Fallen III
Jay wird kreidebleich, er beginnt am ganzen Körper zu zittern. Ein Wunder ist jetzt genau das Richtige.
Just in diesem Augenblick kommt sein Freund angelaufen, schwenkt bedrohlich eine Eisenstange. Jays Gegenüber und die Hunde suchen sogleich das Weite, lassen ihr vermeintliches Opfer unversehrt zurück. Sonst wäre er jetzt vermutlich Hackfleisch.
„Arya, bin ich froh!", ruft er und wirft sich schwungvoll in seine Arme, sodass der Perser beinahe umkippt. „Du glaubst gar nicht, wie sehr ich dich vermisst habe..." Irgendetwas schwingt in seinem Tonfall mit, was seinem Bro ziemlich seltsam vorkommt. Doch er beschließt, ihn nicht gleich zu überfallen und erwidert die Umarmung. Eine ganze Weile halten sich die beiden eng umschlungen und genießen die vertraute Wärme des anderen - aber Jay hat doch keine Körperwärme mehr, oder?
Schließlich löst Arya sich von ihm und lächelt ihn an: „Ich hab dich auch vermisst. Aber komm erstmal mit rein, ein Gewitter ist im Anmarsch..." Wie zur Antwort blitzt es auch noch und bevor der nächste Regenguss nieder strömen kann, retten sie sich in Aryas gemütliche Wohnung. Dort betrachtet Jay mit leuchtenden Augen alles, so lange ist er hier nicht mehr gewesen. Und trotzdem sieht alles noch so aus wie immer, das übliche Domizil eines wahren Nerds eben. Aryas Gitarre ruht sicher verwahrt in der schwarzen Ledertasche neben dem Sofa, die er ja bekanntlich nur zum Nachdenken hervor holt. Außer dem Amerikaner weiß davon niemand. Mal abgesehen von dem gelungenen No Lie - Cover...
Erleichtert, endlich in Sicherheit zu sein, lässt sich Jay auf die Couch plumpsen und betrachtet die Poster an der gegenüberliegenden Wand. Arya und er haben sie einst gesammelt und zur absoluten Krönung ihres Drehstudios sorgfältig aufgehängt. Damit jeder sehen kann, wofür sie stehen und welche Leidenschaft sie immer noch teilen. Selbst über den Tod hinaus.
Der Regisseur verschwindet in der Küche und kommt kurz darauf mit zwei dampfenden Tassen Tee ins Wohnzimmer zurück, genau das Richtige für so ein blödes Wetter. Obwohl sich Jay beinahe die Zunge verbrennt, fühlt er die wohlige Wärme, die von dem heißen Getränk ausgeht und seine Kehle hinab rinnt. Ein leicht bitterer Geschmack bleibt zurück, doch er hat bisher noch nie so etwas Gutes probiert. Und mit dem leise fallenden Regen draußen vor dem Fenster verstärkt sich dieses fremde Gefühl noch mehr.
Jetzt wäre der perfekte Zeitpunkt, ihn zu küssen, denkt sich Arya, verwirft ihn aber sogleich wieder. Er ertappt sich sogar dabei, wie er sich vorbeugt und die Hand nach den dichten Locken ausstreckt... Krieg dich wieder ein, Arya Lee! Er verbirgt etwas vor dir, was du mit Sicherheit wissen musst. Also beherrsche dich, klar? Leichter gesagt als getan, wenn der beste Freund aus dem Himmel plötzlich unerwartet vor einem steht.
Und irgendetwas sich grundlegend verändert haben muss.
Er knackt seine Fingerknöchel einmal durch und räuspert sich hörbar, alarmiert dreht sich Jay zu ihm herum. Jetzt wird reinen Tisch gemacht.
„Spuck's aus!", sagt Arya und sieht ihm tief in die goldenen Augen, wenigstens das hat sich nicht geändert. Aber was dann? Er kommt einfach nicht drauf.
Also fährt er fort: „Du wirkst so...anders. Was ist los, hm? Vergiss nicht, du kannst mir alles anvertrauen!" Jay zögert, dann jedoch sprudelt es aus ihm heraus wie ein defekter Wasserhahn.
„IchwurdeausdemHimmelverbanntweilichzuUnrechtbeschuldigtwurdeundjemandderderSohndesTeufelsistwillGottesReichübernehmenundichmussdasinnerhalbvonzweiTagenverhindernundweißgarnichtwieichdasanstellensoll..."
Okay, der Hahn ist etwas zu defekt.
Jay ist ganz rot geworden, so wenig Luft holt er zwischen den einzelnen Worten. Es erinnert Arya an einen vergangenen Double Time - Rap, den er mal in einem ihrer Videos zum Besten gegeben hat. Das ist ebenfalls erhalten geblieben.
Er hebt abwehrend die Hände: „Okay, beruhig dich erstmal...WAS FASELST DU DA BITTE?" Arya meint dies so laut, dass sein Bro vor Schreck zusammen zuckt und automatisch wieder zu zittern anfängt. Oh Mann, wie empfindlich er auf einmal ist - gibt es dort oben eigentlich so etwas wie Drogen?
„Nochmal von vorne und bitte fürs Protokoll: Langsam und deutlich!", betont der Perser, wie als wenn er einem Dreijährigen das Alphabet beibringen soll. Fehlt nur noch Stift und Papier.
Jay wartet, bis das Rot in seinem Gesicht fort ist, atmet tief durch - und beginnt leