vor Schmerz.
Die grellen Farben sind verblasst, mein Wodka steht immer noch unberührt da. Die durchsichtige Substanz scheint zu leuchten, von innen heraus.
Der Typ neben mir grinst.
Es ist ein kaltes Lächeln, keine Spur von Vertrauen oder Freundlichkeit in seinen eisblauen Augen. Ich zucke zusammen, so tief schaut er mich an, blickt direkt in meine Seele.
Er ist kein Sechser.
Shit!
„Verpiss dich!", raune ich ihm zu, dieser Idiot! Er verzieht keine Miene.
„Yo Mann. Sei nicht so, okay? Ich...Tschuldige, normalerweise..."
Normalerweise was???
Er wird rot, eine Geste, die äußerst verdächtig vorkommt. Eine Geste, die ich so noch nie gesehen habe. Eine Geste, die mir...fremd ist.
Kein Wunder. Du gehst ja auch sonst nie raus, also warum sich aufregen?
Mein nach Zynismus neigendes Gedächtnis bringt mich abermals ins Schwitzen. Gott.
Ich nehme einen winzigen Schluck von meinem Drink, Sterne tanzen vor meinem Blickfeld.
Ich hätte die Dosis heute ausnahmsweise verringern sollen...
Der Typ steht da wie eine Salzsäule, wartet auf eine Reaktion meinerseits.
Ich mustere ihn unbeeindruckt. Was mir sofort auffällt, sind seine Haare:
Er hat Locken. Dichte, dunkle Locken. Locken, die sich an sein schüchternes Gesicht schmiegen wie ein Teppich. Locken, die bestimmt schon eine Frau gestreichelt oder geküsst hat...
Heck!
Er streckt mir eine Hand hin und lächelt erneut, diesmal netter.
„Ich bin Jay. Jay Samuelz!"
Desinteressiert starre ich diesen Jay an, breche unerwartet in Gelächter aus. Ich lache und lache, bis mir die Tränen kommen und wische sie barsch mit dem Handrücken weg. Die anderen Gäste in dem kleinen Lokal drehen sich verwirrt nach mir um, ich weiß genau, was sie denken.
Psycho.
Der holt gleich ein Messer raus und wird uns alle töten.
Als ich mich wieder beruhigt und verzweifelt nach Atem gerungen habe, wenden sich die Besucher wieder ab. Kurz bilde ich mir ein, sie erleichtert seufzen zu hören, nach dem Motto:
Endlich, der Irre nimmt Vernunft an.
Und im selben Moment räuspere ich mich, während ich mir ganz langsam eine übrige Lachträne von der Wange reibe. Was ich wispere, lässt Jay erbleichen.
„Du..."
„Du passt nicht dazu!"
Er ist kalkweiß, besser kann ich es nicht beschreiben. Sein Blick ist ein einziges Fragezeichen.
Nach einer kurzen Weile jedoch zwingt er sich zu einer Antwort.
„Nicht wozu?
Genau das, was ich erwartet habe...NICHT. Sein Ton klingt fordernd, seine Hände verkrampfen sich. Die Stuhllehne gibt ihm Halt - fragt sich, wie lange noch.
„Mann o Mann, da frage ich lediglich, ob ich mich zu dir setzen kann und was machst du?", schüttelt er im nächsten Augenblick tadelnd den Kopf, seine Locken fliegen nur so hin und her. Wie ein nasser Pudel.
Ich zögere und deute auf den leeren Barhocker: „Tu dir keinen Zwang an!"
Jetzt mache ich auch noch Witze über mich selbst...
Jay nickt und lässt sich kurz darauf auf den hölzernen Stuhl plumpsen, sofort kommt der Barkeeper um die Ecke.
„Was darf's sein?"
Eine Neun. Mal was Neues.
Die Miene des leicht schon in die Jahre gekommenen Mannes sieht gelangweilt aus, Bart sprießt ihm unter dem Kinn. Er wirkt müde, kein Wunder. Die digitale Uhr hinter ihm an der Wand zeigt 22:30 an, etwas, was eher in einen Club passt anstatt einem Nobel - Lokal wie hier...
Nachdem mein Sitznachbar also seine Bestellung abgegeben hat - Sprite - verschwindet der Ober zurück nach hinten. In den Lagerraum oder sonst wohin, vielleicht auch auf die Toilette.
Wenige Sekunden später kommt der Keller wieder und serviert wortlos, kurz darauf hocken wir beide endlich alleine da. Na ja, bis auf die übrigen Gäste, die irgendwie es nicht lassen können, zu mir hinüber zu starren.
Den behalten wir im Auge.
Ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen und trinke einen zweiten Schluck von dem Shot, dessen bitterer Beigeschmack mir die Zunge verklebt. Und noch einen.
Das Glas ist fast leer, da beugt sich Jay zu mir herüber:
„Biste öfter hier?"
Eine simple Frage, die man entweder mit Ja oder Nein beantworten kann - was normale Menschen tun würden. Ich zähle nicht.
Das Zittern meiner Hände hat nachgelassen, jedoch ist es nun meine Stimme, die leiden muss.
„Eigentlich nicht. Aber heute mache ich ne Ausnahme!"
Aha. Denn eigentlich habe ich in meiner Wohnung verkrochen und gehe ab und zu zum Gym oder einkaufen - sonst könnte ich etwas Gesellschaft gut gebrauchen...
Halt die Klappe!
Der Lockenkopf seufzt und erhebt sich vom Stuhl. „Gut zu wissen...wenn du mich entschuldigen würdest - "
Er stiefelt Richtung WC. Lässt mich mit meinen Gedanken allein. Seine Limo hat er bis jetzt nicht angerührt, nicht einmal genippt.
Schnell hole ich die Liste aus meiner Jeanstasche und streiche das zerknitterte Papier kurz glatt, sodass ich besser lesen kann. Der Bleistift schwebt über der Zwölf, arbeitet sich durch die anderen, sorgfältig aufgezeichneten Daten. Dann wieder runter, zur Zehn. Und dasselbe Spiel ein bisschen höher.
Denk immer dran: Du beherrscht die Zahlen. Lass nicht zu, dass die Zahlen dich beherrschen.
Wahre Worte meines Therapeuten.
Wahre Worte eines Seelenklempners.
Wenn er kein Sechser ist, was ist er dann?
Nach eifrigem Grübeln trage ich schließlich einen weiteren Punkt ein.
13. Diejenigen, die hinterfragen.
Ich weiß schon jetzt, dass Jay ein Problem für mich darstellt. Darstellen wird. Ein gravierendes Problem.
Gib doch zu, dass alle auf dieser Liste ein Problem für dich sind.
Vorher ist es mir relativ egal gewesen, ich kann nichts dafür...
Den Satz muss ich laut gesagt haben, just in dem Moment steht er wieder neben mir. Ich kann nicht verhindern, dass seinem Blick die Liste sofort ins Auge fällt. Seine Lippen bewegen sich geräuschlos, während er jedes einzelne Wort studiert, jede einzelne Zeile. Jedes einzelne Stück meines Lebens.
Es sind mindestens zehn Minuten vergangen, doch es kommt mir wie eine halbe Ewigkeit vor. Eine halbe Ewigkeit, in der mein komplettes Dasein von einem Sechser oder nicht Sechser analysiert wird und das innerhalb von Sekunden. Wie ein Cyborg, der die ungehinderte Flut an Informationen verarbeitet, ohne jemals etwas anderes getan zu haben...
Innerlich wappne ich mich dazu, von ihm ausgelacht zu werden. Von ihm höhnisch belächelt zu werden, mit den Worten:
„Hätte ich gewusst, dass du gestört bist, hätte ich mich nie mit dir unterhalten!"
„Oh mein Gott - du hast sie ja nicht mehr alle beisammen..."
Soweit kommt es nicht.
Jay beäugt meine Notizen mit einer außergewöhnlichen Ruhe, die sonst noch niemand an den Tag gelegt hätte, hätte jemand anderes es zufällig zu lesen bekommen. Ich beobachte seine Augen, die angestrengt zusammen gezogenen Brauen, die normalerweise entsetzt hoch schnellen - nichts.
Dann legt er das Blatt vorsichtig auf dem Tisch ab, nicht ohne es vorher zu falten. Eine Pyramide.
„Biste Psychologe oder so?", meint er und grinst, seine Eckzähne blitzen im schummrigen Licht des Raumes golden auf. Er schlürft an seiner Limo, ich zucke nur die Achseln.
Sag's ihm. Sag ihm, dass du nen Scheißzwang hast und noch nicht mal rausgehen kannst, weil dich alle schief ansehen...SAG ES!!!
Mein Gewissen ist im Begriff, mich zu killen.
Ich balle meine rechte Hand zur Faust, ganz unbewusst passiert es. Ein Prozess, der schon oft meine aggressive Verhaltensweise eingeläutet und meine Glieder taub gemacht hat. Der Prozess, vor dem ich Angst habe. Der Prozess, der mir falsch erscheint. Und gleichzeitig so richtig.
Ich will ihm keine rein hauen.
Gefolgt von -
Er ist ein Sechser. Du weißt es nur noch nicht.
Meine Faust verharrt. Mitten in der Luft. Ich will das nicht...
„Was ist los mit dir?"
Peinlich berührt lasse ich meine Hand unter dem Tisch verschwinden, die tödlichen Gedanken verstummen. Nur, um im selben Moment von Neuem anzufangen.
Feigling!
C'mon, hör auf, dich zu schämen. Er hat's schließlich gelesen...
Ich weiß darauf nur eins:
F*** you!
Augen zu und durch.
Ich hole tief Luft.
Zögere...
Die nächsten Worte brennen mir in der Kehle.
„Hast du jemals versucht, normal zu sein, auch wenn du es nicht bist?"
Jay fasst diese - offensichtlich rhetorische - Frage mit purer Gelassenheit auf und streicht sich nachdenklich über seine Locken. Die meisten würden gleich weg rennen.
Schweigen, das viel zu lange dauert, hängt über unseren Köpfen. Eisig, ungewiss. Es setzt sich überall in der Bar fest, sickert in die Ohren der Besucher, die eifrig ihr Essen verschlingen. Wiegt sich zum Takt der Musik mit, die urplötzlich leise wird und schließlich...Totenstille. Als hätte jemand einen Schalter umgelegt.
Doch dann -
Mein Gegenüber knetet verlegen seine Handballen, bevor er reagiert.
„Weißt du...normalerweise trinke ich nicht, aber - bei meiner Ex verstehe ich keinen Spaß! Ich musste einfach, verstehst du? Weil...ich...ich bin auch krank!"
Das wird ja immer besser, zwei Gestörte unter sich!!!
_________
Es ist bereits kurz vor Mitternacht. Die Bar hat noch nicht geschlossen, aber langsam wird es Zeit.
Jays Antwort schockiert mich bis ins Mark. So sehr, dass ich mich erneut am Glas festhalten muss, um keine Panikattacke zu riskieren.
Ich warte. Darauf, dass er im nächsten Augenblick das Gesicht verzieht und sich halb totlacht. Darauf, dass ich vielleicht umkippe und er einfach geht, ohne mir zu helfen. Darauf, dass er irgendetwas macht, was mich noch mehr beunruhigt. Er tut es nicht, sondern steht ganz steif. Er lächelt nicht mehr.
Trotzdem muss ich grinsen. Gott, das wird nie enden.
„Dein Ernst?"
Kurz angebunden trägt zu den meisten Fällen von purer Ironie bei, dazu, dass man einen gerade nach Strich und Faden veräppeln will.
Du bist doch gestört, oder? Ich bin's auch, wollen wir Freunde werden?
Ganz bestimmt nicht.
Er lügt. Er muss einfach lügen. Sonst hätte er am Anfang nicht so blöd gegrinst. Es muss so sein.
Meine wirre, spöttische, zynische Gedankenkette wird von der Putzfrau unterbrochen, die schon eifrig den Tresen wischt: „Raus mit euch, dalli dalli!" Das lasse ich mir nicht zweimal sagen.
Kühle Nachtluft peitscht mir entgegen, als ich nach draußen trete. Ich fröstele etwas in meiner kurzen Jacke, verfluche mich, dass ich keinen Hoodie angezogen habe. Aber so sind Irre nun mal.
Geistesabwesend schaue ich nach oben in den sternenverhangenen Himmel, der blasse Mond verbirgt sich hinter einer Wolke. Ob es in dieser Nacht regnen wird?
Ich merke nicht, dass Jay völlig lautlos neben mir steht, er ist echt Meister im Anschleichen. Sein Blick ist immer noch reglos.
„Spuck's aus. Ich werd dir nicht den Kopf abreißen!", versuche ich, ihn zu erreichen. Fehlanzeige. Er sieht mich zwar an, aber mental ist er ganz woanders. Ich scheine ihm wohl wie ein Geist.
Während ich darüber nachdenke, öffnet er endlich den Mund. Es ist nur ein Wort, jedoch reicht es.
„Zeit!"
Ich nicke, ich habe verstanden. Irgendwie.
Er braucht etwas, um es zu erzählen. Lass ihn erstmal, hab Geduld.
Ich werde warten. Irgendwie.
Ich kann nicht anders. Womöglich ist es ungewohnt von mir oder ich kenne das Gefühl selbst nicht. Nur ich kann nicht anders.
Ich kann nicht anders.
Ich ziehe ihn in eine feste Umarmung. So fest, dass ihm die Luft knapp werden könnte. Dann hätte ich ihn umgebracht. Glücklicherweise nicht.
„Morgen um dieselbe Zeit?", als ich mich von ihm wieder löse.
„Ich erzähl dir was von mir und du mir von dir. In Ordnung?" Um den Worten den nötigen Nachdruck zu verleihen, schenke ich ihm mein bestes, warmes Lächeln. Meine Wangen schmerzen dabei.
Er bejaht stumm. Deutet auf das Neonschild an der Tür, was verräterisch flackert. Gelbe, flimmernde Buchstaben, große aneinander gereihte Lettern.
BESTE BAR
„Gleicher Ort, gleiche Zeit?"
Der Lockenkopf senkt sein Kinn herab, geht langsam auf mich zu. Bleibt vor mir stehen, betrachtet mich eine Weile lang. Legt mir seine Jacke um die Schultern.
Einen Lidschlag später hat ihn die Finsternis verschluckt, mit Haut und Haaren. Als hätte er nie existiert. Als wäre er der Geist.
Ich blicke noch etwas die Straße hinunter, versuche, zwischen der endlosen Dunkelheit seine Silhouette zu erhaschen. Er ist weg.
Komplett in Gedanken, die jetzt ruhiger sind als zuvor, schlage ich ebenfalls den Nachhauseweg ein. Und irgendetwas sagt mir, dass ich diesen Typen - Sechser hin oder her - gerade doch lieb gewonnen haben muss.
Ich werde ihn wiedersehen. Sehr bald schon.
So lerne ich Jay Samuelz kennen.
_________________
Die nächste Sitzung bei meinem Therapeuten steht an. Ich hocke in dem ausgefransten Ledersessel und spiele mit der Wolldecke, die über meine Beine geschlungen ist. Garret - ich nenne ihn Gary😁 - sitzt mir gegenüber, die Finger um sein Klemmbrett gelegt. Der Kulli notiert bereits eifrig, obwohl ich noch nichts gesagt habe. 15 Minuten, bis die Stunde anfängt.
Fasziniert betrachte ich die unzähligen Fotos an den schon etwas vor Putz bröckelnden Wänden. Bilder von seiner Familie, von Freunden oder irgendwelchen anderen Patienten, die schon längst ein ganz normales Leben führen können.
Nur für mich ist dort kein Platz.
Alle anderen lächeln verschmitzt in die Kamera, meist sind es Frauen. Oder junge Mädchen, die ein massives Drogenproblem oder Bulimie weg gesteckt haben - nur mit der Hilfe dieses tollen Arztes.
Ein wahrhaft toller Seelenklempner.
Verstohlen blicke ich Gary von der Seite an, seine schlohweiß gefärbten Haare sind das einzige, was hässlich an ihm wirkt. Soweit ich weiß, hat er jedenfalls eine Freundin.
Seine wachen Augen gucken hinter der stylischen, roten Nerdbrille hervor, die ihm einst ein Kollege zum Geburtstag geschenkt hat - was er behauptet.
Für mich wirkt dieser tolle Seelenklempner wie ein Vater. Der Vater, den ich nie hatte und auch nie mehr haben werde. Der Vater, der mir zuhört, mir Rat gibt, bei allen Sorgen und Problemen.
Der Vater, der mich nie abstempeln würde.
Seit ich ihn kenne, ist Gary für mich da gewesen, hat mich beruhigt, wenn ich meine Anfälle hatte. Hat mir zugehört, wenn ich ihm meine Songs vorgespielt und jedes Mal geweint habe, weil es so schön war. Meine Gitarre ist manchmal das Einzige, was mir Halt geben kann.
Gary möchte irgendwann so sein wie sein großes Idol David Garret. Deshalb der ausgefallene Name. Er ist Geiger und tritt jeden Donnerstag im Opernhaus der Stadt auf, zusammen mit einem riesigen Orchester. Ob er das schon immer machen wollte - fragt mich was Leichteres!
Ich erinnere mich noch gut an ein Zitat, was er mir damals eingetrichtert hat, als meine Diagnose festgestellt worden ist. Dieser Spruch stammt aus einem Film mit - the one and only - Will Smith: Das Streben nach Glück. Und dieser Film ist einzigartig.
Lass dir niemals von niemanden einreden, dass du etwas nicht kannst.
Damals hat er gemeint, dass er selbst eigentlich vorher Anwalt werden sollte. Seine Eltern hätten ihn dazu verdonnert, wer auch sonst?
Jahrelang hat Gary immer eins gewollt, anstatt den Forderungen anderer nachzugehen. Er wollte am liebsten Komponist werden, Klavier spielen oder halt eben Violine. Das war der Moment, wo er dem Orchester beigetreten ist und nun seine Passion zur Klassik voll ausleben kann. Ich freue mich für ihn.
Ich wollte nie studieren. Ich wollte mich nie mit nervigen Professoren und Kommilitonen herum schlagen, wo ich am Ende ja doch nichts verdient hätte.
Weißt du, wie viele Menschen einfach studieren, um gar nichts zu haben? Weißt du, wie viele ihr Studium abbrechen und nicht das haben, was sie sich je erträumt haben?
Es sind viel zu viele. Deshalb ist es wichtig, in dieser Welt, solange wir noch leben, unsere Wünsche zu verwirklichen.
Uns zu verwirklichen.
„Dann erzähl mal, Arya!", sagt Gary genau in dem Moment, als sich meine Gedanken zu sehr überschlagen. Er zückt seinen Stift und beginnt eine neue Seite von dem unermüdlichen Papiervorrat auf dem Klemmbrett.
„Fangen wir damit an, deine Wirbelnden Gedanken zu interpretieren. Hast du sie dabei?"
Oh F***!
Ich lächle gequält, ein Zeichen dafür, dass ich meine „Hausaufgaben" vergessen habe. Er hat es aber schon bemerkt. Das ist eine Gabe, die ich jedes Mal aufs Neue bestaune.
Verlegen murmle ich nur ein „Tschuldige" und Garys Stift saust kurz über das Blatt. Dann sagt er eigentlich immer:
Sei doch nicht so vergesslich. Das kann meine Oma ja besser.
Heute erwidert er nichts dergleichen. Heute nickt er nur und fährt fort:
„Okay, halb so wild. Dann sag mir doch einfach, was du bis jetzt so erlebt hast, in Ordnung? Irgendwelche...Vorkommnisse, von denen ich wissen sollte?"
Vorkommnisse. Anderes Wort für meine Aussetzer, bei denen ich nicht mehr Herr über meine Wut bin. Ich schüttle den Kopf.
Stattdessen berichte ich ihm von meiner sonderbaren Begegnung mit Jay. Von dem Gespräch und wie es plötzlich einen unerwarteten Twist gegeben hat, als er mir erzählt hat, dass er angeblich auch krank sei. Denn wenn es so ist, dann müsste Gary ihn doch auch behandeln, oder?
Nach meiner Story über den gestrigen Abend schaut mein Therapeut sofort in dem großen Ordner nach, in dem alle Daten seiner Patienten gesammelt sind. Name, Geburtstag, Wohnort, Hobbys...und das von ungefähr 20 Leuten. Er fühlt nun gerne mal jedem auf den Zahn und das mehr als gründlich.
Jack, Jade, Jason, Jenny...es gibt keinen Jay. Jedenfalls nicht in dieser Praxis.
„Und du glaubst wirklich, dass er lügt?", schlägt Gary nachdenklich die Beine übereinander und blickt mir prüfend in die Augen. Ich zucke die Schultern.
Ganz sicher bin ich mir nicht.
„Ich sag dir was, Arya! Mag sein, dass du Jay misstrauisch gegenüber bist, aber - wenn ihr euch nachher trefft, kommt es ganz anders!" Er rückt seine Brille zurecht, eine Geste, dass die Stunde endlich vorbei ist.
Kurz, bevor ich aus der Tür in die sonnige Freiheit entlassen werde, fügt er noch hinzu:
„Du wirst schon sehen, versprochen!"
Er hat wohl meinen skeptischen Blick bemerkt.
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Zuhause denke ich gar nicht daran, meine Jacke - Jays Jacke - auszuziehen, sondern hole mein Smartphone heraus. Ich muss mehr über ihn in Erfahrung bringen, egal wie.
Ich muss unbedingt heraus finden, wo er behandelt wird.
Denn wenn es nicht Gary ist - wer würde sonst noch in Frage kommen?
Der Name Jay Samuelz scheint auf Google jedenfalls allerhand Ergebnisse zu liefern. Neugierig arbeite ich jedes Resultat ab, hauptsächlich Links zu irgendwelchen YouTube - Videos. Ich schaue mir eins an und bin sofort positiv überrascht:
Er ist ein Rapper! Und zwar ein richtig guter!
Sein kürzlich erschienener Track On my Way sprengt die Trends, hat unzählige Aufrufe. Der nächste Song Freaks and Geeks ebenso, Jay scheint richtig Freude daran zu haben. Auch die Musikvideos dazu sprühen nur so vor Energie, Adrenalin, was irgendwie raus muss. Ich kann gar nicht genug bekommen.
Was erwartest du?, raunt mir mein angeknackstes Hirn empört zu, diesmal muss ich ihm Recht geben. Ausnahmsweise.
Genau, was erwarte ich eigentlich?
Erwarte ich, einen jungen, gleichaltrigen Mann zu sehen, der sich über Gott und die Welt aufregt? Erwarte ich, einen gebrochenen Sechser zu sehen, der sich ritzt und darüber singt, wie scheiße alles ist?
Erwarte ich, dass er sich selbst niedermacht?
Genau in dem Moment wird mir klar, dass seine Äußerung womöglich doch nicht daher geholt gewesen ist.
Siehst du? Bald wirst du eines Besseren belehrt, hallt Garys Stimme in meinem Kopf nach und ich schmunzle. Das werde ich ganz bestimmt.
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Unser zweites Treffen. Jetzt ist es soweit, jetzt gleich werde ich mehr wissen. Ganz bestimmt.
Pünktlich um 22 Uhr gehe ich in die Bar und bestelle mir diesmal nur eine Cola. Jay ist noch nicht da.
Aufgeregt schaue ich mich gründlich nach allen Seiten um, das Lokal ist so gut wie leer.
Ich habe mein Glas schon fast ausgetrunken, als er ankommt.
Jays Schritte sind leise wie immer, seine Augen wirken müde. Tiefe Ringe zieren sein Gesicht, als wäre er gerade erst aufgewacht. Seine Haare, die dichten, wallenden Locken, sind ein bisschen zerrauft. Aber nur ein bisschen.
„Ist hier noch frei?", scherzt er und nimmt neben mir auf dem Hocker Platz, dieselbe Begrüßung wie gestern. Er winkt dem Barkeeper zu:
„Einmal Wasser bitte. Still!"
Interessant. Stille Wasser sind bekanntlich tief...
Während der demotivierte Kellner das Gewünschte zubereitet und im nächsten Augenblick serviert, herrscht im ganzen Lokal eisiges Schweigen. Jay und ich, ich und Jay - wir sagen nichts.
Deshalb bringe ich es widerwillig übers Herz, mit ihm ein harmloses Gespräch anzufangen. Ich kenne ja noch nicht einmal seine Person. Von der Krankheit mal abgesehen...
„Wie alt bist du eigentlich?"
Jay rührt nachdenklich in seinem Getränk, dann antwortet er.
„22! Und du?"
Ich zwinkere ihm zu, so gut es eben geht: „Cool, ich bin ein Jahr jünger! Ich heiße Arya. Arya Lee!"
Er lächelt ein klein wenig.
Für's Erste läuft es doch gut.
„Übrigens sorry wegen gestern!", nuschelt er in sein Shirt hinein und knetet zum wiederholten Male seine Handballen. „Normalerweise bin ich nicht so...so aufdringlich..." Er widmet sich seinem Wasser, studiert den gelben Strohhalm darin, als wäre es ein extraordinäres Objekt.
Du musst ihm langweilig vorkommen, deshalb ignoriert er dich!
So bin ich nun mal. Arya Lee, zwangsgestört und mit einem Hang zur Agoraphobie. Wenn ich keine Grundbedürfnisse erfüllen oder halt zum Sport gehen müsste, wäre mein Dasein zum Scheitern verurteilt.
Jay dagegen ist ein Mysterium für mich. Er gibt vor, ein Sechser zu sein, dabei ist er eine Sieben - und wieder umgekehrt.
Ich frage mich, wie lange er wohl schon rappt. Bestimmt hat er auch vorher Freunde gehabt, denen alles egal gewesen ist. Bestimmt hat er auch Familie gehabt, die ihn unterstützt oder auf ihn herab gesehen hat, mit angewidert rümpfenden Nasen. Bestimmt hat er...ein normales Leben gehabt.
Bis dann der Tag kam, der seine komplette Zukunft nieder gestreckt hat. Ein harter Schlag in den Magen.
Er musste diesen einen Satz hören, aus dem Mund irgendeines bekloppten Arztes:
Tut mir leid, aber Sie sind jetzt für den Rest ihres Lebens geistig angeknackst und müssen damit irgendwie klar kommen. Viel Glück dabei!
Und das ist noch nett ausgedrückt.
Zumindest ist es bei mir so gewesen. Bis ich angefangen habe, mir Fragen zu stellen, immer dieselbe.
Warum ausgerechnet ich?
Warum muss ausgerechnet ich mit einer Zwangsstörung leben, dessen Auslöser eh der ungewollte Tod meines Vaters gewesen ist? Warum muss ausgerechnet ich damit leben, dass ich beim kleinsten Ausrutscher gewalttätig werde? Warum muss ausgerechnet ich damit leben, dass jeder mit dem Finger auf mich zeigt und brüllt: Guck mal, da ist der Verrückte! Obwohl ich versuche, normal zu wirken?
Ich vermute mal, dass Jay Gedanken lesen kann. Oder etwas anderes, was irgendwie dazu beitragen könnte. Jedenfalls dreht er seinen Kopf zu mir und murmelt:
„Ist es nicht komisch? Ich meine...das mit der Normalität?"
Wow.
„Überleg doch mal: Alle Menschen sind normal, das ist in dieser Gesellschaft so verankert. Es ist so, von Anfang an ist es so gewesen und nichts wird sich ändern. Und alles, was aus der Reihe tanzt, wird verachtet - denk doch an die Kriege! Oder die Feindlichkeit gegen Ausländer, all das ist ihrer Meinung nach unnormal und grotesk. Und jetzt sag mir bitte...wer wird noch übrig bleiben, wenn alles irgendwann zum Teufel gejagt worden ist, was wird mit dieser Welt passieren? Was wird passieren, wenn es nur noch Menschen gibt, die dich bei dem kleinsten Fehler schief ansehen? Was wird passieren, wenn diese Menschen sich von dir abwenden, obwohl du sie lieb gewonnen hast?"
Der Junge ist echt auf Zack, muss man ihm lassen.
Darauf weiß ich nichts zu antworten. Nicht, weil ich nicht will, sondern weil mich diese Aussage gerade voll umhaut.
Er hat ausgesprochen, was ich all die Monate lang gedacht und niemals auszusprechen gewagt habe.
Alles, was normal ist, wird verehrt. Und alles, was nicht normal ist, wird verachtet. Das einzige Problem: Diejenigen, die von sich behaupten, nicht normal zu sein, hassen alles, was normal ist. Wo liegt da also der Unterschied?
All diese Dinge habe ich mich gefragt. Jeden Abend, ganz allein, mit meiner Gitarre auf dem Schoß. Jeden Abend habe ich mich gefragt, wer diese Gedanken jemals mit mir teilen kann, wer jemals dieselben Ansichten von der Welt hat wie ich.
Derjenige sitzt neben mir.
Jay wendet sich wieder seinem Glas zu, trinkt einen großen Schluck. Meine Cola ist leer.
„Du...du hast Recht!", versuche ich, eine sinnvolle Antwort zu formulieren und stütze meinen Arm auf den Tresen. Nicht gerade das, was man sich vorstellt, aber immerhin.
Ich atme einmal noch tief durch und lasse dann die Bombe platzen.
Ich berichte ihm von mir. Von meiner Krankheit, wie es angefangen hat und was es heute aus mir gemacht hat. Nur die Liste erwähne ich nicht.
Jay hört aufmerksam zu, nicht das kleinste Lächeln um seine Mundwinkel. Ich beobachte ihn trotzdem beim Reden, seine Füße wackeln ein wenig. Seine Finger krallen sich in die hölzerne Lehne des Hockers, er scheint bestimmt darüber nachzudenken, was ich erzähle. Er scheint es nachzuvollziehen. Alles.
Er scheint nachzuvollziehen, dass er genauso ist wie ich. Er scheint nachzuvollziehen, dass seine Gedanken wie die meinen sind. Er scheint nachzuvollziehen, dass er nicht perfekt ist, sondern dass es noch andere gibt, die ihn verstehen. Auch wenn er nicht gerade gesprächig ist.
Obwohl ich ihn erst seit gestern kenne.
Nach meiner - ziemlich ausschweifenden - Lebensgeschichte, bei der manche Menschen einen triftigen Grund haben, nicht mehr mit mir zu reden, bricht der Lockenkopf sein Schweigen.
„Ich...Ich kann's dir noch nicht sagen! Was mit mir ist, mein ich...ich bin noch nicht bereit!"
Ich weiß. Und ich werde dir alle Zeit der Welt geben, wenn es sein muss.
Das sind nicht meine Gedanken. Das ist nicht mein Gehirn, was da gerade spricht. Es ist irgendjemand, nur nicht ich selbst. Ich bin mir zu hundert Prozent sicher.
Das bin nicht ich!
So ruhig, wie es geht, spricht Jay weiter.
„Wenn ich kann, sag ich es dir, okay? Es ist nur so, dass -"
Er verstummt abrupt, seine Augen weiten sich. Für einen kurzen Augenblick sieht es aus, als ob er gleich flüchten will, sein Blick wirkt gehetzt. Er hat Angst...aber vor wem? Und vor was?
Boah, ist der Typ sensibel...
Meine eben noch aufeinander gepressten Lippen öffnen sich zu einer zaghaften Antwort:
„In Ordnung."
Ich zwinkere ihm zu, obwohl ich diese Geste eigentlich verabscheue. Zu sehr verabscheue.
„Morgen in der BESTEN BAR?", entgegne ich lächelnd, bevor er sich vom Stuhl erhebt und Anstalten macht zu gehen. Mein Grinsen, was mich nervt und wobei meine Wangenknochen so doll weh tun.
Das Grinsen, was ich hasse. An mir selbst.
Jay erwidert mein Lächeln nur widerstrebend, dann ringt er sich durch.
„In der BESTEN BAR!"
Und so trennen sich unsere Wege erneut. Bis zum nächsten Abend.
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Der dritte Abend. Das dritte Treffen. Das dritte Mal, in dem ich nichts über seine Krankheit erfahren kann, weil er so ruhig ist. So verdammt ruhig.
Privat jedoch forsche ich weiter im Netz, doch bis zur zweiten Seite von Google - wo sich die Links nach geschlagener, unermüdlicher Sucherei wiederholen - werde ich nicht fündig.
Vielleicht ist er ja in der Geschlossenen, vermutet mein angeschlagenes Hirn, amüsiert sich über diesen Sechser wie kein anderer.
Oder er hat ein Drogenproblem. Das würde zumindest erklären, warum er nicht redet...der spritzt heimlich, glaub mir!
Mein Gedächtnis ist keine große Hilfe.
Ebenso stumm verläuft das vierte Treffen. Und gleich darauf das Fünfte und Sechste. Jeden Abend, 22 Uhr in der Bar, die außer mir keiner zu kennen scheint. Warum auch, wenn ich keinem von unseren Treffen erzählen kann - außer Gary.
Ich gehe weiter zum Training, boxe alles raus, was geht. Eineinhalb Stunden lang nur dieses dumme, mit Sand gefüllte Etwas und ich. Wenn ich nicht mehr kann, mache ich Liegestütze, gehe bis ans Limit. Aufgeben will ich nicht. Nicht jetzt, in diesen Zeiten, wo mir niemand Beachtung zu schenken scheint. Nicht einmal Jay.
Zurück in meiner Wohnung springe ich unter die kalte Dusche, der eklige Schweiß klebt mir an der Stirn. Noch eine Sache, die ich an mir hasse. Doch sportliche Betätigung ist nun mal mein Ding.
Um halb zwölf bin ich mit dem Frischmachen fertig und schlüpfe in meinen gemütlichen Pyjama, der mir schon fast wieder zu klein wird. Ich kann noch nicht schlafen, es würde nichts bringen. Denn immer, wenn ich die Augen schließe, sehe ich ihn vor mir. Jay. Ich habe keine Ahnung, warum.
Wolltest du ihn eigentlich nicht mehr sehen geschweige denn dich mit ihm treffen?, neckt mich das A**** namens mein Gehirn und lacht viel zu laut über seinen ja so gelungenen Witz.
Vergiss nicht, er ist ein Problem. Und Probleme müssen beseitigt werden. Das weißt du doch, oder?
Das ist eindeutig zu viel.
Ich will irgendetwas zerschlagen. Ich will meinen Kopf gegen die Wand schlagen, bis er endlich Ruhe gibt. Ich will...alles, nur nicht diese Gedanken.
Mein Sichtfeld färbt sich puterrot, wie ein Stier in der Arena vor dem roten Tuch des Matadors. Das Atmen fällt mir schwer, Schweißtröpfchen sammeln sich erneut auf meiner Stirn. Meine Brust hebt und senkt sich viel zu schnell, mein Herz rast.
So fühlt sich also Bruce Banner.
Ich darf die Wut nicht zulassen. Ich muss stark bleiben, ein Kämpfer.
Blind vor der hoch kommenden Aggression taste ich nach der kleinen Schachtel, wo meine Tabletten drin sind. Meine Finger zittern, während ich zwei der winzigen Kapseln zum Mund führe und schnell ein Glas Wasser hinterher stürze. Im Bruchteil einer Sekunde geht es mir schon viel besser und auch meine rasche Atmung wird wieder gleichmäßig.
Das wäre ins Auge gegangen.
Ich muss unbedingt ins Bett. Also lasse ich mich auf meine harte Matratze im Schlafzimmer sinken und augenblicklich falle ich in einen tiefen Schlaf. Über Jay verschwende ich zum Glück keinen einzigen Gedanken mehr, die ganze Nacht nicht mehr.
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Liebes Ich,
es tut mir leid. Wirklich. Ich weiß gerade gar nicht, was los ist, ständig habe ich dieses Ziehen im Bauch. Kennst du das? Kennst du das, wenn etwas Neues passiert, worüber du keine Gewalt hast? Kennst du das, wenn plötzlich alles auseinander bricht und du nichts tun kannst?
Kennst du das, Jay?
Ich habe immer geglaubt, es tatsächlich zu schaffen. Ich habe immer geglaubt, es mit mir zu schaffen. Weißt du, dein Leben ist ein einziges Chaos. Und du tust nichts dagegen.
Deine Musik wird zwar gefeiert, doch du selbst bist fast am Ende. Du selbst bist mit dir nicht zufrieden. Du selbst machst dich jeden Abend, indem du dich mit diesem - diesem Kerl triffst, ein bisschen mehr kaputt. Und du merkst es nicht.
Wann raffst du endlich, dass sich nichts ändern wird? Wann raffst du endlich, dass alle hier nur dein Bestes wollen? Aber nein.
Ich wünschte nur, du verstehst es irgendwann. Ich wünschte nur, du wirst irgendwann hier raus kommen.
Wie dem auch sei: Pass auf dich auf!
In Liebe,
Dein Jay
Der Lockenkopf faltet den Brief sorgfältig zusammen und steckt ihn in den Kasten neben dem Schreibtisch. Dorthin, wo all die anderen sind. Briefe, die er nie verschickt hat und auch nie wird.
All das, was er nicht mit Arya teilen kann, hat er bis jetzt jeden Tag aufgeschrieben. All das ist zu grausam, um es überhaupt weiter zu erzählen.
Deshalb notiert er es. Jeden Tag, jeden Abend nach den heimlichen Treffen. Die Zeit, wo die Pfleger bereits friedlich in ihren Betten liegen und von den Insassen nichts mehr mitbekommen.
Jay weiß, dass er krank ist. Sonst wäre er doch nicht hier.
Hier, in dieser dreckigen, verdorbenen Klinik. Wo man ihn wie Dreck behandelt.
Er darf mit niemand anderem darüber reden, das hat er so für sich selbst entschieden. Er darf sein Geheimnis nicht preisgeben, nicht vor Arya. Er würde ihn nicht verstehen.
Er würde nicht verstehen, dass Jay eigentlich gar nicht existiert.
Er hat keine Ahnung, warum. Geschweige denn wie es angefangen hat.
Er weiß nur, dass sein altes Leben - egal, wie es verlaufen sein mochte - fort ist. Endgültig. Finito, nada. Hat seine sieben Sachen gepackt und sich von ihm verabschiedet, gemeinsam mit seiner Familie und seinen Kumpels.
Seiner Rap - Crew.
Pat, John und T. Drei seiner engsten Freunde, die ihn so akzeptiert haben, wie er war. Vor der Krankheit.
Sie haben gemeinsam auf der Bühne gestanden, Konzerte gegeben und einfach ihr Ding gemacht. An schlechten Tagen, an denen er mal mies drauf gewesen ist, haben sie sich um ihn gekümmert. An guten Tagen haben die Vier rum gealbert oder sind ins örtliche Schwimmbad gegangen , obwohl der Besitzer es ihnen streng verboten hatte.
Pat, ein Muskelprotz, der gerne einen auf Randale gemacht hat, ist immer der Macho in ihrer Gang gewesen:
Selbstbewusst, stark und schlau. Die drei S. Und er konnte gut Mädels klar machen.
Einmal ist Jay in ein 18 - jähriges Mädchen namens Rachel verliebt gewesen. Als er ungefähr 16 war. Das Problem: Sie war eine Spitzensportlerin und spielte Handball in der obersten Liga ihrer Stadt. Sydney United.
Jay selbst kommt aus New Jersey. Er ist also ein waschechter Amerikaner. Und er ist schon immer ein Faultier gewesen...wie also Rachel am besten beeindrucken?
Monatelang haben er und seine Crew über die coolste Methode fachgesimpelt, doch nichts ist dabei rum gekommen - bis Jay dann eines Tages etwas eingefallen ist.
Er könnte einen Rap - Song für sie schreiben und ihn ihr vortragen, während seine Kumpels alles filmen! Und es dauerte auch nicht lange, da wurde die Idee in die Tat umgesetzt.
Was zuallererst kitschig klang, wurde ein voller Erfolg und schon bald bekam Jay die Frau seiner Träume.
Die beiden waren überglücklich miteinander, teilten ihren Eisbecher oder das Bett und lebten einfach nach den Regeln eines frisch verliebten Paares. Der Lockenkopf wollte ihr sogar einen Heiratsantrag machen, woraufhin Pat, John und T schon mal die Feier organisieren sollten - Kuchen, Musik und alles, was dazu gehört.
Tja und beinahe wäre es sogar Wirklichkeit geworden, hätte ihm das Schicksal nicht eines schönen Morgens dazwischen gefunkt.
Er begann, sich tot zu fühlen.
Nicht existent, ein Trugbild. Ein Geist, der in einem menschlichen Körper fest steckt und nicht weiß, wie er raus kommen soll.
Er löcherte Rachel mit Fragen wie Wer sind wir eigentlich? Sind wir nur Menschen oder sind wir etwas ganz anderes? Wofür leben wir eigentlich, um am Ende doch unter der Erde zu liegen?
Und das einen Monat lang.
Für ihn ergab es Sinn, doch für andere...für andere war dies die Hölle, es zu beantworten.
Irgendwann eskalierte es dann, als er sich eines Nachts die Pulsadern aufschlitzte, um zu sehen, ob noch Blut unter seiner Haut floss.
Er besaß noch Blut. Nur es war in Mengen aus seinem Arm heraus geschossen, womit man einen ganzen Brunnen füllen könnte.
Das Letzte, woran er sich erinnern konnte, war, dass man ihn schnurstracks ins Krankenhaus eingeliefert hatte. Dort hatten die Ärzte ihm gesagt, dass es ihnen ein Rätsel sein würde, warum er überhaupt noch lebte. Eigentlich wäre man sofort tot.
Nach einer ausführlichen Untersuchung und mehreren Schmerzmitteln jedoch plus drei Tage Aufenthalt war Jay glücklicherweise wieder fit.
Er hatte daneben geschnitten, nur einen klitzekleinen Zentimeter. Einen Millimeter mehr und es wäre das Ende gewesen.
Wieder zuhause erwartete ihn dann das Unheil, was hinter seinem Rücken versteckt seinen Lauf fortgeführt hatte. Rachel machte Schluss mit ihm.
„Sorry Jay.", hatte sie gemeint und auf ihr Smartphone gestarrt, wo gerade die Nachricht eines Fremden aufgeploppt war.
„Ich kann das nicht, es ist mir zu viel. Ich kann nicht mit einem Irren zusammen sein, der die ganze Zeit über denkt, er wäre nicht mehr auf der Welt, okay? Es tut mir leid..."
Während dem Gespräch hatte sie nur auf das Display ihres Handys geschaut und mit diesem Fremden gesimst - sie hatte einen anderen!
Und der Typ hatte ihr berichtet, dass er seltsam war. Na toll. Er würde ihm persönlich den Hals umdrehen.
Genau das tat er auch und kurz darauf wurde Jay eingewiesen. In diese gottverdammte Psychiatrie, wo ihn keiner mehr besuchen wollte. Selbst seine Freunde nicht mehr.
Wofür auch, wenn man nicht mehr sein konnte?
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Heute Abend steht bereits Treffen Nummer Sieben auf der Tagesordnung. Ich markiere es mir dick und fett im Kalender, dieser Tag wird bestimmt genauso wie die anderen. Genauso stumm, genauso lahm. Genauso monoton.
Ich finde, das solltet ihr feiern.
Heute werde ich nicht pumpen gehen. Es regnet in Strömen, das perfekte Wetter, um heißen Kakao zu trinken und einen guten Film zu gucken. Oder ein spannendes Buch lesen. Oder, wenn man noch ein Kind ist, im Matsch herum springen.
Die Aktivitäten für Normale bei Regen.
Ich halte es bei so einem Wetter für angemessen, meine musikalische Ader zu trainieren.
Das nächste Meeting mit meinem Therapeuten fällt in zwei Wochen erst an, eine gute Gelegenheit, ihm meinen neuen Song zu zeigen.
Einen Namen habe ich noch nicht, aber es soll auf jeden Fall um einen Typen gehen, der plötzlich sein normales Leben hinter sich lassen muss. Aufgrund seiner Krankheit, die ihm alles genommen hat und mit der er durch Höhen und Tiefen gehen muss.
Klingt depressiv, ich weiß.
Mir egal, ob die Lieder irgendwann irgendjemand zu hören bekommen wird, der nicht Gary heißt und mein Seelenklempner ist. Mir egal, was die anderen sagen, über den Text oder die Melodie.
Beides gefällt mir eigentlich, nur einen Namen habe ich eben noch nicht.
Der Beat klingt an manchen Stellen etwas fahrig, aber für meine Zwecke reicht es.
Gerade will ich mich, mit der Gitarre in der Hand, auf die Couch setzen, da klingelt es. An der Tür. Um halb zehn morgens.
Bestimmt nur der Postbote...
Vorsichtig öffne ich einen Spaltbreit, sodass ich einen flüchtigen Blick auf dichte, dunkle Locken haben kann. Die kommen mir fast bekannt vor...
Was macht der denn hier?
Bist du wohl still, ich regle das.
„Verzieh dich, ich übe!", fauche ich wie ein hungriger Löwe vor seiner Beute und versuche, ihm die Tür zu versperren. Er ist hartnäckig.
Jay schiebt die Haustür mit voller Wucht ganz auf, er ist rot im Gesicht.
Der wird doch wohl nicht gelaufen sein? Bei dem Regen?
Na, der hält was aus.
Er keucht im selben Moment und stößt unter ruckartigen Atempausen hervor:
„Ich muss mit dir reden. Jetzt!"
Wenn's denn sein muss...nur zu.
Jays Biografie plättet mich noch mehr. Nicht nur die Tatsache, dass er in der Psychiatrie wohnt, sondern auch:
Ich kenne diese Krankheit!
Jay Samuelz hat das Cotard - Syndrom. Eine Krankheit des Gehirns, wo der Betroffene denkt, er sei tot. Eine wandelnde Leiche, ein Zombie.
Mehr fällt mir nicht dazu ein.
Seine Hände zittern und er schwitzt richtig, seine Augen huschen erschrocken hin und her.
Genau wie vor ein paar Tagen in der Bar...was ist bloß los?
„Ich hab's manchmal...", setzt Jay zaghaft an, seine Zähne klappern aufeinander. Obwohl es hier eigentlich angenehm warm ist.
Ohne auf eine Reaktion meinerseits zu warten, fährt er fort:
„Ich...ich...als ich mich verletzt habe, da - ich habe Angst. Angst vor dem, was noch kommen wird, verstehst du? Meine Freundin hat mich verlassen und es tut mir leid, dass ich einem Kerl wie dir die Ohren voll geheult habe...ich fühle mich schwach, Arya! Und deshalb..."
Der Lockenkopf holt ein zerknittertes Blatt Papier aus seiner Jeanstasche und reicht es mir wortlos.
Ich fange an zu lesen. Jede einzelne Zeile, jedes einzelne Wort. Jeden einzelnen Buchstaben.
Es ist ein Brief. Und zwar nicht irgendeiner.
Jay hat ihn geschrieben und an sich selbst adressiert, wahrscheinlich um seine Gedanken zu ordnen. Und, um sie jemandem zu erzählen, der ihn versteht. Dieser Jemand ist er.
Wahrscheinlich hat er dort, wo er lebt, noch mehr davon. Noch mehr Gedanken auf einem Blatt Papier, Gedanken an die Zukunft oder Vergangenheit. Gedanken, die er mit sich teilen kann.
In diesem Brief schildert er sein vorheriges Leben, ohne die Krankheit, ohne Probleme. Ohne Schmerz.
Jay ist ganz normal zur Schule gegangen, wie ich. Er hat seine Hausaufgaben gemacht. Er hat Freunde gehabt, die ihn verstanden haben. Freunde, mit denen er rappen konnte. Freunde, die für alles zu haben waren. Sogar für die Liebe.
Er wurde akzeptiert.
Nachdem ich fertig bin mit Lesen, kommen mir notgedrungen die Tränen. Tränen, die nicht so leicht weg zu wischen sind und die einen dicken Kloß im Hals bilden.
Tränen, die Mitgefühl zeigen.
Tränen von normalen Menschen.
Zum ersten Mal ist mein Bewusstsein still.
Ich ebenfalls.
Die Stille zwischen uns beiden ist bedrückend. Bedrückend, dass Jay mir gerade die Wahrheit über sich preisgegeben hat. Bedrückend, dass ich dabei weinen muss. Bedrückend, dass ich Mitgefühl zeigen muss.
Moment!
Es dauert eine Weile, bis ich meine Sprache wieder gefunden habe. Ich rutsche auf dem Sofa auf und ab, wie ein unruhiges Kind.
Ich will, dass er geht. Jetzt. Sofort.
„Willst...willst du was richtig Komisches hören?"
Ich lache, wie der Joker, wenn er sein nächstes Opfer abknallt.
Why so serious???
Jays Mundwinkel zucken leicht nach oben. Nur leicht, nichts anderes.
Er ist ein Pessimist. Und was für einer.
Ich bin dran mit Erzählen. Ich erzähle ihm von der Liste, den Dingen, die ich hasse. Dieses Thema habe ich sonst noch nie erzählt.
Jetzt ist es raus.
Mein Gegenüber zögert. Dann räuspert er sich und murmelt:
„Was wirst du tun? Wenn die Liste voll ist...was machst du dann?"
Eine spezielle Frage. Wie nett.
Etwas, worüber ich mir noch nie den Kopf zerbrochen habe und es auch nicht mehr werden werde.
Lass mich in Ruhe. Bitte.
Ich gebe vor, die Frage nicht gehört zu haben und greife wieder nach meiner Gitarre. Ich sehne mich danach, in die zarten Saiten zu greifen und mich in den sanften, aufkommenden Klängen zu verlieren, in eine andere Welt abzudriften.
Die Welt der Musik.
Ich fange leise an zu summen, während ich an den feinen Saiten zupfe und meinen Oberkörper im Takt der Melodie bewege.
Jay sitzt stumm da, seine Augen sind geschlossen. Vielleicht hört er zu. Oder er denkt nach, was er da soeben von sich gegeben hat.
Schließlich steht er auf. Leise. Ich habe es nicht bemerkt. Ich bin zu geistesabwesend.
Genauso leise fällt wenige Sekunden später die Haustür ins Schloss.
Endlich bin ich alleine.
Während der Regen draußen tropft und tropft, spiele ich auf meiner Gitarre, lasse mich treiben. Ich bin eins mit den Tönen, mit der Musik, eins mit mir selbst.
Ich spiele, wie ich noch nie gespielt habe, mal hoch mal tief. Mal traurig mal fröhlich.
Selbst, als es schon dunkel wird und unzählige Sterne am Himmel glitzern, höre ich nicht auf. Der Regen hat aufgehört.
Ich hocke mich im Schneidersitz auf den Balkon meiner Wohnung, die nächtliche Stadt ist ganz klein. Meine Gitarre habe ich nicht weg gelegt, sondern spiele sie immer noch. Ich spiele und spiele, bis mir irgendwann die Lider vor Müdigkeit zu fallen.
Ich muss ein seltsames Bild abgeben.
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Jay hat schlecht geschlafen. Die Anstalt liegt auf einem kleinen Hügel, von wo aus man ganz Berlin sehen kann. Manchmal kann man es sogar hören. Das ungeduldige Hupen der Autos, das Rattern der Busse oder die singenden Vögel am Morgen. So wie jetzt. Vor seinem Fenster.
Die Pfleger haben ihn zusammen gestaucht, weil er gestern so lange weg gewesen ist. Er hätte ja angegriffen werden können oder sonst was.
Pah, die interessieren sich doch keinen Deut für sein Wohlergehen. Die sind froh, wenn es ihnen gut geht.
Jay denkt oft an seine Eltern. An diejenigen, die nichts davon wissen, nichts von seiner Krankheit, seinen Treffen mit Arya oder seinem neuen Zuhause.
Diejenigen, die er verlassen hat.
Für seine Mum ist er immer so etwas wie ein Engel gewesen und sein Dad hat immer gemeint:
Glaub mir Jay. Aus dir wird etwas ganz Besonderes!
Damals ist er ungefähr zehn gewesen.
Damals hat er schon diese Frisur gehabt, die alle beneiden. In New Jersey hat er sogar den Spitznamen Eisenberg gehabt, dem Schauspieler aus Zombieland. Oder er war der Typ der Cheat Codes.
Hier in Deutschland nennt man ihn David Luiz. Ein Fußballer des FC Chelsea. Komplett sinnloser Vergleich.
Doch er hat keine Zeit mehr, sich Gedanken über seinen Haarschnitt zu machen. Die Stahltür seines Zimmers wird aufgestoßen und ein grimmiger Pfleger kommt herein gerauscht, weißer Kittel, Haube und Handschuhe.
„SAMUELZ!", brüllt er ihn an und fördert eine Spritze ans Tageslicht. Jay wird kreidebleich.
Seine Medizin.
Er möchte das nicht, er hat es schon so oft erwähnt. Jedes Mal ist die Antwort dieselbe gewesen.
Jay, wir wollen nur dein Bestes. Also sei brav!
Der Arzt hält die Spritze hoch, die dünne, spitze Nadel funkelt in der aufgehenden Sonne. Darin befindet sich eine undefinierbare Flüssigkeit, silbern. Schwappt hin und her.
Silbern und tödlich. Für ihn.
Seine Kollegen haben keine Probleme damit. Doch er hat ein Problem: Dieses Medikament macht, dass er sich - egal, was es ist - von Tag zu Tag ein bisschen mehr nonexistent fühlt.
Ein bisschen mehr tot.
Jay schüttelt den Kopf, ist wie gelähmt.
Beruhig dich. Es wird alles gut...
Das wird es eben nicht.
Der Pfleger packt ihn grob am Arm und zerrt ihn aus dem Raum auf den kahlen Flur hinaus, grinst hämisch.
„ICH BIN NICHT KRANK!", hätte er am liebsten geschrien und so die anderen darauf hingewiesen, dass sie alle zu Unrecht hier eingesperrt sind.
„ICH BIN NICHT KRANK, WANN KAPIERT IHR DAS ENDLICH? SOGAR MEIN KUMPEL BEHAUPTET KRANK ZU SEIN, OBWOHL ER ES NICHT IST...NUR WEIL IRGENDWELCHE ÄRZTE ES IHM GESAGT HABEN! IRGENDWELCHE ÄRZTE, DIE NICHT DEN CHARAKTER EINER PERSON BEURTEILEN, SONDERN NUR DIE SCHWÄCHEN HERAUS FILTERN...IRGENDWELCHE ÄRZTE, DIE NUR VERURTEILEN KÖNNEN! WERDET VERDAMMT NOCH MAL WACH UND KAPIERT, WAS DIESE LEUTE MIT UNS ANSTELLEN - SONST IST ES DAS ENDE..."
Niemand schenkt ihm Gehör. Niemand beachtet ihn. Niemand hilft.
Sie alle werden kontrolliert und sie merken es einfach nicht. Und er wird nur ausgelacht.
Jay kratzt und beißt, versucht sich aus der harten Umklammerung zu befreien. Er ist zu schwach.
Er wird sterben.
Alle sollen sehen, hören, wie er leidet. Alle sollen sehen, wie schwach er ist.
„BEWEG DICH!", keift der unsanfte Kerl und schubst ihn zu Boden, der harte Asphalt schürft ihm die Hände blutig. „WIRD'S BALD?"
Kein Fluchtweg in Sicht.
Sterne flimmern vor seinen Augen, das ganze Universum. Das ganze Universum lacht ihn aus.
Selbst Arya, der Verräter.
Seine wild umher kreiselnden Gedanken stoppen abrupt. Schmerz macht sich in seinem Körper breit. Lähmend, stechend. Macht ihn taub.
Er sieht das fiese Gesicht des Pflegers vor sich, wie er ihn an lächelt...grausam, schadenfroh.
Ich werde sterben.
STERBEN, STERBEN, STERBEN...
DU WIRST NOCHMAL STERBEN!
Er spürt nichts mehr.
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Vom lauten Plärren der Vögel werde ich wach. Berlin erwacht unter lautem Hupen der Autos oder der Menschen, die geschäftig zur Arbeit hasten. Ich muss nicht arbeiten. Weil ich nichts finde.
Vielleicht sollte ich Musiker werden, Alben aufnehmen und sie auf der Straße verkaufen. Doch auf Dauer wird das nichts.
Die ganze letzte Nacht habe ich unermüdlich an meinem Song gefeilt, habe auf meine Gitarre eingedroschen, bis mir die Finger weh getan haben.
Sie sind ganz wund.
Ich gehe zurück nach drinnen, mache mir Frühstück. Müsli mit getrockneten Früchten, lecker...😑
Mein Kühlschrank ist fast wieder ratzekahl, ich muss unbedingt einkaufen. Noch heute.
Jays Worte gehen mir durch den Kopf. Trampeln durch mein Gehirn, als wäre es eine Dampfwalze. Setzen sich wie ein Parasit dort fest, beherrschen mich. Wie alles in mir.
Was tust du, wenn die Liste voll ist?
Was würde ich machen?
Ich ziehe das Blatt hervor und blicke darauf, die so bekannten Wörter erscheinen mir plötzlich ganz fremd.
Habe ich das jemals geschrieben?
Meine Augen wandern die unterschiedlichen Punkte ab, erst hoch zu Eins, dann runter zur Acht. Wieder hoch zu Sechs. Sechs...
Jay ist ein Sechser - aber was ist ein Sechser? Ich weiß es nicht mehr...
13. Diejenigen, die hinterfragen.
Wer hat hinterfragt? Über was, was zur Hölle ist los mit mir?
Ich fange an zu zittern. Ein eiskalter Schauer jagt über meinen Rücken. Ich bin nicht mehr Herr über mich selbst.
Gary. Ich muss ihn anrufen.
Meine zittrigen Hände greifen nach dem Smartphone vor mir auf dem Tisch, tippen rasch eine Nummer ein. Zweimal piept es, dann höre ich seine Stimme:
„Arya? Was ist los, unsere nächste Sitzung ist doch erst in zwei Wochen..." Er klingt besorgt. Wie immer, wenn ich mich zu früh bei ihm melde. Doch das ist ein Notfall.
„Können wir reden? Jetzt gleich?"
Ich stelle die Frage, als ob es um mein Überleben geht. Bitte sag Ja.
Mein Therapeut seufzt, dann entgegnet er:
„In Ordnung. Ich habe zwar heute frei, aber ich denke, für dich kann ich mal ein paar Stunden opfern! Bis gleich!"
Er legt auf.
Ich habe noch 30 Minuten, bevor mein Termin bei Gary los geht. Und da seine Praxis wenige Meter vom nächsten Shopping Center entfernt ist, jogge ich sofort hin.
Einen Führerschein habe ich auch noch nicht, nur mal so am Rande. Kids, überlegt euch gut, ob ihr später Auto fahren wollt oder lieber Bahn - denn in dieser Stadt kann einiges schief gehen!
Ich hasse Bus fahren, da ist es viel zu stickig und es sind zu viele Menschen, die dich erdrücken können. Bei lebendigem Leibe!
Züge sind gechillter. Zug fahren stresst nicht so oft, weil die Kontrollen immer weniger werden. Zumindest hier...
Inzwischen habe ich die Mall ereicht und werfe wahllos Snacks in den Einkaufswagen. Chips, Schokolade, Limo, Äpfel...was denn? Schließlich bin ich gestört, schon vergessen? Ich kann entscheiden, was ich esse. Und bekanntlich tut's auch mal Pizza in schwierigen Zeiten.
Was für eine Störung habe ich eigentlich?
Auf dem Weg zur Kasse wird mir schwindelig, nachdem ich bezahlt habe, stolpere ich zum Ausgang.
Was ist bloß falsch mit mir???
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Als Jay zu sich kommt, befindet er sich im Himmel. Er denkt es.
Und doch sieht alles hier so wunderschön aus: Die Decke und der Boden sind nicht mehr kahl, sondern sind einer satten, grünen Wiese gewichen. Ringsum stehen riesige Bäume, mit leckeren Früchten dran. Ein kleiner Bach plätschert ruhig vor sich hin, der unter einer Brücke gemütlich in seinem Bett fließt.
Ein mit rosa Blüten gepflasterter Weg führt zu einem runden Torbogen, der mit grünen Ranken umschlungen ist. In der Mitte steht eine zierliche, weibliche Gestalt und winkt ihm zu.
Ist das etwa...
Es ist Rachel.
Jay winkt mit klopfendem Herzen zurück und stürmt auf seine Freundin zu, die beiden umarmen sich überschwänglich. So überschwänglich, dass ihm der Atem stockt.
„R - Rachel...was machst du hier? Und...wo bin ich?", keucht er, als er sich endlich von ihr lösen und ihr in die haselnussbraunen Augen schauen kann. Erst jetzt fällt ihm auf, dass sie ein weißes Kleid trägt. Und auf ihrem wundervollen, kunstvoll hoch gesteckten Haar prangt eine Krone. Wie ein Disney - Märchen. Zudem scheint sie sogar ein ganzes Stück gewachsen zu sein.
Gerade will der Lockenkopf fragen, warum sie so verwegen aussieht - da tippt ihn jemand von hinten auf die Schulter.
Er traut seinen Augen nicht.
„Dude, wir haben dich vermisst!", ruft Pat und boxt ihm freundschaftlich in die Seite, während der eher ruhige John ihm verschmitzt zu lächelt. Von T ist nichts zu sehen.
Beide tragen Anzüge mit Ansteckrosen dran, was für ihre Verhältnisse vielleicht etwas zu fein wirkt. Doch Jay ist zu verwirrt, um darüber nachzudenken.
„W - Was geht hier ab?", stottert er und blickt sich um, das muss ein Traum sein.
Pat zwinkert: „Weißt du's nicht mehr? Heute ist deine Hochzeit, mann!"
Jay ist völlig von den Socken. Hochzeit? Etwa mit Rachel? Was ist hier los, träumt er das alles nur???
Probehalber kneift er sich in den Arm - alles noch da. Sein Herz macht einen Luftsprung.
Er hat echt geglaubt, dass sie ihn eiskalt abserviert hat...dabei akzeptiert sie ihn doch. Das tun alle. Sein innigster Wunsch geht endlich in Erfüllung.
Im selben Moment ertönt die bekannte Hochzeits - Melodie und ein Pfarrer schreitet anmutig durch den Torbogen. Seine dunkle Robe weht majestätisch im Wind und hinter ihm schwenken zwei kleine Mädchen einen randvollen Korb mit noch mehr rosa Blüten.
Der Geistliche geht zu einem Podest, worauf das Buch mit der Rede schon bereit liegt, die Kinder stellen sich jeweils links und rechts neben ihm auf.
Bänke wie in der Kirche, ebenfalls mit Blüten geschmückt, reihen sich am Rand des Mittelgangs aneinander. Viele sind schon erwartungsvoll besetzt:
Jay treten Tränen in die Augen. Ganz in der ersten Reihe sitzen seine Eltern. Seine Mum sieht so glücklich aus und sein Vater scheint ebenfalls zufrieden zu sein. Ihr Sohn hat es geschafft.
Zwei Reihen dahinter nehmen seine beiden Kumpels ihre Plätze ein, während Arya -
Er ist auch gekommen -
ihm von einer erhöhten Bühne wenige Meter neben dem Altar Daumen hoch zeigt. Dort steht ein Barhocker und ein Mikrofon.
Er hat seine Gitarre mitgebracht!
Rachels gesamte Mannschaft ist ebenfalls anwesend. Ganz Sydney scheint hier zu sein und das fröhliche Ereignis herbei zu sehnen.
Einige ihrer Freundinnen halten selbst gebastelte Schilder in die Höhe:
WIR LIEBEN DICH, RISING STAR!!!
RISE LIKE RACHEL!
DAS GLÜCK IST LÄNGST AUF EURER SEITE!
Jay schmunzelt. Rising Star war ihr Spitzname in der Liga, bevor sie ausgetreten ist. Bevor sie begonnen hat, ihn zu lieben.
Und er ist so dankbar dafür.
Wohltuende Gänsehaut lässt seinen Körper erstarren, als Rachel nach seiner Hand greift und sie ganz fest drückt. Jay schwebt wie auf Wolke Sieben.
Der Pastor leitet die Zeremonie ein, bittet um Ruhe. Totenstille senkt sich über die Gesellschaft, hier und da blitzt der Auslöser einer Videokamera.
„Wir sind heute hier versammelt, um zwei besonders junge Menschen in den Bund der Ehe aufzunehmen..."
Das übliche Geschwafel.
Doch nach wenigen Minuten ist es endlich soweit: Pat und John erheben sich von ihren Plätzen und bekommen vom Pfarrer eine kleine Schatulle überreicht, verziert mit goldenen Ornamenten. Die beiden bedeuten Rachel, nach vorne vor den Altar zu treten und ihren Ring entgegen zu nehmen.
Sie tut wie ihr geheißen und lässt sich von Jays Kumpel auch noch den zweiten Ring in die geöffnete Hand geben, dann geht er zu ihr.
Nach dem Ringwechsel kommt der große Moment.
Der Geistliche verliest den zweiten Teil seiner Rede und schließlich ist er am Ende angelangt. Die berühmten Worte folgen.
„Rachel Higgins. Möchtest du Jay Samuelz zu deinem rechtlich angetrauten Ehemann nehmen, ihn ehren und achten, in guten wie in schlechten Zeiten?"
Sie blickt ihn aus ihren nussbraunen Pupillen liebevoll an.
Der Priester fährt fort und wendet sich dem Lockenkopf zu:
„Nun frage ich dich, Jay Samuelz. Möchtest du Rachel Higgins zu deiner Frau nehmen, sie ehren und achten, in guten wie in schlechten Zeiten?"
Jay lächelt. Rachel lächelt zurück. Alle im Hintergrund sind angespannt, können es kaum noch abwarten.
SAGT ES ENDLICH!
Ganz lange schauen sich die beiden in die Augen, zu lange. Die Audienz rutscht unruhig hin und her.
Im nächsten Augenblick wispert Rachel in sein Ohr:
„Ja, ich will!"
Jays Herz steht in Flammen.
Er holt tief Luft und sucht die Blicke seiner Eltern, ihr ganzes Leben haben sie auf diesen Tag gewartet. Die offizielle Bestätigung, dass seine Zukunft nur Gutes für ihn bereit hält.
Er beugt sich vor und wiederholt.
„Ja, ich will!"
Der Pfarrer hebt feierlich die Hände und verkündet.
„Kraft meines Amtes erkläre ich Sie hiermit zu Mann und Frau. Und Mr. Samuelz, wenn ich bitten dürfte..."
Sein Herz brennt lichterloh.
„Sie dürfen die Braut jetzt küssen!"
Tausende Volt rasen durch seinen lodernden Körper, als ihre beiden Münder sich sanft aufeinander pressen. Ein kleines Feuerwerk explodiert um sie herum, während der Applaus los bricht.
Pat und John liegen sich in den Armen vor Freude, seine Eltern klatschen viel zu laut und Arya - er schenkt ihm das wärmste Lächeln, was er je besessen hat.
Jay ist überglücklich.
Jetzt kann einfach nichts mehr schief gehen.
Rachels Team brüllt:
„1:0 FÜR DIE LIEBE, STAR!"
„WILLKOMMEN IM TEAM DES GLÜCKS, GIRL!"
„DU HAST ENDLICH DEN POKAL NACH HAUSE GEHOLT..."
Sie wird von den anderen Mädchen in die Luft gehoben, als wäre sie aus Watte und johlend über das Gras getragen, sie quiekt vor Lachen.
Jay beobachtet sie. Noch nie zuvor hat er sich so gut gefühlt. Sein Herz pocht wild in seiner Brust, hüpft auf und ab. Er ist immer noch ganz benebelt von dem Kuss.
Erneut ist es im Publikum still geworden und alle starren gebannt zu der kleinen Empore neben dem Altar. Arya sitzt auf dem Hocker, sodass das Mikro genau vor seiner Nase steht. Er lächelt und seine Stimme hallt durch die Sitzreihen. Sie klingt wesentlich älter und auch sein Äußeres hat sich merklich verändert. Unter dem Kinn sprießen Bartstoppeln und seine Haare hängen ihm in dunklen Strähnen ins Gesicht.
Wie viel Zeit wohl schon vergangen ist?
„Jay, Rachel - herzlichen Glückwunsch zu eurer Trauung! Ich kann euch gar nicht sagen, wie sehr ich mich freue, euch beide so glücklich zu sehen. Deshalb habe ich extra ein Lied komponiert, nur für euch...ich hoffe, es gefällt euch!"
Mit diesen Worten nimmt er seine Gitarre vom Boden auf und setzt zu spielen an, die Töne formen sich wie von selbst. Zarte, gefühlvolle Klänge verlassen das Instrument, schweben kurz in der Luft und verebben dann.
Er singt. Etwas, was Jay nie gehört hat. Und er genießt es.
Once there was just me and you,
we were just friends,
just sitting in school or hanging around,
but now we're two.
You said that love wasn't made for you,
but I always told you: Be polite!
Then you always looked up,
to the shiny and bright stars.
Oh, love is blind,
but sometimes it's getting better,
sometimes - well - it's getting greater.
Love can be so cruel and chasing,
but for you it's so much different.
You are made for each other,
that's what I ever said,
listen to your heart, it's dancing around,
cause love even have chosen you!
Obwohl es nur ein kurzer Text gewesen ist, applaudieren die Zuschauer erneut und Arya verbeugt sich. Er winkt John zu sich, der nun am Flügel in der hinteren Ecke der Bühne Platz nimmt und den gemeinsamen Hochzeits - Tanz einleitet.
Jay hat gar nicht gewusst, dass sein Rap - Kumpel auch noch Klavier spielen kann. Das passt so gar nicht zu ihm...na ja, aber er ist eben einer von der ruhigen Sorte Mensch.
Er schielt hinüber zu Pat, der etwas desinteressiert die Gruppe von Tanzenden beäugt.
Und ist da etwa noch Neid im Spiel?
Der Lockenkopf lässt seine Frau kurz allein und zieht den Muskelprotz in eine Ecke. Hier ist die Klaviermusik etwas leiser.
„Was ist, Bro?", meint er und legt Pat eine Hand auf die Schulter. „Du kannst mir alles sagen, okay?"
Der Rapper zögert, öffnet seine Lippen zu einer Antwort - und was er sagt, treibt Jay alle Farbe aus dem erröteten Gesicht:
„Jay...du bist tot..."
Sein Gegenüber versteht die Welt nicht mehr.
Er soll tot sein?
Dann ist das alles hier doch nur ein Traum? Ist er etwa immer noch in der Klinik? Halluziniert er wegen der Medizin? Was geht hier vor?
„Pat...das muss ein Missverständnis sein! Ich stehe doch vor dir, siehst du?" Zur Verstärkung seiner Worte breitet er die Arme aus, um seinem Freund zu zeigen, dass er vollkommen lebendig ist.
Sein Kumpel wird bleich. Nein, mehr als das. Er zittert vor Angst, weicht vor Jay einige Schritte zurück.
„DU...DU BIST TOT! RACHEL HAT EINE LEICHE GEHEIRATET...WIE IN DIESEM FILM VON TIM BURTON...HINFORT MIT DIR, DU MONSTER!"
Er fuchtelt wild mit den Armen, brüllt. Die Musik im Hintergrund verstummt, alle Köpfe drehen sich zu den beiden um. Sydney United hat ihre Luft - Polognaise beendet.
Und dann schreien alle. Sie schreien und rennen in alle Richtungen davon, hinterlassen eine Spur der Verwüstung auf der schönen, grünen Wiese. Jay hat keine Ahnung, was überhaupt los ist.
Rachel läuft auf ihn zu, ihr Kleid ist zerrissen und hängt in Fetzen von ihrer Haut.
Sie schlägt ihn.
„MONSTER! WARUM NUR HABE ICH DICH GEHEIRATET, WARUM? VERRAT ES MIR...OH, DU KANNST ES JA GAR NICHT, WEIL DU GESTORBEN BIST..."
Sie lacht. Ein kaltes, grauenvolles Lachen, was nicht menschlich wirkt.
Was überhaupt nicht mehr ihre Stimme ist...
Rachel verwandelt sich. Sie verwandelt sich in den Pfleger mit der Spritze, bucklig und vor Schadenfreude grinsend.
„NIMM DEINE MEDIZIN...SEI EIN BRAVER JUNGE..."
Er kommt näher und näher, Jay kneift die Augen zusammen.
Ein noch lauterer Schrei hallt durch die gekippte Szenerie, dessen Umgebung sich ebenfalls in die Anstalt zurück verwandelt.
Es ist sein eigener.
Doch bevor der Pfleger die Nadel ein weiteres Mal in ihn rammen kann, gibt der Boden unter ihm nach.
Und Jay stürzt in die Tiefe. Er fällt und fällt...
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...und prallt hart auf den Asphalt. Sein ganzer Kopf dreht sich von den Medikamenten, sein Arm ist wie gelähmt.
Er hat Rachel geheiratet...doch es ist nicht real gewesen.
Wie alles in seinem verbitterten Leben.
Heiße Tränen rinnen ihm die Wangen herab, heiß und verdorben.
Jay schluchzt auf und vergräbt sein Gesicht im kalten Boden unter sich, niemand soll ihn weinen sehen. Oder gar hören.
Er wird nie normal werden. Nie mehr.
Er ist eine wandelnde Leiche. Und das wird immer so bleiben.
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Ich muss ungefähr zehnmal klingeln, bis Gary endlich die Tür öffnet. Mein Therapeut ist offenbar gerade mitten in der Übungsphase: Er hält seine Violine in der linken Hand, während er sich mit dem Bogen am Kopf kratzt.
Er trägt Häschen - Pantoffeln und Boxershorts, als hätte er sich gerade erst für den Tag fertig gemacht. Na ja, fertig sieht anders aus.
„Arya, wo drückt der Schuh?", begrüßt er mich, ich dränge mich wortlos an ihm vorbei in die Wohnung.
Er hat nicht aufgeräumt, das erkenne ich sofort. Ich muss mich durch herum liegende Klamotten, angebrochene Chipstüten und chinesisches Essen in Pappbehältern den Weg zu seinem Arbeitszimmer kämpfen. Gary folgt mir, beseitigt das Chaos nur widerstrebend. Glücklicherweise landet vieles gleich im Mülleimer.
„Tschuldige für...das hier!", sagt er zähneknirschend und rupft eine verirrte Luftschlange von der Deckenlampe, lässt sich erleichtert in den Sessel plumpsen. Nicht, ohne seine Geige vorher noch in Sicherheit zu bringen.
„Meine Tochter hat ihre Zulassung für die Uni erhalten und gestern Abend ordentlich gefeiert - das war vielleicht laut, sag ich dir!"
Kann ich mir vorstellen.
Seine Tochter. Laura heißt sie, auch schon fast 20. Ganz der Vater - perfekt und fürsorglich.
Eine gelungene Zwölf.
Hä???
Mein Gedächtnis sendet eine Fehlermeldung: error. data cannot be found, please try again...
Die Hitze nimmt kein Ende, kontrolliert meinen Körper erneut. Ich huste, fechle mir schwer atmend Luft zu - nach wenigen Minuten geht es wieder.
Gary nimmt sein Klemmbrett und schaut über den Rand seiner Brille: „Also, was genau führt dich her?"
Ein zweiter Huster entweicht mir, bevor ich antworten kann.
„Ich hab dir doch letztens von Jay erzählt...du hattest Recht, er ist krank! Aber - wie soll ich sagen, er - "
Ich stocke. Es will mir nicht über die Lippen kommen, verdammt!
Dann eben auf die harte Tour.
„Jay ist tot! Ich meine, nicht wirklich, er...er fühlt sich, als wäre er es...und ich muss die ganze Zeit an ihn denken!", sprudelt es aus mir hervor, obwohl ich eben noch keinen einzigen Ton hervor gebracht habe.
Wie ein Wasserfall.
Mein Seelenklempner nickt nur. Nickt und notiert eifrig, der Stift huscht über das Papier.
Nach einer Weile entgegnet er:
„Das ist doch schön. Ich will damit sagen, dass du jetzt wahrscheinlich deine Zwölf gefunden hast, oder? Obwohl er nicht dem entspricht, was du dir wünschst..."
ER HAT MEIN SCHEMA ZERSTÖRT! UND ER HAT GEMACHT, DASS ICH JETZT NUR NOCH AN IHN DENKEN MUSS, DASS ICH MICH UM IHN SORGE...UND DU REDEST, ALS WÄRE DAS NICHTS!!!
Ich kann ihn nicht anschreien. Ich kann ihn nicht...schlagen. Ich kann ihn nicht verurteilen, ohne dass auch nur ein Hauch von Zynismus in seinem Tonfall mit schwingt.
Triefender, ruchloser Zynismus. Den mein Hirn irgendwie nicht mehr an sich ran lässt.
Was hat mein Hirn denn jemals an sich heran gelassen???
„Garret, ich..."
Noch nie habe ich ihn bei seinem vollen Namen genannt. Bis jetzt ist er immer Gary gewesen.
Oh Gott, was zum Teufel ist bloß falsch mit mir...????
Mit brüchiger Stimme wage ich einen zweiten Versuch.
„Ich...Jay war bei mir, gestern! Ich wollte eigentlich meinen neuen Song üben - und da hat er mich gefragt, was ich tun würde, wenn meine Liste abgeschlossen sein würde. Ich habe nicht reagiert, bin die ganze Nacht wach geblieben und habe auf meiner Gitarre gespielt! Die ganze Nacht, das ist doch verrückt...jedenfalls...jedenfalls geht er mir jetzt nicht mehr aus dem Kopf und da wollte ich dich um Hilfe bitten! Sag, kennst du die Antwort?"
Mein Therapeut grübelt. Es sieht äußerst ulkig aus, wie er so da hockt und sich langsam Falten auf seiner Stirn bilden.
Egal, wie die Antwort lautet - sie muss mir helfen.
Schweigen.
Schweigen, was ich hasse.
Schweigen, was ich schon so oft bei ihm erlebt und es jedes Mal verabscheut habe.
Schweigen, das viel zu lange dauert.
Dann endlich kommt Bewegung in die Stirn vor mir und Gary trommelt mit den Fingern auf das Klemmbrett. Er wirkt nervös.
Er ist unsicher, ob dir seine Reaktion gefallen wird.
Langsam, ganz langsam, beugt er sich in seinem Sessel vor. Fummelt verlegen an seiner Brille herum, die ihm schief auf der Nase hängt.
Er öffnet den Mund:
„Ich denke einfach, dass..."
Was? Komm schon, erzähl es mir...
Das laute Schrillen eines Weckers aus der Küche lässt mich zusammen zucken und Gary springt auf, greift sich seine Violine.
„Mist, das habe ich glatt vergessen! Meine...Meine Probe für das nächste Konzert ist um 17 Uhr und ich muss bis dahin fertig sein mit Üben. Tut mir leid, ich...du musst jetzt gehen, in Ordnung?"
Ich protestiere nicht. Dafür mag ich ihn zu sehr.
Einen Vater kann man nicht verurteilen. Er ist auch nicht perfekt.
Stumm gehe ich also wieder Richtung Tür, winke ihm zum Abschied zu.
„Bis zum nächsten Mal, Arya!", lächelt er mitfühlend und erwidert die Geste, so gut es mit einer Geige in der Hand eben geht.
Ich merke, dass er noch was sagen will. So etwas wie Tut mir leid, dass ich dir nicht helfen konnte oder Hoffentlich findest du, was du suchst!
Aber er tut es nicht.
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Der Heimweg kommt mir beinahe wie eine halbe Ewigkeit vor, so sehr trödle ich herum. In meinem Kopf veranstaltet alles eine wilde Achterbahnfahrt, mit doppeltem Looping in Endlosschleife.
Jay, Jay, Jay!
Seit gestern Nachmittag denke ich nur noch an ihn, etwas anderes geht nicht. Ich komme nicht damit klar.
Ich hasse ihn dafür. Ich hasse ihn dafür, dass er mich nicht mehr los lässt. Ich hasse ihn dafür, dass ich mich um ihn sorge. Ich hasse ihn dafür, dass ich Angst um ihn habe.
Bevor ich ihn kennen gelernt habe, da habe ich mich fast nur versteckt. Versteckt vor der bösen Welt dort draußen, die bei dem kleinsten Fehler auf dich herab sieht und verurteilt, negativ bewertet. Die Welt, die mich all die Jahre herum geschubst und beschimpft hat. Die Welt, die scheinbar nichts anderes kann.
Ich habe immer gedacht, dass das sinnlose Abschlachten aus der Vergangenheit zu mehr Selbsterkenntnis geführt hat, sich die dafür verantwortlichen Menschen umdrehen und sagen:
Ja, ich bin's gewesen. Und es war falsch, die ganze Zeit über! Hätte ich doch nur gewusst, dass alle ein Recht auf ihre Existenz haben...
Stattdessen hüllen sich die Überlebenden in Schweigen, sehen zu, wie sich die Geschichte langsam aber sicher wiederholt.
Und das bezeichnet man als normal.
Ich wünsche mir nur, dass dies alles nicht als normal angesehen wird.
Mal ehrlich: Gilt es als normal, wenn einer den totalen Krieg anzettelt und unschuldige Menschen ihrem Dasein beraubt? Gilt es als normal, wenn niemand etwas tut, um dem ein Ende zu bereiten? Gilt es als normal, wenn man einer einzelnen Person Macht über ein kleines Volk gibt und diese Person damit anstellt, was sie will?
Nicht umsonst hat Abraham Lincoln diesen einen Satz gesagt. Er allein hat vom sinnlosen Töten nichts gehalten und die Menschen so gesehen, wie sie sind.
Wenn du den wahren Charakter eines Menschen erkennen willst, so gib ihm Macht.
Viele haben damit nur bewiesen, dass sie kalt und herzlos gegenüber denen sind, die die Chance auf ein normales Leben verwehrt bekommen.
Wie Jay und ich.
Wir beide sind Probleme. Und Probleme müssen beseitigt werden.
Mein tödliches Bewusstsein hat Recht gehabt. Wenigstens einmal.
Jedoch...
Was wird wirklich passieren, wenn meine Liste abgehakt ist, der letzte Punkt notiert ist? Was wird geschehen, wird vielleicht alles gut werden? Oder noch schlimmer?
Ich habe absolut keine Ahnung.
Reflexartig muss ich grinsen, über beide Ohren. Aus dem Grinsen wird ein Lächeln und schließlich ein schrilles Lachen, so laut, dass mir wieder die Wangen schmerzen.
Jay ist echt ein Idiot. Er hat mein komplettes Hirn eingenommen und mich dazu gebracht, Tag und Nacht ihn nicht zu vergessen.
Er hat mich dazu gebracht, dass ich meine Krankheit für einen Moment vergessen habe. Und es womöglich in naher Zukunft noch immer tun werde.
Es wird besser mit ihm. Wenn er da ist. Seine Gegenwart vermag mich zu heilen, ganz sicher.
Ich bin an meiner Wohnung angekommen, meine Brust schmerzt vor Lachen. Ich keuche schwer und zähle langsam von Fünf runter.
4...
3...
2...
1!
Geschafft, ich kann wieder atmen.
Ich schließe die Tür auf und schleppe mich Richtung Wohnzimmer, dem Raum, in dem er es mir erzählt hat. Gerade will ich mich auf die Couch fallen lassen und mir eine DVD einlegen,(was eigentlich sinnlos ist, denn in der Reihenfolge müsste man ja wieder aufstehen...😕)als mir etwas klar wird. Etwas, was Jay mir nie verraten hat und was ich trotzdem spüren kann. Der wahre Grund, warum er mich über die Liste gefragt hat.
Die Antwort hat die ganze Zeit über vor meiner Nase gelegen und ich habe es nicht bemerkt.
Jay ist die Antwort.
Er ist die letzte Nummer auf meiner Liste, er ist der Grund. Er, ein dummer Fehler meines dummen Hirns. Er, mit einer Krankheit behaftet, die mir Angst macht.
Mein Entschluss steht fest.
Ich muss Jay aus der Klinik holen, irgendwie. Ihn irgendwie dort raus boxen und mit ihm irgendwohin fliehen, wo wir beide keine Probleme mehr für andere darstellen.
Genau das werde ich tun.
Was soll schon passieren?
_________________________
Liebes Ich,
dies wird mein letzter Brief sein. Ich kann nicht mehr, ich bin am Ende mit allem. Ich habe geträumt. Ich habe von dir geträumt, Jay...und es ist richtig schön gewesen. Du hast Rachel geheiratet, deine große Liebe, weißt du noch? Weißt du noch, all die coolen Sachen, die du mit Pat, John und T gemacht hast? Sie haben dir die Frau fürs Leben gefunden und mit 28 hast du sie geheiratet. Endlich...das, was du immer gewollt hast! Ist es nicht so?
Es ist nur ein Traum gewesen, ein verdammter Traum. Für einen Augenblick habe ich gedacht, sie würden dich akzeptieren, so wie du nun mal bist. Stattdessen haben sie dich fertig gemacht, wie es alle tun.
Wie Arya.
Selbst er mag dich nicht, das ist dir klar, oder? Du bist eine Gefahr für ihn, ein Problem. Das kann ich spüren.
Es ist besser so, glaube mir.
Du kannst alles vergessen, den ganzen Frust, den Schmerz...nichts wird mehr wie vorher, wenn du erstmal erlöst bist. Du wirst glücklich sein.
Geh es langsam an, am besten heute Nacht, ganz heimlich und leise. Genauso, als du dich für die Treffen weg geschlichen hast.
Du hast jeden Abend dort gesessen, hast jeden Abend das Gleiche gemacht - vor dich hin sinniert, wie es enden soll. Das hast du getan und nichts anderes, während Arya dir sein Herz buchstäblich ausgeschüttet hat.
Aber das ist Vergangenheit, zu schrecklich, um wahr zu sein. Niemand akzeptiert dich, niemand mag dich.
Mit diesem Brief möchte ich dir eigentlich nur sagen, dass ich dich hasse.
Ich hasse dich, Jay Samuelz!
Zufrieden? Je mehr du mit dir selbst beschäftigt bist, alles in dich rein frisst, desto weniger mag dich jemand.
Deshalb ist das nur der einzige Ausweg, vertrau mir.
Du wirst dich sofort besser fühlen, wenn du erstmal weißt, wie sich der Tod wirklich anfühlt.
Am Anfang zögerst du bestimmt, das ist ganz üblich. Doch dann kannst du es, du schaffst das.
Geh heute Abend um 20 Uhr zu den alten Bahngleisen, um diese Zeit kommt der letzte Zug immer an. Nein, lieber fünf Minuten vorher, dann ist es nicht so schnell vorbei...
Du packst das!
In ewiger und unerwarteter Liebe,
Dein Jay
Eine einzelne Träne rollt dem Lockenkopf über die Wange, während er die Zeilen schreibt. Er hat keine Nerven mehr, für gar nichts.
Draußen vor dem Fenster wird es dunkel, die Sonne wirft noch ein letztes Mal ihren langen Schatten, bevor sie sich für den nächsten Tag ausruht.
Jay lächelt ein klein wenig und wischt sich die Träne ab, er wird es vermissen.
All die Abende mit Arya, in der Bar...der liebliche Klang seiner Gitarre...die krassen Abenteuer mit seiner Rap - Crew.
All das wird bald nicht mehr sein.
Niemand wird ihn vermissen. Da ist er sich sicher.
Und warum sollte es auch noch irgendjemand tun, wenn es schon vorher niemand getan hat?
Noch eine Stunde, dann wird er es durchziehen. Und die will er nutzen. Schließlich muss er sich noch verabschieden.
_________________
Ich checke mal wieder Google ab, diesmal tippe ich Psychiatrie Berlin ein. Warum ist mir das nicht früher eingefallen?
Ein Treffer: Nervenheilanstalt Spandau - eine halbe Stunde von meiner Wohnung weg. Perfekt!
Kurzentschlossen will ich los, da piept mein Handy. Eine Nachricht, Nummer unbekannt.
Meine Augen huschen über das Geschriebene, zwei einzelne Wörter.
Zwei Wörter, die mich noch mehr verstören.
Leb wohl!
Mir dreht sich der Magen um, bleierne Schwere legt sich auf meinen Brustkorb.
Obwohl ich den Absender nicht kenne, weiß ich ganz genau, wer diese Nachricht geschickt hat.
Und dieser Jemand wird sich umbringen. Nur wegen mir.
F***, F***, F***!
Ich muss ihn aufhalten. Koste es was es wolle!
______________
Jay denkt nicht dran, zu Arya zu gehen und sich persönlich zu verabschieden. Wofür hat man schließlich WhatsApp?
19:30. Die Zeit rennt. Noch eine halbe Stunde, dann wird es vorbei sein. Wird alles vorbei sein.
Er fragt sich, ob er bereits früher diese Gedanken über seinen Suizid gehabt hat. Ob es Leute gegeben hat, die dafür gesorgt haben.
Rachel ist ganz klar eine von ihnen.
Er hat Angst. Angst, wie es sein wird. Manche beschreiben den Tod als sanftes Ableben, andere wiederum als grausam und schmerzvoll. Er hofft auf letzteres.
Jay verdient keinen sanften Tod. Er ist zu kaputt, um das zu haben.
Alle verdienen ihn nicht.
19:45.
Es ist soweit. Noch wenige Minuten. Nichts anderes wünscht er sich mehr.
Jetzt oder nie!
_______________
Ich hetze durch die dunklen Gassen, in meinem Kopf rattert es.
Er darf sich nicht das Leben nehmen.
Doch was nützt es, jetzt darüber nachzudenken? Jay ist zerbrechlich, hat schon so viele Schicksalsschläge hinnehmen müssen - sogar mehr als ich.
Und manchmal reicht nur ein kleiner Schubs, um den Menschen vollends zu zerstören. Von innen sowohl auch von außen.
Er darf sich nicht umbringen. Er darf es nicht. Er...er ist das letzte Puzzleteil. Ich brauche ihn.
Und er braucht mich.
In der Ferne sehe ich schon den riesigen Betonklotz, mitten im Grünen. Kein Licht zu sehen.
Das ist also Jays Zuhause.
Ich rase die Anhöhe hinauf, als wäre der Teufel hinter mir her.
Der Teufel namens Furcht.
Plötzlich, wie aus dem Nichts, steht er vor mir. Wenige Meter trennen uns, wenige Meter, die alles verändern können.
Jay blickt ungläubig zu mir hinab, im hellen Licht des Mondes erkenne ich sein Gesicht.
Er sieht schrecklich aus, tiefe Ringe zieren seine Augen und seine Locken sind vollkommen zerrauft.
Sein Blick ist das, was mich schockiert.
Verachtung liegt darin. Und auch ein bisschen Schmerz. Und Angst.
„TU DAS NICHT, JAY!", rufe ich, egal ob jemand von der Anstalt mich hört oder nicht. Es ist mehr ein Flehen.
Tu das nicht, ich bitte dich...
Er antwortet nicht. Wendet sich ab und rennt den Hügel hinunter, an mir vorbei und auf einen dunklen Punkt zu. Shit, da sind doch Bahngleise!
Nein, Nein, Nein...
Ohne lange zu überlegen, mache ich kehrt und stürme hinterher, die Distanz zwischen uns wird kleiner und kleiner...
Gleich hab ich dich!
______________
19:55. Der Zug wartet.
Jay dreht sich nicht um, trotzdem ist Arya dicht hinter ihm.
Er will ihn retten. Doch er hat keine Ahnung, dass es für ihn längst zu spät ist.
Vier Minuten.
Tu es, Jay. Wenn du bereit bist, bin ich es auch!
Drei Minuten.
Der Zug fährt langsam um die Ecke, seine grellen Scheinwerfer blitzen auf.
Jay macht einen Schritt und noch einen, dann berühren seine Schuhe das Metall. Im grellen Licht sieht er sich selbst, sein gebrochenes Ich...
Zwei Minuten. Es ist Zeit.
Der Zug nimmt Fahrt auf. Wird schneller und schneller.
Gleich ist er da.
60 Sekunden.
______________
Was macht Jay da? Oh Gott, er...er klettert auf die Schienen...ich muss ihn davon abhalten. Und da ist schon der Zug - ich komme zu spät!
_________________
Der Wind bauscht auf, die Gleise erzittern. Das Gras am Rand weht leicht, ein Poltern ertönt.
20 Sekunden.
Der Zug wird noch schneller, er kommt näher und näher.
Jay spürt die Brise durch seine Haare streicheln, er schließt verträumt die Augen.
10 Sekunden.
Er wird frei sein. Frei von allem, frei von den Quälereien. Frei von Schmerz.
Er breitet die Arme aus, reckt den Kopf in den Nacken. Über ihm glitzern die Sterne, die er zum letzten Mal sehen wird.
Fünf Sekunden.
Das Ende hat noch nie so lange gedauert.
Niemand, absolut niemand wird ihn vermissen.
„Leb wohl, Arya!", formen seine Lippen noch.
Der Rest geht im verhängnisvollen Rauschen der Bahn unter.
Das Letzte, was er hört, ist ein lauter Schrei.
NEIN...
Dann trifft ihn der Schmerz mit voller Wucht. Sein ganzer Körper wird auseinander gerissen und davon geschleudert.
Während sein Blut auf die Gleise spritzt.
_______________
Ich bin zu spät.
Wie in Trance und mit brennenden Tränen in den Augen schaue ich den Zug an, der munter weiter rollt, als wäre nichts passiert.
Der Schaffner muss doch etwas bemerkt haben, oder???
Er muss es einfach.
Ein ersticktes Schluchzen bahnt sich durch meine Kehle. Die Tränen fangen an zu rollen, heiß und kalt auf meiner Haut.
Jay hat es nicht verdient zu sterben. Er hatte noch so viel vor sich, er hätte leben können.
Er hätte mit mir leben können.
Das ist vorbei. Für immer.
Ein Geräusch lässt mich aus meiner Trauer herum fahren.
Ein Geräusch, wie ein Stöhnen.
Ein definitiv menschliches Stöhnen.
Aber das kann doch gar nicht sein.
Träume ich?
Mutig riskiere ich einen flüchtigen Blick - und traue meinen Augen kaum.
Jay lebt!!!
Er - er lebt tatsächlich!!!
Doch als ich sein schmerzverzerrtes Gesicht sehe, bleibt mein Herz stehen.
An den Gleisen klebt Blut. Jede Menge Blut, dunkelrot und glänzend.
Eine riesige Lache hat sich um Jays Körper ausgebreitet, wovon nur noch der obere Teil zu sehen ist.
Der obere Teil...
Die Erkenntnis durchzuckt mich wie ein Blitzschlag.
Seine Beine...wo sind seine Beine hin?
Oh, F***!
Verschiedene Gefühle überwältigen mich. Auf der einen Seite bin ich froh, dass er lebt. Doch auf der anderen - bin ich wie gelähmt.
Wo sind seine Beine?
Ich überwinde mich letztendlich und trete vorsichtig auf die Schienen, greife nach Jays Hand.
Man sieht ihm den Schmerz richtig an, er sagt kein Wort.
Der Schock, dass es nicht funktioniert hat, sitzt tief.
„A - Arya..."
Seine Stimme, ganz dicht an meinem Ohr.
Ich kann hören, wie er leidet.
Suchend gehe ich in die Knie, um seine Beine zu finden. Dort, wo er sie vorher gehabt hat, befinden sich jetzt zwei blutige Stümpfe, seine Klamotten sind ebenfalls besudelt worden.
Ein jämmerlicher Anblick.
Dort. Im fußhohen Gras, zwischen den Gleisen. Sogar noch mit den Schuhen dran...😵😵
Reiß dich gefälligst zusammen!
Ich strecke langsam meinen Arm aus, um die beiden unteren Körperteile anzufassen - Ekel schüttelt mich.
Die Jeans ist an der Stelle, wo Jays Beine abgetrennt worden sind, eingerissen und blutbefleckt. Angewidert ziehe ich meine Hand zurück, drehe mich zu dem Lockenkopf um.
Es fällt mir schwer, die nächsten Worte zu bilden, so sehr schmerzt mich Jays Anblick.
Er wird vielleicht nie mehr normal gehen können.
„Halt still!", stottere ich und nehme seine Finger in meine, sie zittern richtig. Sie sind kalt, schwitzig.
Tot.
Sein Gesicht ist kalkweiß, ich kann es kaum mit ansehen.
Er hat viel Blut verloren. Beinahe zu viel. Und trotzdem lebt er.
Sein Atem geht schleppend, doch ich spüre, dass er ganz tief in seinem Inneren kämpft.
Kämpft gegen den langsamen Tod, gegen das Ungewisse.
Ich schlucke den Kloß in meiner Kehle hinunter und stütze seinen Hinterkopf auf meinen Arm, taste nach meinem Smartphone.
„Halt still!", wiederhole ich, als Jay sich zu bewegen und aufzurichten versucht, der Schmerz ist jedoch stärker.
Seine Miene verzieht sich und er keucht vor Anstrengung - was ich sogar tun würde, wenn ich mich gerade fast getötet hätte.
Ich bin froh, dass es nicht funktioniert hat. Ehrlich.
„Ich werde jetzt einen Krankenwagen rufen, okay?"
Auch, wenn der Kloß mit jedem Wort nur noch größer wird.
Zu meiner Verwunderung schüttelt Jay den Kopf.
Lass ihn. Du weißt, was er will.
Eben das will ich nicht zulassen. Es ist mein gutes Recht.
Er selbst kapiert es nicht.
Der Lockenkopf sieht mir prüfend in die Augen, versucht, die Schmerzen mit einem matten Lächeln zu verbergen.
„A - Arya...bitte, lass mich hier liegen. Ich komm schon klar - der nächste Zug ist bald da..."
Diese Reaktion trifft mich wie ein Stich in mein Herz.
GLAUBST DU, DASS ICH DAS SO EINFACH TUN WERDE - DICH STERBEN LASSEN? ICH BIN DEN GANZEN WEG HIERHER GELAUFEN, NUR UM DICH VOR DER GRÖßTEN DUMMHEIT DER MENSCHEN ZU BEWAHREN...UND DU WILLST MICH IM STICH LASSEN. DABEI...DABEI IST MIR EINS KLAR GEWORDEN - DU BIST DIE LETZTE NUMMER AUF MEINER LISTE, DU BIST DERJENIGE, MIT DEM ICH NOCH DEN REST MEINES LEBENS VERBRINGEN WILL...WIRF DEINS NICHT WEG!
All das will ich ihm an den Kopf werfen, all das kann ich nicht.
All das würde bei ihm nicht ankommen.
Er ist zu kaputt. Er kann es nicht verstehen, egal was du versuchst.
Ich will ihn nicht sterben lassen. Ich will es einfach nicht.
Und das soll er wissen.
Das Krankenhaus ist zum Glück nicht weit entfernt. Die zornigen Pfleger in der Psychiatrie können mir gestohlen bleiben.
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Kurz darauf wird Jay abtransportiert, seine Beine ebenfalls.
Irgendwie sieht es lustig aus, wie die Sanitäter zwei abgetrennte Beine tragen...
OH -
MEIN -
GOTT!
Der Fahrer des Notarztwagens hievt Jay auf eine Trage und bedeutet mir mit einem Kopfnicken, auch einzusteigen.
Erst zögere ich.
Doch als ich die immer noch blutverschmierten Bahngleise sehe, kann ich mich überwinden.
Nachdem alles sicher verstaut ist, prescht der Wagen unter lautem Geheul in die Nacht Richtung Krankenhaus. Weg von den Schienen und Jays tödlichen Gedanken.
Die ganze Fahrt über halte ich seine Hand.
Und es fühlt sich gut an. Gut, dass ich helfen kann.
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15 Minuten später sind wir an dem gigantischen Gebäudekomplex des Krankenhauses angekommen. Die Trage mit Jay drauf wird sofort ins OP - Zimmer gefahren, ich muss draußen warten.
Auf dem nach Desinfektionsmittel und Urin riechenden Flur ist es still. Niemand kommt mir entgegen, während ich zur Cafeteria gehe und dem leisen Ticken der Uhr an der Wand lausche.
Schon so spät...
Ich bleibe stehen und überlege kurz, ob ich lieber hier bleiben oder nach Hause gehen und mich ins Bett schmeißen soll.
Doch mein Gewissen sagt:
Bleib. Du weißt es noch nicht, aber - Jay braucht dich genauso wie du ihn. Wenn du jetzt gehst, wirst du so sein wie alle anderen auch...ignorant, egoistisch.
Kaltherzig.
Ich weiß.
Nicht umsonst habe ich ihn vor dem Tod bewahrt.
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Mit einer Limo in der Hand kehre ich vor die Tür des OP - Saals zurück, wippe ungeduldig mit den Zehen auf und ab. Von drinnen ist kein Laut zu vernehmen, lediglich die Stimme der Ärzte, die den Eingriff durchführen.
Was machen sie bloß mit ihm?
Vielleicht haben sie ihn unter Narkose gesetzt, damit er nichts spürt. Dann schläft er nämlich tief und fest wie ein Baby und wacht erst viel später auf.
Da kommt mir eine Idee.
Schneller als der Wind rausche ich aus dem Gebäude hinaus und zu meiner Wohnung.
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Jay gleitet langsam in die ewige Finsternis hinab, er fühlt nichts mehr. Seine Augen sind geschlossen, seine Lider flattern ein wenig. Der Schmerz in seinem Inneren hat nachgelassen und wird nun von Leere beherrscht. Leere, die sein gesamtes Herz ausfüllt, blutige Wunden schließen lässt.
Leere, die nur ihm gehört.
Nichts als Dunkelheit, Stille um ihn herum. Drückende Stille, die lähmt, ihn taub für die Außenwelt macht.
Seine Füße tragen ihn langsam in die Schwärze hinab, man kann kaum die Hand vor den Augen erkennen. Jay tastet sich an der unsichtbaren Wand entlang, die unter seiner Berührung leicht vibriert und sanfte Elektrizität durch seinen Körper sendet.
Es ist ein Spiegel. Die Wand ist ein Spiegel...und er ist gefangen!
Jay bekommt Schweißausbrüche, versucht, irgendwo eine Fluchtmöglichkeit zu finden - es hilft nichts.
Deshalb schreit er um Hilfe, so laut er nur kann:
„HEY, HÖRT MICH JEMAND? HOLT MICH HIER RAUS, ICH HABE ANGST..."
Seine Stimme klingt wie ein Kleinkind.
Da regt sich etwas in der Finsternis, ganz ohne Vorwarnung. Drei Schatten kommen auf ihn zu, Jays Herz platzt vor Freude - es ist seine Rap - Crew!
Er klopft hektisch an das Glas, doch die Drei sind noch zu weit entfernt.
Sie scheinen sich mit jemandem zu unterhalten und lachen schrill - so schrill, dass es Jay in den Ohren weh tut.
„Glaub mir, der Typ ist echt krank im Kopf...denkt, er wäre ein Geist, der hat sie nicht mehr alle!", dringt Pats Stimme zu ihm durch das dünne Glas, schroff und gemein. Selbst John ist nicht mehr der, den Jay einst gekannt hat und nickt.
„Du hast Recht - ich dachte, seit der Hochzeit wäre es endlich vorbei, doch es ist nur noch schlimmer geworden! Oder, Arya?"
Der Lockenkopf erschrickt und presst seine Nase gegen die Scheibe.
Arya ist also doch ein Verräter...er piesackt ihn, genau wie alle anderen auch - und er hat es nicht bemerkt!
Pat stößt ihn unsanft vorwärts, sodass Arya Jay direkt in die Augen sehen kann - sein Blick ist gequält. Schmerz liegt darin, Schmerz, der nur für ihn sichtbar ist.
Seine Lippen formen Worte - Worte, die Jay nicht hören kann, doch seine Miene verrät alles.
Er will dir nichts antun. Er wird gezwungen, so zu sein, wie sie ihn haben wollen - ohne eigenen Willen und Verachtung dir gegenüber.
Jay spürt, wie ihm Tränen in die Augen steigen, doch er kann nicht weinen. Die Infusion, die durch seine Adern fließt, betäubt seine Zunge, betäubt seine Lippen.
Betäubt seinen ganzen Körper.
So ist das nun mal, wenn man tot ist.
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Die Finsternis lichtet sich und macht einer hohen Decke mit flimmernden Lampen Platz, ein Piepen ertönt.
Jay versucht, seinen Arm zu heben, der sinkt jedoch kraftlos zurück auf das Bett. Die dünne Nadel mit dem Narkosemittel liegt neben ihm auf dem Nachttisch, sicher aufbewahrt in einem Behälter.
Der Schmerz, die dumpfe Leere in seinem Inneren, ist verschwunden. Er hat keine Ahnung, was die Ärzte mit seinen Beinen gemacht haben oder ob sie ihn im Stich gelassen haben - wie Arya.
Er ist nicht gekommen. Ihm liegt wohl doch nichts an Jay.
Nicht umsonst hat er so geklungen, als ob er eine Last für ihn ist, unter deren immer größer werdenden Problemen er bald zusammen brechen wird.
Probleme müssen beseitigt werden.
Leise Musik dudelt im Hintergrund, gezupfte, sanfte Töne - wie von einer Gitarre. Eine Gitarre, die mehr als gefühlvoll gespielt wird...
Kann das sein?
„Hey!"
Diese Stimme würde Jay unter Tausenden wieder erkennen und doch muss es ein Traum sein. Sein ganzes, bisheriges Leben ist nur ein einziger, beschissener Traum gewesen. Aus dem er nie mehr aufwachen wird.
Trotz alledem ist es diese Stimme, die ihn für einen Moment alles vergessen lässt - seine Krankheit, sein versuchter Selbstmord und seine Freunde, die ihn alle nur noch hassen.
Freunde, die alles andere als Sympathie für ihn zeigen.
Freunde, die ihn tot sehen wollen.
Jay hebt den Kopf ein Stückchen hoch, gerade so, dass er den Spieler der erzeugten, wunderschönen Melodie sehen kann.
Niemand geringeres als Arya sitzt vor ihm auf einem Stuhl, er lächelt. Dasselbe warme Lächeln wie auf der Hochzeit...die niemals mehr sein wird.
Seine Gitarre spricht für ihn, all die Worte, die Jay ihm niemals zugetraut hätte.
All die Worte, die ihn beschäftigen, was er wirklich über ihn denkt.
Im selben Moment fängt er zu singen an - sein Tonfall ist von Schmerz erfüllt. Derselbe, der ihm seit Jahren die Seele zermürbt.
I met you in the dark, you lit me up
You made me feel as though I was enough
We danced the night away, we drank too much
I held your hair back when
You were throwing up
Then you smiled over your shoulder
For a minute, I was stone-cold sober
I pulled you closer to my chest
And you asked me to stay over
I said, I already told ya
I think that you should get some rest
I knew I loved you then
But you'd never know
'Cause I played it cool when I was scared of letting go
I know I needed you
But I never showed
But I wanna stay with you until we're grey and old
Just say you won't let go
Just say you won't let go
Jay verliert sich in den Akkorden, dieser traumhaft schönen Melodie, den fremden Klängen.
Noch nie hat jemand ein Lied für ihn gemacht - dabei ist es viel mehr als das.
Plötzlich fühlt er sich in der Zeit zurück versetzt, ist wieder in der Bar und sinniert über den Tod...der ihm jetzt vollkommen aussichtslos erscheint. Doch es ist passiert, er kann nichts mehr ändern.
Er wird nie mehr laufen können.
Nie mehr.
Und er sieht wieder die Hochzeit vor sich, doch jetzt aus einem ganz anderen Blickwinkel:
„Nun frage ich dich, Jay Samuelz. Möchtest du Rachel Higgins zu deiner Frau nehmen, sie ehren und achten, in guten wie in schlechten Zeiten?"
Rachel blickt ihn erwartungsvoll an, der Pfarrer ebenfalls. Das Publikum ist mehr als angespannt, rutscht auf den Sitzen hin und her.
Jay sieht sich selbst zögern. Er tauscht verstohlene Blicke zwischen den Gästen, seinen Eltern und ihr.
Rachel, die wahre Verräterin.
Was glaubt sie, wer sie ist?
Vor Monaten hatte sie noch einen anderen gehabt, einen, der nicht gestört gewesen ist...und jetzt will sie ihn heiraten?
Ihn, Jay Samuelz? Der Junge mit dem Cotard - Syndrom? Der, der glaubt, tot zu sein?
Was für einen Grund hätte sie?
Er schweigt.
Kein Ja, ich will, kein Kuss. Kein tosender Applaus, er steht einfach nur da.
Hundert Augenpaare mustern ihn, man beginnt zu tuscheln. Sein Dad schaut ihn fassungslos an, als wolle er sagen:
Was ist los? Du bist so weit gekommen und jetzt...mach mich glücklich!
Es ist nur ein Traum, nur ein verdammter Traum.
Jay ballt die Fäuste, er möchte schreien. All seine ganze Wut, all den Hass gegenüber denjenigen, die dieses Spiel mit ihm treiben.
Er kann nicht.
Schließlich ist das hier alles nicht real.
Er holt tief Luft und murmelt:
„Rachel...du verdienst mich nicht. Dein Herz gehört jemand anderem, du willst es nur nicht wahrhaben! Ich verdiene dich nicht, verstehst du? Ich bin krank, Rachel - mental angeknackst. Vor dir steht jemand, der sich als Leiche fühlt, als nicht existientes Wesen. Das war nicht immer so, musst du wissen...doch jetzt kann ich nicht mehr. Ich kann nicht mit dem Gewissen leben, dass du jemanden geheiratet hast, der gestört ist - und du kannst nicht mit dem Gewissen leben, dass ich vielleicht nie wieder normal sein werde. Bitte verzeih mir!"
Rachel wird puterrot vor Scham. Der Pastor weiß auch nicht so recht, was er sagen soll und blättert verwirrt in der Rede herum. Ihr ganzes Gesicht gleicht einer Tomate, Pat und John kichern hinter vorgehaltener Hand.
Die Zuschauer sind verstummt, warten irgendeine Reaktion ab.
In der Menge an ratlosen, überraschten Gesichtern sucht der Lockenkopf verzweifelt nach Arya - er steht da wie angewurzelt.
Er ist der Einzige, der ihm zuhört.
Nach einer Weile findet sie ihre Sprache wieder, ringt sich ein gequältes Lächeln ab. Zieht die Nase kraus, bevor sie antwortet.
„Wem gehört dein Herz denn?"
Ihr barscher Unterton bringt ihn ins Schwitzen und das nicht wegen der Sonne, die heute etwas zu grell scheint.
Seine und Aryas Blicke treffen sich für einen ganz kurzen Moment. Jay ist dankbar, dass er gekommen ist und ihn stark machen kann.
Dann erwidert er:
„Ich weiß es nicht."
Und mit einem verschwörerischen Grinsen in Aryas Richtung fügt er noch hinzu:
„Ich sag's dir, wenn es soweit ist!"
Er lässt sich fallen. Ganz tief, die Zeit dreht sich immer weiter nach hinten. Sie dreht sich immer weiter und weiter, bis Jay wieder festen Boden unter den Füßen spürt.
Eine leichte Brise weht ihm um die Ohren, der Himmel über ihm ist stockfinster. Jay sieht sich um, er steht auf einem Balkon - der Balkon von Aryas Wohnung.
Unter seinen Füßen glitzert die nächtliche, schlafende Stadt in all ihrer Pracht und Jay beugt sich weit über das kalte, metallene Geländer. So weit, dass er alles sehen kann.
Er hat noch nie so etwas Schönes gesehen, nur vergitterte Fenster und kahle, nackte Wände. Seit Jay hier in Deutschland wohnt, kennt er nichts anderes als die Psychiatrie und all die anderen Jungs und Mädels, die dasselbe tragische Schicksal teilen. Er hat keine Ahnung, wer von seinen Mitinsassen jemals Suizid begangen hat und erfolgreich gewesen ist. Er hat keine Ahnung, wer von ihnen das alles satt gehabt hat und geflüchtet ist, wer zurück geholt worden ist.
Er hat keine Ahnung, wer jemals bei einem Schutz gesucht hat, der auch gestört ist. Der nicht dort lebt, wo Jay lebt. Der, der ein Leben unter Normalen führen kann, ohne ausgegrenzt zu werden.
Ein Räuspern hinter ihm lässt den Lockenkopf herum fahren und Jay wagt kaum zu atmen. Im schwachen Licht des Mondes kann er zwei reglose Silhouetten ausmachen, die sich fest an den Händen halten. Zwei reglose Silhouetten, die ihm mehr als bekannt vorkommen.
Zwei, die auf seiner imaginären Hochzeit waren. Zwei, die jegliche Hoffnung in ihn gesetzt haben und kläglich gescheitert sind.
Seine Mum und sein Dad.
„Hallo, Sohn...", setzt sein Vater an und breitet die Arme aus, Jay wirft ihn beinahe um. Wie in Zeitlupe rennt er auf ihn zu und umarmt ihn stürmisch, seine Mutter kommt dazu.
Die Tränen brechen nun hervor, als wären sie schon sein ganzes Leben lang versteckt gewesen und hätten sich nie getraut, an die Oberfläche zu gelangen. Doch jetzt fühlt sich Jay von seinen Gefühlen überwältigt wie nie, endlich hat er seine Eltern wieder. Trauer, Verlustangst, Wut, Schmerz - all das und noch mehr prasselt auf ihn ein wie ein starker Wolkenbruch, erstickt seine Stimme, lässt ihn würgen. Und der Mann und die Frau, die ihm so gefehlt haben, halten ihn im Arm.
Beschützen ihn. Beschützen ihn, vor der bösen Welt dort draußen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit lösen sich die beiden von ihrem Sohn und blicken Jay ruhig in die Augen. Schweigen. Schweigen, was verdammt lange dauert, herrscht zwischen den dreien, sickert in die kühle Nachtluft und wird vom Wind sanft davon getragen.
Schweigen, was verdammt lange dauert.
Dann endlich findet Jay seine Sprache wieder, seine Zunge entknotet sich und macht Platz für neue Worte. Worte, die ihn beschäftigen. Worte, die ihn belasten.
Worte, die mehr als alles andere bedeuten.
Er schluckt hörbar und doch blickt er schnell zu Boden, wartet auf das Loch. Das Loch, das ihn mit Haut und Haaren verschlingen wird, ohne jemals etwas dafür getan zu haben.
Er ist, was er ist - krank. Von allen geächtet, verachtet und betrogen. Von allen herum geschubst und gedemütigt. Selbst von denen, von denen er geglaubt hat, dass sie seine Freunde wären.
Er ist ein Nichts. Auch für Arya. Obwohl er mehr Sympathie für ihn zeigt als irgendeiner zuvor in seinem traurigen, nichtexistenten Leben.
„Mum, Dad..."
Seine Stimme klingt kratzig, seine Augen sind gerötet vom Weinen.
Er will irgendetwas sagen, irgendetwas, was mit der Wahrheit zu tun hat. Die Wahrheit über seinen Umzug nach Berlin, die Wahrheit über Rachel und seine anderen, verfluchten Freunde, die ihn am liebsten zum Teufel jagen wollen.
Die Wahrheit über ihn. Die Wahrheit über alles.
Jay holt tief Luft, der Kloß in seinem Hals wird dicker und dicker. Wächst und wächst, bis ihm erneut die Tränen kommen, er versucht, dagegen anzukämpfen. Wischt sie hastig mit dem Handrücken weg und atmet noch ein letztes Mal tief durch.
Seine Stimme ist nicht mehr als ein Flüstern.
„Mum, Dad...Ich habe mich umgebracht!"
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Seine Stimme ist nicht mehr als ein Flüstern. Und wieder Schweigen. Schweigen, das viel zu lange dauert. Schweigen, was ihm in den Ohren schmerzt, der Kloß im Hals vergrößert sich.
Seine Eltern stehen nur da, still, fassungslos. Vielleicht auch enttäuscht, weil er ihnen das nicht schon früher erzählt hat. Früher...bevor noch alles gut gewesen ist.
Der Erste, der zu Wort kommen kann, ist sein Vater. Sein Dad, der ihm versichert hat, dass sein Sohn irgendwann mal besonders wird. Sein Dad, der so stolz auf ihn gewesen ist.
„Jay...du...du bist nicht tot! Wie sonst hättest du deine Hochzeit feiern oder umziehen können...du lebst, du stehst doch vor uns!"
Sein Tonfall gleicht einem verängstigten Huhn, so krächzt er. Seine Haare sind grau. Die seiner Mutter auch.
So viel Zeit ist bereits vergangen...so viel Zeit, in der Jay nicht einmal existiert hat.
„Jay, bitte hör zu!", meldet sich nun seine Mum, ihre Worte prallen wie Steine auf einem Dach an ihm ab.
„Jay, wir...wir haben davon gehört! Du bist nicht tot, du denkst nur, du wärst es...dein Bewusstsein spielt dir einen Streich! Verstehst du, du gaukelst dir selbst etwas vor, was du nicht bist, okay?"
Nein. Nein, das ist nicht wahr. Mein Gedächtnis ist doch vollkommen gesund, ich habe keine Probleme. Ich habe keine Wahnvorstellungen, ich bin mir ziemlich sicher, dass ich tot bin...wie sonst würde ich mein ganzes Leben lang nur träumen? Wie sonst würde ich den Menschen begegnen, die ich verlassen habe?
Sein Vater wendet sich von ihm ab und schaut seine Frau besorgt an. Die dreht sich um und ihre Hand verkrampft sich langsam in seiner, die beiden wollen gehen.
Jay hindert sie nicht daran. Er sieht ihnen genau an, dass sie gar nicht herkommen wollten. Sie wollten ihren Sohn nicht sehen, weil sie niemanden in der Familie brauchen können, der krank ist. Der gestört ist.
Der Lockenkopf seufzt gequält, blickt wieder über das Geländer hinunter in die Stadt. Berlin. Die Stadt, wo er begraben ist.
„Wieso hast du's ihnen nicht gesagt?"
Wenige Meter von ihm entfernt steht Arya verträumt am Geländer und sondiert den klaren, nächtlichen Horizont.
Ihre Blicke treffen aufeinander, ganz kurz. Und ganz kurz glaubt Jay, ein liebevolles Funkeln in den Augen des Persers zu erhaschen, was jedoch im nächsten Moment wieder verschwindet. Als keine Reaktion seines Gegenübers erfolgt, kommt Arya langsam auf Jay zu. Bleibt vor ihm stehen, ganz dicht. So dicht, dass seine Bartstoppeln ihn am Kinn kitzeln.
Jay möchte zurück weichen, doch seine Beine gehorchen ihm nicht. Sie werden ihm nie mehr gehorchen, was er auch versucht. Er wird im Rollstuhl landen. Für immer ein Krüppel bleiben. Und das mit 22.
Er spürt, wie Arya ihm sanft über das verheulte Gesicht streicht. Erst hinauf zu seinen Augen, dann über die Lippen und schließlich bis hinunter zu seinem Schlüsselbein.
„Spürst du das?", wispert er und Jay nickt nur. Er schließt die Augen und lässt es geschehen, genießt jede Berührung seiner toten Haut. Arya ist so sanft, so liebevoll - mit allem, was er macht. Wie er abends mit ihm in die Bar gegangen ist, sein Gitarrenspiel, seine Geschichten, die er Jay erzählt hat...
Und dann passiert es.
Jay hat keine Ahnung, was da gerade geschieht, er weiß nur eins - es fühlt sich fremd an. Und gleichzeitig so gut.
Wie in Zeitlupe presst Arya seine Lippen auf Jays weichen Mund, er schmeckt wunderschön. Sein Geruch duftet etwas nach Minze und noch einem Gewürz, was der Lockenkopf nicht zuordnen kann.
Der Kuss geht eine ganze Weile und Jay fühlt langsam, wie die Wärme in seinen Körper zurück kehrt. Ganz langsam fühlt er sein Herz in seiner Brust pochen, wie sein Blut durch seine Adern und Venen geleitet wird.
Nur seine Beine...die wird er nie mehr benutzen können.
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Jays Lider flattern. Die Narkose ist noch nicht beendet, sonst wäre er längst erwacht. Seine Brust hebt und senkt sich rasch, viel zu rasch...er wird kollabieren! Kurz nach der OP!
Jetzt haben es auch die Ärzte bemerkt und eilen sofort herbei, rufen sich hektisch medizinische Fachwörter zu.
„Narkose sofort abbrechen...", „Lungenfunktion sinkt rapide, Sauerstoffzufuhr erhöhen...", „Weiter beatmen, schnell!"
Drei Doktoren, darunter eine Frau, wuseln um das Krankenbett herum. Sie setzen Jay die Atemmaske erneut auf, wie am Anfang des Eingriffs. Leiten den nötigen Sauerstoff durch ein dünnes Kabel in die Maske hinein, versuchen, seine Krämpfe zu beruhigen.
Wie gelähmt betrachte ich die Szenerie, was die Ärzte da tun, ohne mich vorher gefragt zu haben. Sie werden ihm noch weh tun...
Ich kann das nicht länger mit ansehen, deshalb stürme ich blindlings aus dem Zimmer Richtung Toilette. Mir wird übel und kurz, nachdem sich die Schwingtür der Kabine schließt, landet mein kompletter Mageninhalt in der Schüssel. Ich huste und spucke, bis alles raus ist und spüle meinen Mund ordentlich mit kaltem Wasser sauber. Das tut gut.
Mein Puls erhöht sich abrupt, es fühlt sich an wie auf 180.
Der Hulk will ausbrechen.
Ich kann die nächsten Minuten nicht aufhalten, so schnell passiert es. Mein Gesicht färbt sich puterrot, Schweiß rinnt mir die Stirn hinab.
Ich will irgendetwas kaputt machen. Irgendetwas, jetzt sofort.
Wo sind meine Medis? Ich muss sie zuhause vergessen haben, verdammt...
Ohne sie bin ich machtlos, nicht mehr Herr über mich selbst. Die Aggression wird stärker und stärker, bis ich wahrscheinlich demjenigen aufs Maul hauen werde, der es so gar nicht verdient hat.
Bis ich Jay verletzen werde.
Obwohl er die Lösung ist. Die Lösung für meine Probleme. Die Lösung für mein ganzes, restliches Leben.
Ich klammere mich verzweifelt am Waschbecken fest, versuche, der ungezügelten Wut in mir Einhalt zu gebieten. Meine Fingerknöchel treten schon weiß hervor, so fest ist mein Griff. Und so heiß die glühende Lava in meiner Seele, die den Vulkan namens Körper zum Bersten bringen kann.
Meine Tabletten...wo sind meine Tabletten?
In mir brodelt es. Mein ganzes Gesicht glüht vor Zorn, vor Ungewissheit.
Vor Angst.
Ich weiß nicht, was Jay hat, obwohl er eben noch so friedlich geschlafen hat. Ich weiß nicht, was die Ärzte mit ihm anstellen, ohne mich gefragt zu haben. Ich weiß nicht, ob all das überhaupt noch eine Rolle spielen wird.
Er will die ganze Sache hier nicht. Er will doch nur verrecken, also warum ist er dann noch hier? Warum musste das passieren, er wollte STERBEN! Verstehst du, du Hirni? Die sollen ihn einfach lassen, sag es ihnen! Am besten sofort!
Oh, wie sehr habe ich diese Stimme vermisst...NICHT!
Hasserfüllt blicke ich mein Spiegelbild an, betrachte den jungen Mann mit der Zwangsstörung dort in dem milchigen, verkratzten Glas.
Ich balle meine rechte Hand zur Faust, hebe langsam den Arm.
„Du...du weißt gar nichts...", stoße ich unter heftigem Zähneknirschen hervor und kneife die Augen fest zusammen. Hole aus. Lasse meine Faust auf den Spiegel nieder gehen, meine ganze Wut entlädt sich mit aller Kraft.
Glassplitter fliegen mir um die Ohren, ritzen mir die nackte Haut an meinen Armen auf. Ich spüre den Schmerz kaum.
Ich will nur Jay spüren, sonst nichts und niemanden.
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Schwer atmend schleppe ich mich zurück zu dem OP - Saal, dessen Tür jetzt leider verschlossen ist.
Shit!
Ich drücke meine Nase trotzdem gegen die dünne, durchsichtige Scheibe zwischen dem Gang und dem Zimmer, wo Jay im Bett liegt.
Der untere Teil seines Körpers ist mit einer Decke umschlungen, die offenbar das Resultat der Operation vorläufig verdecken soll. In dem gepunkteten Hemd sieht er jedenfalls wesentlich älter aus als 22 oder bilde ich mir das nur ein?
Die Ärzte sind verschwunden. Neben Jays Bett ist ein kleiner Monitor platziert, der seinen Herzschlag und die Sauerstoffzufuhr überwachen soll, alles soweit wieder okay. Auch seine Atmung hat ihren gleichmäßigen Rhythmus wieder gefunden und ein kleines Lächeln hat sich um seine Mundwinkel gebildet.
Seine Locken sind jetzt nicht mehr so wild wie vorher und auch sein Gesicht hat mehr Farbe bekommen.
Doch es ist sein nackter Oberkörper, der mich trotz alledem erschrickt.
Blasse Narben zieren die freigelegte Haut über dem Nabel, die ganz bestimmt nicht von dem Eingriff herrühren können. Narben, die er sich selbst zugefügt haben muss.
Narben, die keiner je zu sehen bekommen hat.
Ich weiß, warum Jay das getan hat. Warum er sich das angetan hat - die Narben, die Briefe und später der Suizidversuch...
Er ist kränker als ich es erwartet habe.
Er ist bereits ein Wrack. Ein gebrochener Mensch, der sich und alles andere um sich herum schwarz malen will. Weil ihn niemand akzeptiert. Weil man ihn herum schubst, beschimpft. Und gegen all diese Schikanen hilft dann irgendwann nur noch eins - der Tod.
„Sir?"
Die Stimme einer jungen Frau hinter der Rezeption lässt mich überrascht herum fahren. Sie trägt einen schicken Blazer mit Blümchenmuster drauf und hat ihre kurzen, lila gefärbten Haare zu einem kunstvollen Dutt hoch gesteckt.
Sie muss wohl bemerkt haben, dass ich sie verwirrt ansehe, denn sie wendet rasch den Blick zurück zu ihrem Computer.
Diese Frau ist noch zu jung, um an einer Rezeption des Krankenhauses zu sitzen und sich den ganzen Tag bequatschen zu lassen von irgendwelchen Leuten. Und zu hübsch.
Irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich dieses Mädchen kenne...
„Sie -...", beginne ich den Satz, der mir im nächsten Moment nicht gelingen will. Meine Lippen fühlen sich an, als hätte jemand sie mit Klebstoff zusammen gepappt. Mit richtig hartem Klebstoff. Der wehtut. So richtig...what the...
„Sir, Sie haben die im OP - Zimmer vergessen, als Sie eben raus gerannt sind!"
Die Sekretärin streckt mir meine Gitarre entgegen. Ihre dezent lackierten Nägel umklammern den Hals des Instrumentes fast schon so, als wolle sie selbst darauf spielen. Doch sollte dies der Fall sein, wird sie es bitter bereuen. Ich lasse absolut niemanden an meine heimliche Leidenschaft - wortwörtlich - Hand anlegen.
Ich knurre schnell ein Danke und will mich aus dem Staub machen, etwas frische Luft schnappen. Doch meine Füße bleiben kurz vor dem Ausgang abrupt stehen und zwingen mich, der jungen Frau prüfend in die Augen zu schauen.
Sie hat es nicht verdient, hier zu arbeiten. In ihrem früheren Leben wollte sie bestimmt etwas anderes erreichen, da bin ich mir sicher. Sie hat hart dafür gekämpft, nur um jetzt Termine oder Rechnungen zu bearbeiten - das ist nicht fair. Jeder hat eine zweite Chance verdient.
Diese Frau ist eine Acht, mit der bitteren Niederlage einer Neun.
Und doch kommt sie mir bekannt vor...
„Eine Frage!", rufe ich und das Mädchen hinter dem Tresen zuckt vor Schreck zusammen. Verlegen streicht sie sich eine lilane Strähne aus dem rosigen Gesicht und richtet ihre schief sitzende Brille.
Die Bluse lässt sie um einiges schmächtiger wirken, dabei ist sie vollkommen gut gebaut und durchtrainiert...MOMENT!
„Sind Sie - Rachel Higgins?"
Mein Gegenüber erstarrt. Ihre Mundwinkel zucken ein klein wenig, wie als wüsste sie nicht, was sie darauf antworten soll.
Zu Recht. Ich stehe vor einer waschechten Verräterin.
Nach ungefähr zehn Minuten findet sie ihre Worte:
„T - Tut mir leid, Sie...Sie müssen mich mit jemandem verwechseln..."
Sie versucht ihre Masche bei dir. Genau wie sie es bei Jay versucht hat und was ist nun aus ihm geworden? Wehr dich!
Ich recke trotzig das Kinn vor.
Sie kann mir nichts anhaben. Und wenn doch - daran will ich gar nicht denken.
„Ich fürchte, da liegen Sie falsch, Miss Higgins!", erwidere ich, so selbstsicher wie eben möglich.
„Hören Sie schon auf mit diesem Spiel, okay? Ich habe schon von Ihnen gehört...und das nicht gerade positiv, Sie verstehen?"
Ihr folgender Blick ist kalt wie Eis, sie ist es also wirklich.
Sie ist diejenige, die Jay verlassen und ihn in den Tod getrieben hat...zum Glück nur fast. Wäre ich nicht gewesen, wäre er längst unter der Erde. Nur - ich kann es ihr nicht gleich an den Kopf werfen, sie selbst weiß am besten, was sie falsch gemacht hat.
Sie versucht mich, in die Knie zu zwingen. Doch wie heißt es so schön?
Der Klügere gibt nach!
Endlich scheint sie begriffen zu haben und Rachel knickt ein, senkt beschämt den Kopf.
„Ich...ich wollte nie hier sein, wissen Sie?"
Ihre Reaktion ist niedergeschlagen, fast schon gequält.
Doch sie versucht, ebenso locker zu reagieren wie ich und probiert das auch gleich aus:
„Ich wollte immer Model werden, Sie verstehen? Richtig gehört, M - Model...deswegen auch die lila Haare! Nur ich hasse Diäten und bei Heidi Klum wollte ich nicht einsteigen...deshalb habe ich es woanders probiert!"
Woanders also? Interessant...
„Und lassen Sie mich raten: Es hat nicht funktioniert, weswegen Sie sich entschieden haben, Teilzeit - Mobber zu werden...Rachel! Habe ich Recht?"
Ich genieße es, ihr ins Wort zu fallen. Ich genieße es, zu sehen, wie sie verzweifelt nach einer Erklärung ringt. Ich genieße ihr Leiden.
Sie hüllt sich in Schweigen. Schweigen, was viel zu lange dauert. Schweigen, was über unseren Köpfen in der Luft hängt, wie neulich in der Bar. Setzt sich fest, überall auf dem langen Flur, in den Boxen der Desinfektionsmittel und bedrückende Stille erfüllt das Krankenhaus.
Ob Jay diese Stille hören kann?
Ob er überhaupt noch hören kann, was um ihn herum passiert?
Zeit für reinen Wein.
Ich beuge mich weit über den Tresen, so nah, dass ich beinahe ihre Lippen berühren kann. Doch ich weiß, dass das nur über meine Leiche geschieht, wenn ich sie küssen sollte.
Mit Verrätern ist nicht zu spaßen.
„Passen Sie auf, Miss Higgins!", zische ich bedrohlich und Rachel weicht drei Schritte zurück, eher vier. Ihre Hand fährt zu ihrer Jeanstasche, wo sie ein kleines Fläschen mit einer körnigen Substanz ans Tageslicht befördert - Pfefferspray.
C'mon! Are you kidding me? Please...just say you kidding me, right?
Bestimmt hat sie das auch bei Jay benutzt, als er ihr zu gestört vorgekommen ist...mit solchen Leuten macht sie kurzen Prozess!
Ruckartig drehe ich ihr den Arm herum und klaue ihr das Spray aus der Hand, werfe es gekonnt in den nächsten Mülleimer.
Trickshot, baby!
„Was glauben Sie eigentlich, wen Sie vor sich haben?", rufe ich mit Nachdruck in der Stimme, um einschüchternd zu wirken.
„Und glauben Sie ja nicht, Ihre Spielchen bei mir zu testen - ich kann Menschen wie Sie umpusten, ohne einen Finger zu rühren..."
Das gibt ihr den Rest.
Sie bricht ganz plötzlich in einen hysterischen Heulkrampf aus, ihre unschuldige Maske von eben ist verschwunden.
Ich weiß, dass sie nur Mitleid erregen will, aber so leicht wird sie nicht davon kommen. Ich weiß, was sich Jay nur wegen ihr angetan hat und auf gar keinen Fall soll er das erneut tun.
Nicht, wenn ich es verhindern kann.
Ich lasse Rachel heulen, sie hat es verdient. Sie hat es verdient, sich nach all den Jahren, die Jay mit ihren gedruckten Lügen leben musste, endlich Vorwürfe zu machen.
Ich gehe langsam Richtung Ausgang, vor dem Gebäude befindet sich eine große Wiese. Hinter den umliegenden Bäumen wird es hell, ein neuer Tag bricht an.
Ein neuer Tag, an dem ich nicht von Jays Seite weichen werde, bis er wieder gesund werden kann. Na ja, abgesehen von seinen Beinen...
Meine Wut ist verflogen, doch ich spüre, dass sich jede Faser meines Körpers, jede Zelle sich erneut auf einen Ausbruch vorbereitet.
Und dann wird es Verletzte geben. Dafür sorgt mein Hirn.
Ich fange an, meine Gitarre zu spielen. Sanft, gefühlvoll. Die Töne formen sich in meinem Kopf, fließen in meine Finger und zupfen die Saiten wie ein gut geschmierter, sich ständig wiederholender Mechanismus.
Ich lasse mich rückwärts ins weiche Gras fallen und schließe meine Augen, während ich mich von der Musik in meine ganz eigene Welt entführen lasse.
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Ich sitze in der Kirche, die ich normalerweise nie betrete. Vorne am Altar findet gerade das Konzert von Garys Orchester statt, ich erkenne ihn sofort.
Ohne seine Brille und dem funkelnden Anzug mit Fliege wirkt er gar nicht wie ein Psychologe, sondern viel eher wie ein richtiger Musiker. Seine Haare sind zu einem perfekten Scheitel gegelt und die Geige in seiner Hand erzeugt wunderschöne Klänge. Klänge wie nicht von dieser Welt...
Erst jetzt merke ich, dass seine Kollegen ihm angespannt zuhören und ihre Instrumente vor sich abgelegt haben. Ich habe Gary noch nie richtig spielen gesehen, geschweige denn in seiner Wohnung bei den Sitzungen. In seiner Rolle als der ernste, dennoch liebenswürdige Therapeut ist er plötzlich ganz anders.
Rasch lasse ich meinen Blick durch die Kirche schweifen, niemand außer mir ist zu sehen.
Plötzlich fühle ich einen sanften Hauch, der sich über meinen Nacken zieht und mir die Haare aufstellen lässt.
Merkwürdig - normalerweise ist es hier gar nicht so kalt...
Ich erschrecke, als sich wie aus dem Nichts eine Gestalt vor mir in der Bank materialisiert. Sie hat krauses, dunkles Haar und ihre Augen funkeln, mir verschlägt es für einen Moment den Atem.
Das kann nicht sein...
Seine Leiche ist nie gefunden worden, ich habe mich nie von ihm verabschieden können. Und doch steht er hier. Wie kurz vor seinem Tod - blass im Gesicht und abgemagert, weil er in seiner Gefangenschaft nicht einmal etwas zu Essen bekommen hat.
Und doch habe ich meinen Dad wieder.
Ich kann nicht anders als ihn überschwänglich zu umarmen, so sehr hat er mir gefehlt. Ich merke gar nicht, dass mir die Tränen kommen und lasse meinen Gefühlen freien Lauf, mein Vater ist ganz still. Er hält mich im Arm, obwohl ich davon nichts spüren kann und bin trotzdem überglücklich.
Schließlich lösen wir uns voneinander und schauen tief in die Augen des jeweils anderen. Sehr lange. Sehr still. Selbst die Musik klingt wie aus weiter Ferne.
„Pesar, du siehst...gut aus!", meint mein Dad schließlich und lächelt ein wenig, sodass seine etwas spitzen Eckzähne entblößt werden. Ich wische mir die Tränen ab und schlucke, antworte so gut es geht.
„Ach Dad...ich vermisse dich! Du kannst dir gar nicht vorstellen, was ich durch mache seit..."
Vor meinem inneren Auge sehe ich, wie er gefoltert wird, ausgepeitscht. Sehe seinen nackten, blutigen Oberkörper und den Soldat mit dem höhnischen Grinsen im Gesicht. Sehe meine Mutter, die fassungslos zu Boden gesackt ist und schreit, die bösen Männer sollen aufhören. Sehe meinen Bruder vor mir, der sich ängstlich an mich klammert und betet. Es wird nicht helfen.
Damals bin ich noch ein Kind gewesen, erst sechs. Saman war zwei Jahre älter. Und doch konnten wir beide es nicht verkraften, dass unser eigener Vater vor unseren verängstigten Augen getötet worden ist. Diese Leute, die ihm das angetan haben, sitzen hoffentlich längst im Knast. Oder berauben weiteren Unschuldigen ihrem Leben.
„Pesar...", legt er mir eine Hand auf die Schulter, er scheint meine Gedanken erraten zu haben. Ich wende den Blick ab.
„Pesar, du hast keine Schuld. Schuld sind immer noch diejenigen, die dafür verantwortlich sind, okay? Absolut niemand konnte mich retten, weder Saman noch deine Mutter. Es hätte euch nur noch mehr in Gefahr gebracht als ohnehin schon...vergiss niemals: Du bist ein wundervoller Sohn, Arya! Stark, selbstbewusst, du lässt dich nicht einschüchtern! Egal, was kommt, du wirst alles in deinem Leben - ob gut oder schlecht - mit Bravour meistern, darauf gebe ich dir mein Wort!"
Der Kloß in meinem Hals wird stärker, als ich eine Antwort zu formulieren versuche. Eine Antwort, die ich eigentlich nicht geben will.
„Dad...", zögere ich, es will mir nicht gelingen. Und trotzdem schlucke ich den Kloß im Hals, so gut es geht, hinunter. Obwohl mir sofort wieder die Tränen kommen.
„Dad. Wie rettet man jemanden, der nicht gerettet werden will? Ich...ich habe da einen Freund und der -...er...er hält sich für tot!"
Mein Vater gerät ins Grübeln und bevor er fragen kann, habe ich ihm schon alles über Jay erzählt. Es geht mir alles so leicht von der Zunge, als wäre es nichts und langsam beginne ich, mir selbst Fragen zu stellen.
Habe ich damals etwa gewusst, dass mein Pedar eines Tages vor mir stehen würde? Hat ER jemals von meiner Krankheit gewusst? Habe ICH die ganze Zeit auf diesen einen Moment hin gearbeitet?
Mann, Geister können tatsächlich Gedanken lesen.
„Arya, du weißt doch: Das mit deiner Krankheit, dieser Zwang, alle Menschen zu analysieren und sie in Kategorien einzuordnen - das ist nichts Schlimmes. Du bist nicht krank, gestört, nur weil du anders bist. Auf dieser Welt gibt es kein „normal"! Verstehst du? In meinem kurzen Dasein habe ich mich mit vielen Menschen auseinander gesetzt, die alle ganz unterschiedlich in ihrem Verhalten und ihrer Auffassung der Dinge gewesen sind. Aber nie hat irgendjemand dem anderen gesagt, wie er zu sein hat, damit er dazu gehört...wenn er es nicht gewollt hat, hat man es akzeptiert. Und DU - ganz besonders DU und dein Freund - ihr beide solltet euch nicht ändern. Egal, was andere denken und sagen, bleibt, wie ihr seid."
Er macht eine Pause, das viele Reden hat ihn ganz heiser gemacht.
Und kurz darauf haucht mein Pedar den Satz, den ich beinahe vergessen habe. Und der doch so viel Sinn ergibt.
„Lass dir niemals von niemanden einreden, dass du etwas nicht kannst."
Dann ist er fort. Mein Vater ist fort.
Die Musik vorne am Altar wird wieder lauter und verstummt abrupt, Gary hat sein Stück beendet. Elegant verbeugt er sich und erntet tosenden Applaus von seinen Kollegen, auch Frauen sind dabei. Er wirft ihnen eine Kusshand zu und lüftet seinen imaginären Hut, während er ruft:
„Danke danke. Ihr wart ein tolles Publikum..."
Mit trägem Blick sehe ich dem Spektakel noch eine Weile zu, bevor alles um mich herum verblasst und Platz für die Realität schafft.
_______________
Ich blinzle verwirrt ins grelle, mattrote Licht der aufgehenden Sonne.
Wie lange habe ich hier gelegen?
„Es ist sieben Uhr!", ruft jemand neben mir und ich schaue mich hastig um.
Was hat Rachel denn hier verloren?
Angewidert rücke ich ein Stück von ihr weg, doch sie - die Verräterin - grinst nur breit. Offenbar hat sie ihren Heulanfall überstanden.
„Zu deiner Information: Ich beiße nicht, in Ordnung?"
Das sehe ich anders!
Sie grinst noch breiter und langsam glaube ich, hier den leibhaftigen Joker vor mir zu haben, der mich gleich mit seinem wahnsinnigen Blick erstechen wird. Oder eben umbringen.
Auf gar keinen Fall will ich mit einer Verräterin reden, schon gar nicht mit einer, die meinen Freund an den Rand der Verzweiflung getrieben hat. Jay hat wirklich etwas Besseres verdient.
Rachel seufzt und deutet auf die Gitarre in meinem Schoß:
„Das war wunderschön, ich...normalerweise mag ich lieber - na ja - Zeug, aber das...erste Sahne. Gratulation, Mister Lennon!"
Man kann auch übertreiben, schon gewusst?
Ich lächle gequält zurück und lege das Instrument ins Gras, antworte schnippisch.
„Und zu deiner Information: Ich komme ganz bestimmt nicht aus England, sondern aus dem Iran, kapiert? Oder Persien, falls du keine Ahnung hast - und jetzt lass mich gefälligst in Ruhe!"
Als Zeichen, dass ich überhaupt nichts mit ihr zu tun haben will, verschränke ich die Arme und sitze da wie ein kleiner Junge, der keinen Nachtisch bekommt.
Lassen die mich jetzt eigentlich zurück ins OP - Zimmer? Wenn ja, muss ich unbedingt nach Jay sehen, vielleicht ist er inzwischen wach geworden.
Kurzentschlossen stehe ich auf, nehme meine Gitarre und stapfe über die Wiese zum Krankenhaus. Vor der Automatiktür zum Eingang drehe ich mich noch einmal zu Rachel um - sie ist mir nicht gefolgt. Umso besser.
Zu früh gefreut, denn just in dem Moment rast sie wie von der Tarantel gestochen auf mich zu und bleibt schlitternd stehen. Sie keucht und ich kann förmlich erraten, wie sehr ihr Herz vor Anstrengung pocht.
BUMM, BUMM, BUMM...
Ich würdige sie keines Blickes und stolziere nach drinnen, augenblicklich empfängt mich der eklige Geruch von dem Desinfektionsmittel. Ich versuche, so wenig wie möglich davon zu riechen, komme jedoch nicht drum herum, meine Hände zu befeuchten. Und gleich noch einmal. Und noch einmal.
Was kann man von Leuten mit Zwangsstörung auch sonst erwarten? Obwohl ich so etwas vorher noch nie gehabt habe - womöglich ist es nur die Angst vor Keimen. Ist schließlich ein Krankenhaus!
Die Tür zum OP - Zimmer steht sperrangelweit offen, ein gutes Zeichen. Vorsichtig spähe ich um die Ecke, Rachel bleibt dicht hinter mir.
Sie kann es nicht lassen.
Jay ist nirgendwo zu sehen. Nicht im Bett oder sonst wo im Raum - verdammt! Ich muss ihn suchen!
Meine Panik währt zum Glück nicht lange, denn im selben Moment wird eine weitere Tür aufgestoßen und der Lockenkopf kommt heraus. Eher rollt.
Jay Samuelz sitzt im Rollstuhl.
Dieser Anblick lässt mich unkontrolliert zittern, auch Rachel ist vollkommen perplex.
Auf einmal wird mir klar, dass sie vielleicht noch nicht mal gewusst hat, dass ihr Ex - Freund Selbstmord versucht und dabei seine Beine verloren hat. Ausgerechnet jetzt, wo sie schon längst mit ihm abgeschlossen hat.
Jay scheint mich gar nicht zu bemerken und steuert langsam den Gang entlang, Rachel und ich gehen ihm nach.
Zur Cafeteria will er jedenfalls nicht, sondern betätigt am Ende des Flurs den Knopf für den Aufzug. Kurz nachdem das Ping ertönt und Jay verschwunden ist, sause ich die Treppe hinauf zum zweiten Stock des Gebäudes. Oben angekommen sehe ich gerade noch Jay um die Ecke biegen und hefte mich weiter an seine Fersen.
Keine Spur von Rachel. Sie ist bestimmt richtig besorgt - sollte sie auch. Hat sie verdient, um jeden Preis.
Hier im Trakt ist es still, niemand zu sehen. Keine Ärzte, die geschäftig hin und her hasten, keine sonstigen Menschen. Kein Lärm. Überhaupt befinden sich keine Zimmer auf diesem Flur.
Es ist totenstill.
Jay ist wie vom Erdboden verschluckt, ich sehe ihn nicht mehr. Stattdessen kann ich ihn aber hören - der Rollstuhl, dessen Räder über den harten Boden kratzen. Dann ist es wieder still.
Kurz darauf höre ich eine leise Melodie, zarte, gefühlvolle Töne dringen an mein Ohr. Und etwas traurig.
Am Ende des Flurs steht ein Klavier. Und davor, die Hände auf den Tasten, sitzt er.
Jay hat die Augen geschlossen und wirkt, als ob er schon sein ganzes Leben lang Klavier gespielt hat - nur ich weiß, dass das nicht stimmt. Und doch wirkt es so echt...die Melodie, die Töne.
Ob die im OP - Saal etwas von seinem Verschwinden bemerkt haben? Ob die ihm dort den Ausgang erlaubt haben, bis er wieder entlassen werden kann?
Leise, um ihn ja nicht zu stören, schleiche ich mich an Jay heran. Der gepunktete Kittel ist durch eine schlabbrige Jeans und Hoodie ersetzt worden, wobei man von der Jeans nicht mehr viel sehen kann. Dort, wo seine Beine einst waren, ist der Stoff provisorisch zusammen gebunden, doch mein Blick wandert schnell weiter zum Klavier.
Ich werde das Gefühl nicht los, dass er irgendwo einen Kassettenrekorder mit Klaviermusik versteckt hat...
„Du hast gelauscht, oder?"
Seine Stimme ist ganz schüchtern, besorgt. Wie aus weiter Ferne höre ich, wie er seinen Rollstuhl vom Piano fort bewegt und einmal drum herum fährt.
Er bleibt vor mir stehen und schaut mir tief in die Augen. So tief, dass ich schon fast glaube, er wäre der Spiegel meiner Seele.
Ganz kurz muss ich schmunzeln, weil Jay jetzt kleiner als ich erscheint, doch nur sein fahrbarer Untersatz verstärkt diesen Effekt.
Er wirft einen Blick auf meine Gitarre und zieht nervös die Schultern hoch, als ob es ihm peinlich wäre, ihn hier oben erwischt zu haben.
Erwischt bei einer Sache, die vielleicht noch nicht mal echt ist. Und trotzdem verdammt gut inszeniert.
Ich nicke stumm und hole tief Luft, darauf aus, Jay nicht mit unangenehmen Fragen zu löchern.
Fragen, die ihn noch mehr zermürben.
Der Mensch kann einen gewissen Grad an Durchhaltevermögen besitzen. Äußere Einflüsse können sein Verhalten und seine Psyche entweder positiv oder negativ beeinflussen. Schmerz ist am meisten zu finden, wobei Schmerz in körperlich und seelisch unterschieden wird. Und wenn dieser Schmerz den Körper langsam aber sicher an seine Grenzen treibt, ist es zu spät: Der Mensch ist gebrochen.
„Wie geht's dir soweit?", versuche ich es mit einem harmlosen Gespräch und erwidere seinen intensiven Blick. Jay reagiert nicht, sondern starrt an mir vorbei den Gang entlang.
Seine Augen weiten sich. Und er sieht aus, als hätte man ihm gerade eröffnet, dass sein Haustier überfahren worden ist - von der Person, die es ihm erzählt hat.
Was, kann doch gut möglich sein...😅
Der wahre Grund, warum Jay erstarrt ist, erfüllt mich mit neuer Wut. Ich brauche mich noch nicht mal umzudrehen, um zu wissen, wer da steht.
„Zieh Leine!", knurre ich und stelle mich schützend vor Jay, bereit, dieser Verräterin verbal ordentlich eine zu verpassen, sollte sie ihm zu nahe kommen.
Mein Beschützerinstinkt hat die Kontrolle übernommen.
Rachel starrt ihren Ex verlegen an. Jay starrt fassungslos zurück. Ich bin zwischen ihren Blicken gefangen.
Man muss kein Genie sein, um zu erkennen, dass die beiden schon längst eine gewisse Distanz zueinander aufgebaut haben.
Ob Jay überhaupt weiß, dass seine ehemalige Freundin hier arbeitet? Und ob sie im Gegenzug weiß, dass er sich das alles angetan hat, was ich nicht verhindern konnte?
„Hörst du schlecht?", fauche ich, hebe meine Faust in die Luft. Reflexartig weicht Rachel zurück, ihre Finger tasten nach dem Pfefferspray - bis sie realisiert, dass ich es ja weg geworfen habe.
Dumm gelaufen!
Rachel duckt sich instinktiv vor dem Schlag und kneift die Augen zusammen...jedoch bleibt Gewalt aus.
MAN SCHLÄGT KEINE MÄDCHEN. AUCH, WENN SIE NOCH SO GEMEIN SIND!
Ich will gar nicht wissen, wie viele Menschen diese Worte nicht verstehen wollen - oder können.
„Das hier wird jetzt folgendermaßen laufen!", fahre ich fort und schnippe mit den Fingern, als Zeichen, dass Rachel die Augen wieder öffnen kann. Sie tut es nur zögerlich.
Ich kann ihrem verstörten Blick entnehmen, dass sie machtlos gegen jemanden wie mich ist. Ohne jegliche Verteidigung. Ohne Pfefferspray.
„Hör zu, ich will dir nichts tun, okay?"
Das erste Mal, dass ich sie nicht mit Sie oder Miss Higgins anspreche. Klingt eh bescheuert.
Ihre Mundwinkel zucken nach oben, ein gequältes Lächeln huscht über ihre makellosen Züge. Sie macht einen Schritt vor, in Jays Richtung. Und gleich noch einen. Ich durchbohre sie mit dem fiesesten Blick, den ich zu bieten habe.
Bleib, wo du bist!
Sie versucht, den Sicherheitsabstand zu überwinden.
Augenblicklich wird mein eben noch ruhiger Tonfall wieder drohend.
„Fass ihn nicht an!", zische ich und gebe dem Lockenkopf das Signal, sich noch etwas mehr vor dieser Verräterin in Acht zu nehmen. Sie ist kein guter Einfluss auf ihn, wenn man bedenkt, wozu Rachel ihn all die Jahre über verleitet hat. Zu welch schrecklichen Dingen ihn seine Krankheit verleitet hat.
Sie ist sein Kryptonit, sie ist sein Virus, seine Krankheit.
Sie allein hat ihn krank gemacht. Und will ihn jetzt nur noch mehr kriechen sehen. Sie ist nicht hier, um sich zu entschuldigen. Sie hat von Anfang an gewusst, dass es so weit kommen würde und hat sich nicht drum gekümmert, ihn irgendwie abgehalten.
Sie ist das Problem, nicht er. Sie allein muss beseitigt werden.
„Also, Rachel!", wispere ich und gebe meiner Stimme die nötige Energie, um sie möglichst provokant klingen zu lassen. „Warum bist du hier? Du tauchst hier auf und...und..."
Verzweifelt versuche ich, die Situation genauer zu erklären und ringe nach den richtigen Worten. Irgendwie muss es doch einen Weg geben, ihr das verständlich zu machen...
„Arya, lass es!", spüre ich eine Hand auf meiner Schulter und drehe mich nach Jay um.
Er schwitzt.
Kleine Schweißtröpfchen sammeln sich auf seiner Stirn und rinnen ihm die Wangen hinab, seine Finger sind ganz heiß. Und klebrig. Igitt!
„Arya, lass...lass mich mit ihr reden!", fleht Jay und bewegt seinen Rollstuhl von mir und der Distanzzone weg, fährt auf Rachel zu.
Sie ist ganz ruhig. Nicht mal ein Mucks entweicht ihr, während Jay unmittelbar vor ihr stehen bleibt und Rachel ein zaghaftes Lächeln schenkt. Rachel lächelt zurück.
Du solltest besser gehen, die beiden haben sich so lange nicht mehr gesehen - da gibt's viel zu erzählen, glaube mir!
Vielleicht hast du Recht, flüstere ich und entferne mich über den Flur, bis zu dem Aufzug.
Er wird schon wissen, was er tut.
_______________
Arya ist verschwunden. Obwohl Jay nicht über die Schulter gesehen hat, weiß er, dass ihn sein Freund alleine gelassen hat.
Alleine mit Rachel.
In seinem Kopf geht es zu wie in einer Achterbahn - alles dreht sich.
Er weiß nicht, was er sagen soll, so hübsch ist sie. Doch Jay weiß auch, dass ein zweiter Versuch nie wieder möglich sein wird. Nicht nachdem, was ihm widerfahren ist.
Nicht nachdem, was sie aus ihm gemacht hat.
„Jay?", murmelt sie kleinlaut und wendet den Blick schnell wieder auf den Boden, es ist ihr peinlich. Aber wie!
„Ich...ich hab dich so vermisst!"
Rachel ist den Tränen nahe. Ihre Wangen laufen puterrot an, wie eine reife Tomate und sie versucht, eine weitere Heulattacke zu vermeiden. Sie schiebt sich eine lila Strähne hinters Ohr und atmet tief durch.
Das Rot in ihren Wangen verebbt.
„Jay, ich...es - es tut mir so verdammt leid, ehrlich...ich meine alles! Alles, was ich dir angetan habe, die abgeblasene Hochzeit, die Trennung, Toby - ich war so ein Arsch!"
Dem Lockenkopf kommt die Galle hoch, als er an diesen Mistkerl denken muss. Toby McLaren. Ihr Ex nach ihm.
Diesem Typen, diesem Loverboy, hat er nachts aufgelauert und ihn bewusstlos geschlagen, sodass er zwei ganze Wochen im Krankenhaus gelegen hat. Unzählige Knochenbrüche und Prellungen, sogar drei Zähne hat er verloren. Er wollte nur Sex mit ihr, sonst nichts. Doch Rachel hat niemandem geglaubt - außer Toby selbst.
Nach der Schlägerei, von der Jay zum Glück nur ein Veilchen unterm linken Auge davon getragen hat, hat man die Polizei alarmiert. Und gleich darauf sind die Männer von der Anstalt gekommen und haben ihn einliefern lassen. Während Rachel tatenlos zu gesehen hat.
Sie hat tatenlos zu gesehen, wie er sich gewehrt hat. Wie er gekratzt und gebissen hat, um zu ihr zurück zu kehren. Zu einer Verräterin.
Die ganze Zeit über hat er jemandem vertraut, der ihn noch nicht mal geliebt hat. Der ihn noch nicht mal akzeptiert hat, egal ob krank oder nicht.
Der sich köstlich amüsiert hat, als er abgeholt worden ist. Diese ganze Entschuldigung muss eine Farce sein.
Er muss Arya hinterher.
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Ich kehre zurück in den Eingangsbereich des Krankenhauses und setze mich dort auf einen der harten Plastikstühle.
Ich spiele mit dem Gedanken, mit dem nächsten Bus - egal - zu meiner Wohnung zu fahren und mich endlich hinzulegen. Meinetwegen bis zum nächsten Morgen. Ich bin so müde...😪
Ich kann nicht glauben, was Rachel vor hat. Ich kann nicht glauben, was sie all die Jahre mit Jay abgezogen hat. Ich kann nicht glauben, dass ich nun zwischen ihre Fronten geraten bin - zwischen die Fronten eines abgekarteten Spiels.
Wann wird sie endlich kapieren, dass es zwischen ihr und ihm nichts mehr außer einem Abgrund gibt? Ein Abgrund, der alles gnadenlos in die Tiefe stürzen lässt, was je aufgebaut worden ist.
Wie wird sie wohl reagieren, wenn sie erfährt, dass ich krank bin? Wie wird sie reagieren, dass ich Jay rein zufällig in der Bar getroffen und von da an jeden Tag mit ihm geredet habe?
Wie wird sie reagieren, dass er mich mehr braucht als irgendjemand anderen?
Das Summen des gegenüberliegenden Fahrstuhls weckt mich aus meinen Gedanken, einen Lidschlag später steht Jay vor mir.
Er ist ganz blass um die Nase. Wahrscheinlich eine kleine Nebenwirkung von der Narkose.
Aus seiner Miene kann ich lesen, dass er es nicht übers Herz gebracht hat, mit Rachel zu reden. Warum auch?
Ich rutsche von dem Stuhl und gehe in die Knie, sodass ich ihm direkt in die Augen schauen kann.
Seine Augen sind so unendlich tief, dass ich mich darin spiegeln kann. Und so unendlich traurig.
„Arya!", setzt Jay an und nähert sich meinem Gesicht, meinen rauen Lippen. Ich wehre mich nicht, ich will mich nicht wehren. Ich will ihn spüren, mit allen Sinnen. Mit allen Gefühlen, die ich besitze.
„Jay!", wiederhole ich seinen Namen, wie ein Mantra, das nie enden kann. Dafür werde ich sorgen.
„Jay, ich...ich werde dich nie mehr loslassen!"
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Ich habe noch nie einen Mann geküsst - obwohl Jay eher noch zu den Jungs gehört. Und doch fühlt es sich so...angenehm an, so richtig.
Es kümmert mich nicht, dass Rachel alles versucht hat, um ihn zurück zu gewinnen.
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„Warum?", frage ich, als ich mich wieder von seinem heißen Körper löse und seine glühenden Finger in meine lege. Er sieht mich an, wie ein kleines Katzenbaby - mit diesen extrem süßen Kulleraugen, denen man nichts, absolut gar nichts verübeln kann.
Doch so leid es mir tut, ich muss es wissen.
„Warum, Jay? Warum diese Narben?"
Ich stelle die Frage ganz unbeirrt, obwohl er ahnt, worauf ich hinaus möchte.
Die Kulleraugen verschwinden und machen diesem „Begossener Pudel" - Blick Platz, dem ich mich nicht mehr entziehen kann.
Als Jay schließlich reagiert, ist seine Stimme kurz vor dem Brechen.
„Ich...stell dir eine Welt vor, wo die Menschen dich so akzeptieren, wie du bist. Und irgendwann passiert etwas mit dir, was die meisten nicht wahrhaben wollen und anfangen, dich nieder zu machen. In ihren Augen bist du ein Nichts, eine Null - genau, eine NULL! Du wirst tagaus tagein beschimpft, herum geschubst, man droht dir mit dem Tod. Und verrate mir EINE SACHE, ARYA LEE: Was würdest du tun, wenn sich alle Welt gegen dich stellt, mit allen, die du jemals lieb gewonnen hast? Was würdest du tun, wenn du nicht mehr schlafen kannst und nur noch an die ganzen hasserfüllten Kommentare der anderen denkst? Was würdest du tun, wenn - wenn absolut JEDER dich für krank hält? Würdest du die ganze Welt nieder brennen, nur um Rache an denjenigen zu nehmen, die dir das alles angetan haben? Nur, um elendig zu zu sehen, wie alle, die du liebst, vor die Hunde gehen?"
Er bemerkt nicht, dass er sich weit nach vorne gebeugt hat und mich vorwurfsvoll anstarrt. Ich verbiete es ihm nicht.
„Du...du hast schon damals versucht, dich umzubringen, oder?"
Jay zögert, schluckt schwer und nickt dann. Ich kann verstehen, wie schwer ihm die Wahrheit im Magen liegt.
Er deutet auf meine Gitarre und ich hebe das Instrument langsam auf meinen Schoß.
„Kannst - Kannst du mir was vorspielen? D - Deine Musik, sie ist so schön...würdest du das tun?"
Ich erfülle seinen Wunsch und beginne, die ersten Töne meines neuen Songs zu spielen. Ich habe ihn schon so oft geübt, im Schutz meiner vier Wände und ganz ohne Noten. Jay hört zu, er ist ganz ruhig.
Ich erinnere mich daran, als es geregnet hat und er bei mir gewesen ist, um mir seine Geschichte zu erzählen. Ich erinnere mich daran, als ich ihn ignoriert habe, bei dieser einen Frage. Als er mich gefragt hat, was ich tun würde, wenn die Liste voll ist.
Ich bin ihm eine Antwort schuldig.
Jay schnieft. Ich lasse die letzten Akkorde des Liedes verklingen und stelle die Gitarre zurück auf den Boden neben dem Stuhl, nehme ihn in den Arm. Genieße das gleichmäßige Pochen unserer Herzen, das Blut in unseren Adern.
Sanft streiche ich ihm über das Gesicht, fange eine Träne auf, die seine Wange hinab rollt.
Ich küsse ihn erneut.
Es ist mir egal, wer ihn jemals schikaniert hat. Es ist mir egal, wer seine Krankheit für schädlich hält.
Wenn es sein muss, werde ich ihn beschützen. Er braucht mich. Egal, was er denkt. Und kein Problem der Welt kann mich davon abhalten. Auch Rachel nicht.
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„Ich habe versucht, mich zu töten!", offenbart mir Jay nach einer Weile und zieht zur Verstärkung seiner Worte sein Hemd hoch - die feinen Linien auf seiner blassen Haut sind deutlich zu erkennen.
„Ich konnte einfach nicht mehr, nicht nachdem, was Rachel und die anderen getan haben...es war kurz, nachdem ich eingeliefert worden bin. Ich habe auf meiner Matratze gelegen und darüber nachgedacht, wie es weiter gehen könnte - doch ich wusste, dass mich niemand mehr mögen würde. Ich war ein Fluch für alle, eine Last. Das war der Moment, wo ich angefangen habe, meinen ersten Brief zu schreiben. Ich habe ihn nie verschickt, keinen einzelnen...du kennst es ja. Und dann, eines Nachts - da habe ich ein Messer genommen und...der Schmerz hat so gut getan."
Jay macht eine Pause, er schwitzt wieder. Hastig wischt er sich über die Stirn, bevor er weiter erzählt. Ich halte ihn nicht auf.
„Der Schmerz hat mir für eine ganze Weile alles genommen. Alle Probleme, alle Sorgen...und obwohl ich keinen Alkohol trinke, habe ich mich darin ertränkt. Bis ich dich getroffen habe. Du bist ein toller Mensch, Arya. Und obwohl du mit den gleichen Problemen leben musst wie ich, würde ich - ich würde dir mein Herz schenken. Ich sage das nicht nur so, ich meine das vollkommen ernst..."
Seine Worte, die eigentlich so harmlos klingen, hallen in mir nach wie tausend Echos.
Ich würde dir mein Herz schenken.
Er würde mir sein Leben schenken. Er würde sich umbringen, nur wegen mir. Das darf nicht sein, das kann nicht sein. Doch es ist kein Scherz.
Meine Befürchtungen verfliegen jedoch im selben Augenblick, als Jay breit grinst. Und dann bricht er in Gelächter aus.
„DRAN GEKRIEGT!", prustet er und boxt mich in die Seite, ich verstehe erst gar nicht, was los ist. Doch dann dämmert es mir und ich kann mir ein kleines Lächeln nicht verkneifen.
„Du Idiot, mich so zu erschrecken!", kichere ich und gebe ihm eine leichte Kopfnuss, es ist das erste Mal seit langem, dass ich Jay Samuelz lachen sehe.
Er ist glücklich.
______________
Drei Tage später
Ich sitze wieder in der Bar, wo ich mittlerweile Stammkunde geworden bin und nippe an meiner Cola. Der gelangweilte Kellner ist durch eine hübsche Asiatin mit wallend roten Haaren und ebenfalls roten Lippenstift ersetzt worden, die gerade ihre Schicht beendet hat. Ich zwinkere ihr zu, bevor sie den Laden verlässt und Platz für einen weiteren Gast macht - ich halte den Atem an.
Was macht Gary denn hier?
Und er ist nicht allein, er hat Jay mitgebracht.
Sein Rollstuhl schabt über den Boden und kommt wenige Zentimeter neben mir zum Stehen, ich weiß, was jetzt kommt.
„Ist hier noch frei?", scherze ich, ohne von meinem Getränk auf zu sehen.
Mein Therapeut grinst verschmitzt und zieht an Jays fahrbarem Untersatz die Bremsen an, lehnt sich an den Tresen.
„Ich habe gehofft, dass ich dich hier finde, du Schlingel!", meint er und deutet mit einem Kopfnicken auf den Lockenkopf.
„Er hier wollte keine Ruhe geben und da habe ich ihn zu einer kleinen Spritztour eingeladen...auch mal ne nette Abwechslung für Laura, damit sie aufhört, sich um ihren Bruder zu sorgen! Stimmts, Eisenberg?"
Er tätschelt die Griffe des Rollstuhls liebevoll mit einer Hand, Jay schenkt mir ein gequältes Grinsen à la Das ist voll peinlich...
Seitdem er endlich aus der Psychiatrie raus geholt worden ist, behandelt Gary ihn wie sein eigener Sohn. Es ist nicht leicht gewesen, ihn dort wieder zu entlassen, da die Pfleger schon im Dreieck gesprungen sind, als sie von Jays Krankenhaus - Aufenthalt gehört haben. Doch nach einigen Takten von Gary selbst, indem er gedroht hat, sie alle hinter Gitter zu bringen - wegen menschenverachtender Maßnahmen - haben sie schließlich klein bei gegeben.
Jay geht es fast wieder wie vor seiner Krankheit - nur, dass es keine Rachel mehr in seinem Leben gibt. Stattdessen hat er nun Laura als seine Schwester, die ihn umsorgt wie ein Baby und ihm jeden Wunsch von den Lippen ablesen kann.
Die ganzen Briefe, die er nie verschickt hat, sind gut aufbewahrt in einer kleinen Schachtel, wozu nur Jay den Schlüssel besitzt. Gary weiß nichts davon.
Jay hat sich sogar dazu überwunden, einen Brief an mich zu verschicken - darin bedankt er sich für alles, was ich für ihn getan habe.
Lieber Arya,
du bist der Erste, dem ich einen Brief schicken werde. Wirklich. Ich musste lange grübeln, aber dann...vielleicht versuchst du es auch mal!:-)
Weißt du schon das Neuste? Dein Therapeut, Gary, hat mich aus der Psychiatrie raus geholt und ist denen da voll aufs Dach gestiegen...krass, oder??? Jedenfalls wohne ich vorerst bei ihm, seine Tochter ist auch ziemlich nett - netter als Rachel!
Und rate mal, was sie studiert? Psychologie! Das heißt, sie wird irgendwann in die Fußstapfen ihres Vaters treten und kann seine Praxis übernehmen...doch sie hat sich noch nicht dazu geäußert.
Mir geht's ganz gut, jetzt, wo ich in Sicherheit vor der Welt dort draußen bin - aber ich fürchte, es wird nicht mehr ewig so sein. Ich muss mir einen Job suchen, meine Musik kann mich nicht für immer über Wasser halten. So ist es leider!
Aber irgendwie habe ich Bedenken, was den Job angeht - ich meine, WER stellt denn einen Typen im Rollstuhl ein? Na ja, ich sollte mich wohl daran gewöhnen...nur einen Hoffnungsschimmer gibt's: Die Ärzte haben gemeint, dass ich vielleicht bald Prothesen kriege. Nicht gerade besser, da ich ja dann wieder laufen lernen muss. Obwohl es ist nicht gerade schön, wenn man im Bus nur über eine Rampe rein kommt und von manchen schief angestarrt wird...
Spaß beiseite!
Gary therapiert mich jetzt und hat mir letztens etwas gebeichtet: Ich bin nicht krank. Und du auch nicht, Arya!
Weißt du, ich habe nie verstanden, dass ich eigentlich NICHT tot bin und noch quietschfidel, aber...die ganze Zeit bin ich mir selbst im Weg gewesen. Meine Suizidversuche, meine Depressionen oder die Briefe - all das habe ich nur gemacht, um MICH besser zu fühlen. Aber es gibt kein „besser", Arya.
Von wegen, niemand will dich mehr haben, nur weil wir anders sind - wir bilden uns Dinge ein, die wir nicht sind. Verstehst du, Arya?
WIR SIND NICHT KRANK! NIEMAND IST KRANK, NIEMAND IST NICHT NORMAL ODER HAT NE STÖRUNG!
Doch viele Menschen verstehen es einfach nicht und das ist schlimm. Ich bin trotzdem froh, dass es Leute gibt, die dich - EGAL, WIE MAN IST - akzeptieren. Auch, wenn du es nicht erwarten würdest.
So jemand bist du, Arya Lee!
Puh, dann werde ich das hier mal zur Post bringen. Wir sehen uns bald wieder, okay? Ich bin mir sicher!
In Liebe,
Dein Jay
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Mir sind beim Lesen die Tränen gekommen. Ehrlich.
Diese Zeilen haben alles gesagt, was ich nie von ihm gedacht hätte. Diese Zeilen sind voller Mitgefühl und man muss schon zweimal hin gucken, um die versteckte Bedeutung zu erkennen.
Dass ich die Bedeutung erkennen kann.
Jay Samuelz liebt mich. Ich habe ihn am Leben gehalten, die ganze Zeit über. Und habe es fast nicht bemerkt. Ich Idiot!😅😁
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„Arya?", holt mich Garys Stimme in die Realität zurück und ich schaue von meiner Cola auf, in seine Augen.
Seine Brille ist weg.
Und wo ist Jay?
„Er ist kurz zur Toilette, keine Sorge!", lächelt mein Seelenklempner, doch sein Blick wird wieder ernst.
Zu ernst. Etwas stimmt nicht.
„Ich...", räuspert sich Gary und fummelt an dem Holz auf dem Tresen herum, atmet tief durch.
„Ich habe neulich bei meinem letzten Konzert eine Mail von der Wiener Staatsoper bekommen. In zwei Wochen werde ich dort spielen, vor Millionen von Menschen...oh Mann und ich habe noch gar nichts vorbereitet! Natürlich werde ich Laura und Jay noch nichts verraten, es soll ja eine Überraschung werden...hey, wo drückt der Schuh?"
Sein Standard - Spruch. Er muss wohl meine niedergeschlagene Miene bemerkt haben. Doch das kann mir den Schock nicht nehmen.
Es dauert eine Weile, bis ich wieder reden kann. Doch selbst dann geht es nicht.
Gary nimmt mich in den Arm, drückt mir beinahe die Luft ab. Ich genieße es. Innerlich jedoch bin ich kurz vor dem Kollaps.
Was soll ich tun, wenn er nach Österreich geht? Was soll ich tun, wenn ich meinen Vater - Ersatz verliere? Was soll ich tun, wenn...ich habe keine Ahnung.
Mein Therapeut fasst mich an den Schultern:
„Arya, sieh mich an! Du bist der beste Patient, den ich je hatte, das sollst du wissen. Wie du das alles für Jay getan hast, nur um deine Krankheit zu vergessen, die eigentlich keine ist...Respekt! Und er kann dir dafür gar nicht genug danken, das weiß ich. Und...", er überlegt kurz, „Und deshalb bekommst du einen Ehrenplatz an meiner Wand, versprochen!"
Meine bedrückte Miene hellt sich auf, obwohl es nur für einen ganz kurzen Moment ist. Ich schlucke den fetten, allgemein bekannten, Kloß im Hals hinunter und -
„Was soll sein? A - alles gut...ich freu mich für dich, wirklich..."
NOTLÜGE!!!
Mein Gedächtnis ist mit dieser Ausrede ganz und gar nicht zufrieden, doch etwas anderes fällt mir nicht ein.
Es will mir nicht einfallen.
Bevor Gary jedoch zu einer Antwort ansetzen kann, rollt glücklicherweise im selben Moment Jay um die Ecke:
„Zweimal Sprite bitte! Mit Eiswürfeln!"
Er winkt dem neuen Typen hinter dem Tresen lächelnd zu und macht eine Geste in Garys Richtung, die wie Das geht auf mich! wirkt.
Ein leises Quietschen ertönt, als er die Bremsen vom Rollstuhl fest zieht und sich von meinem Therapeuten auf den Hocker helfen lässt.
Da werden auch schon seine Getränke serviert und Jay nimmt einen großen Schluck, Gary hat seins noch nicht angerührt.
Ob Jay ahnt, was los ist? Wenn Gary wirklich weg zieht, dann wird er mit ihm kommen, ohne wenn und aber. Sogar Laura wird vielleicht vorerst die Uni wechseln müssen...
Mein Seelenklempner unterbricht, an dem Holz herum zu fummeln und wendet sich zum Gehen.
„Ich muss noch mal weg! Nicht, dass es dafür einen Grund gäbe, aber...", er zwinkert dem Lockenkopf zu, „...ich seh schon, ihr wollt euch mal so richtig aussprechen! Wir Psychologen haben das im Blut, wir können alles beobachten...jaja, ich geh ja schon!"
Kopfschüttelnd, aber verschmitzt lächelnd stiefelt Gary zur Tür und ist im nächsten Moment außer Hörweite.
Ich muss es Jay wissen lassen. Überraschung hin oder her.
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Zögernd greife ich nach seiner Hand und drücke seine Finger so fest, dass sie ganz weiß werden.
Klingt kitschig, ich weiß.
„Kannst...kannst du was für dich behalten?", frage ich und ignoriere die hoch kommenden Tränen, die mein Blickfeld verschleiern, mich sogar blind machen können.
Der Lockenkopf nickt stumm.
Er spürt, dass ich traurig bin. So, wie ich es bei ihm gespürt habe.
Mit dem kleinen, aber feinen Unterschied, dass er beinahe wahnsinnig geworden ist.
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Jay wartet darauf, dass ich es ihm sage. Dass ich ihm sage, dass Gary nach Wien ziehen und ihn womöglich mitnehmen wird.
Ihn, meine einzige Chance auf ein normales Leben.
Ich hole tief Luft und öffne den Mund - da kommt er mir zuvor.
„Ist es nicht komisch? Ich meine...das mit der Liebe?", sagt er, einfach so. Ohne Bedenken. Ich unterbreche ihn nicht, ich will hören, was er damit meint.
„Weißt du, all diese Menschen um uns herum...all die sind in unseren Augen glücklich. Glücklich, weil ihr erstes Date kein Reinfall gewesen ist. Glücklich, weil sie den Rest ihres Lebens mit der Person verbringen möchten, die ihnen am Herzen liegt. Glücklich, weil sie diese Person um nichts auf der Welt eintauschen wollen. Egal ob Mann oder Frau!"
Jay verschränkt seine Finger mit meinen und schaut mir tief in die Augen.
„Diese Menschen, sie alle haben es verdient, glücklich zu sein. Aber...aber was ist mit uns? Wir beide, Arya - wir...wir haben bisher nur Pech gehabt. Selbst ich habe geglaubt, dass mich Rachel akzeptieren würde, doch sie hat mich eiskalt fallen gelassen. Und weißt du, warum, Arya? Weißt du es? Weil wir - egal ob krank oder nicht - anders sind als jeder beschissene Freak dort draußen! Wir gehören nicht dazu, Arya - doch das sollte uns nicht runter ziehen. Wir beide gehören zusammen. Für immer!"
Wir beide gegen den Rest der Welt!
Ich bin wie gebannt von seinen Worten. Was mag als nächstes kommen?
„Liebe ist kompliziert. Sie kann dich entweder blind oder taub machen, je nach Charakter. In den schlimmsten Fällen kann sie jedoch auch ziemlich grausam sein...", Jay seufzt und betrachtet die Stümpfe, dort wo seine Beine nie mehr sein werden. Kurz befeuchtet er seine Lippen und redet weiter. Er klingt plötzlich nicht mehr wie Jay Samuelz, sondern eher wie ein weiser, alter Mann.
„Ich habe dem Tod mehrfach ins Auge geblickt, mehr als es irgendeiner je tun könnte. Und ich habe in der Liebe keine guten Erfahrungen gesammelt, mich deswegen selbst verletzt. Ich dachte, die Liebe ist nur so fies zu mir, weil ich mich nicht geändert habe, weil ich krank geworden bin...heute weiß ich es besser! Liebe ist so, wie man sie empfindet, abhängig von dem, mit dem du kuscheln oder Händchen halten willst. Bei Rachel habe ich mich immer gefragt, ob sie mich wirklich mag - ich hätte von Anfang an auf mein Herz hören sollen. Und jetzt, jetzt wo du da bist, Arya Lee - sehe ich die Liebe ganz anders. Du, ein Typ mit musikalischem Talent, guter Figur und...und deinem Charme! Deine ganz eigene Art, das ist es, was ich an dir mag. Du hast mir gezeigt, dass ein Leben, mag es noch so qualvoll sein, auch schön sein kann. Du lässt dich nicht von anderen kontrollieren, für dich bist du dein eigener Herr. Du...du machst mich glücklich!"
Während er das alles sagt, laufen mir bereits die Tränen über die Wangen.
Noch nie hat mir jemand in der Form gesagt, dass er mich liebt. Noch nicht einmal meine Mutter oder Saman. Ich bin zutiefst gerührt.
„Dustet dâram.", hauche ich heiser und schniefe etwas zu laut.
„Das war Persisch für Ich liebe dich!"
Noch nie in meinem Leben habe ich mich mehr gebraucht gefühlt als jetzt.
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Heute Abend komme ich erst gegen zwei Uhr nach Hause. Jay und ich sind noch durch die dunklen Straßen Berlins gewandert(wobei er eher gefahren ist), haben uns peinliche Geschichten aus unserer Kindheit erzählt und die Sterne beobachtet.
Vor Garys Wohnung hat Jay schließlich angehalten und mich zum Abschied nochmal geküsst - so intensiv, dass die Straßenlaterne neben uns geflackert hat.
Bevor er rein gegangen ist, hat er mir etwas in die Hand gedrückt - etwas kleines, metallenes. Ganz unauffällig natürlich.
„Schau auf der Rückseite des Briefs nach, den ich dir geschickt habe!", hat er auf meinen verwirrten Blick hin bemerkt. „Lass dich überraschen!"
Mit diesen Worten ist die Haustür hinter ihm ins Schloss gefallen und ich habe noch eine Weile auf dem Gehweg gestanden, bevor oben im ersten Stock des Hauses die Lichter gelöscht wurden.
Nun hocke ich angespannt auf dem Sofa im Wohnzimmer, das mysteriöse Kleinod liegt in ein Taschentuch eingewickelt vor mir auf dem Tisch.
Zuerst der Brief. Oder doch erst Jays Geschenk?
Ich entscheide mich für Letzteres und befreie den winzigen Gegenstand aus dem fusseligen Papier.
Ein Ring. Und zwar nicht irgendeiner - ein waschechter Verlobungsring. Oh Mann, Jay du Idiot!
Mindestens tausend Gefühle gleichzeitig brechen sich in mir Bahn, die als Lachen und Weinen hervor stoßen. Ich kann es nicht fassen.
Ausgerechnet der Typ, von dem ich es am wenigsten erwartet habe, will mich heiraten? Und ist das nicht noch zu früh?
Umso angespannter fühle ich mich, als ich endlich den Brief von der Rückseite aus lesen kann. Die wenigen, noch rasch hin gekritzelten Zeilen lassen mein Herz Luftsprünge machen. Mehr noch: Doppelte Saltos.
Wenn du das hier liest, werde ich es endlich geschafft haben. Ich habe es geschafft, dir den Ring zu geben, den du gerade in der Hand hältst. Und mir geht's wundervoll.
Wie ich bereits sagte, Liebe ist kompliziert. Sie kann für einige tückisch sein, für andere jedoch ziemlich perfekt. Sie kann dir Menschen bescheren, die dich behalten wollen, für alle Zeiten. Und dann gibt's noch die Menschen, die dich ohne Grund verlassen.
Liebe. Sie kann dich aufbauen, um dich im nächsten Moment nieder zu reißen. BAMM, einfach so.
Sie kann dir die Augen öffnen und machen, dass du jemanden, den du vorher gar nicht kanntest, vermissen wirst.
Sie kann dein gebrochenes Herz reparieren.
Arya Lee - ich hab's dir nie gesagt, da ich gehofft hatte, du würdest es irgendwann selbst bemerken. Doch jetzt ist der Moment gekommen, wo ich dir endlich meine Liebe geben möchte...egal, was ich vorher für ein Wrack gewesen bin.
Ich möchte dich behalten, ich möchte deiner Gitarre lauschen, ich möchte mit dir leben. Für immer.
Und du weißt es wahrscheinlich noch nicht, aber - ich bin derjenige, der noch auf deiner Liste fehlt. Und ich will diese Art von Mensch, diese letzte Kategorie, so gut es geht erfüllen. Bis zu meinem Tod.
Nun also frage ich dich, Arya Lee:
Willst du mich heiraten?
P.S.: Ich hoffe, deine Antwort lautet JA...😅😇
Natürlich will ich. Unbedingt.
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Der Tag des Umzugs ist gekommen. Der große Lieferwagen steht bereits in der Einfahrt und zwei Männer packen die ersten Kisten ins Auto. In der Tür steht Laura und winkt mir hektisch zu, als ich dort ankomme.
„Arya, schön dich zu sehen!", ruft sie und läuft stürmisch auf mich zu, nimmt mich in den Arm. Ihre blonden, langen Haare kitzeln mich etwas im Gesicht, doch ich lasse mir nichts anmerken.
Sie ist groß geworden, überragt mich um fast einen halben Meter. Kein Wunder, als angehende Psychologin muss man einiges aushalten können...
Im Gegensatz zu ihrem Vater ist sie eher eine Sportskanone und geht dreimal pro Woche im örtlichen Park joggen. Für klassische Musik hat sie gar kein Faible, nicht einmal für Beethoven. Nichts bringt sie mehr auf die Palme, wenn ihr Dad probt - trotzdem liebt Laura ihn mit Herz und Seele.
Als wäre das ein Signal gewesen, kommt Gary aus dem Haus, den Geigenkasten unterm Arm. Hinter ihm - ich kann es auf den ersten Blick nicht glauben - läuft Jay.
Er läuft tatsächlich. Sein Rollstuhl ist fort. Und ich habe ihn noch nie so glücklich gesehen.
Anstelle des fahrbaren Untersatzes tragen seine ehemaligen Beine nun Prothesen, die ihn wie einen Roboter aussehen lassen. Noch etwas unbeholfen, aber über beide Ohren grinsend stolpert Jay auf mich zu und wirft mich beinahe um. Gibt mir einen Kuss auf die Wange, Gary und Laura machen sich kurzerhand aus dem Staub.
Ob er es ihnen erzählt hat?
„Und, was sagst du?", lächelt der Lockenkopf, greift nach meiner Hand. Ich zögere, blicke zwischen ihm, dem Umzugswagen und meinem Therapeuten hin und her. Ich beiße mir ganz fest auf die Lippe, um die hoch kommenden Tränen zu unterdrücken und hole tief Luft. Dann antworte ich:
„Ich hasse dich...dafür, dass du gehst! Warum kannst du nicht mit Gary reden, dass du hier bleiben und mich heiraten kannst? Warum machst du aus allem so ein Drama, Jay Samuelz?"
Er starrt mich fassungslos an, die Art von Reaktion auf seinen Brief und den Ring hat er nicht erwartet. Dabei meine ich es gar nicht so.
Ich kann ihm ansehen, dass man ihn noch nicht darüber informiert hat. Dass Gary ihm noch nicht gesagt hat, dass er nach Wien ziehen wird, um dort seinen langersehnten Traum vom Stargeiger zu verwirklichen. Und er hat sich so große Hoffnungen gemacht, dass nichts mehr geschehen wird, bis zu unserer Trauung. Jay hat sich geirrt.
„Wie hätte ich denn mit ihm reden können, wenn er die ganze letzte Woche beschäftigt gewesen ist?", brüllt er mich an, sein eben noch fröhlicher Blick ist eiskalt. Genau wie bei unserer ersten Begegnung.
„Genau, da hast du's...er hat telefoniert und voll laut geprobt, mein Trommelfell ist beinahe geplatzt - ich habe es wenigstens geschafft, den Brief zu verschicken. Ich habe den Tod besiegt, um dich glücklich zu machen, um mir eine Chance zu geben. Um dich zu heiraten, Arya Lee!"
Sein Gesicht ist kalkweiß, er zittert. Ich lege ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter, doch er schlägt sie weg. Jetzt ist er es, der weint.
„Ich dachte, du würdest mich lieben, Arya! Ich dachte, du...du willst mich akzeptieren. Stattdessen...stattdessen hackst du auf meiner Seele herum, wie es Rachel getan hat. Du bist kein Stück besser als sie und die anderen!"
Diese Worte treffen mich bis ins Mark. Ich will irgendetwas sagen, egal was - Hauptsache, er ist nicht mehr sauer. Doch so leicht wird es nicht.
Jay lässt mir keine Zeit, zu erklären. Geräuschvoll zieht er die Nase hoch und fährt mit heiserer Stimme fort:
„Weißt du, was ich ertragen musste, Arya Lee? Hast du auch nur ansatzweise eine Ahnung, wie dreckig es mir gegangen ist? Ich habe in der Irrenanstalt gelebt, Arya...für etwas, was ich nicht bin. Du hast mir das alles genommen, weil ich dir wichtig gewesen bin - ich habe sogar Klavier spielen gelernt, extra für dich! Und was ist dein Dank? Du spuckst auf mich, trittst mich mit Füßen - und zu guter Letzt belügst du mich auch noch! Ein toller Freund bist du..."
Das ist zu viel. Eindeutig.
Vor meinen Augen verschwimmt alles zu wirbelnden, dunklen Flecken. Ich kann nicht mehr atmen, nicht mehr sehen, nicht mehr hören. Mein Herz pocht wie wild in meiner Brust, bringt mein Blut zum kochen, den Puls zum rasen.
Tatenlos sehe ich zu, wie sich mein Arm hebt. Meine Finger zittern, während ich sie wie in Zeitlupe zur Faust balle. Wenige Meter von Jays Gesicht entfernt.
Alles, nur bitte das nicht.
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Meine Sicht wird wieder klar. Der Hulk in mir hat sich beruhigt und auch mein Atem geht seinen gewohnten Gang. Alles ist gut - bis ich das Blut sehe. Dunkelrot und glänzend klebt es an meiner geballten Faust. Vor meinen Füßen liegt Jay, sein Gesicht blutverschmiert. Gary und seine Tochter kümmern sich um ihn, würdigen mich keines Blickes.
Hauptsache, du kriegst es in den Griff.
Es stimmt nicht. Nichts habe ich mehr im Griff, ich habe mich nicht mehr im Griff.
Was habe ich bloß getan?
Ohne mich noch einmal umzudrehen, mache ich auf dem Absatz kehrt und renne davon. Ich muss hier weg.
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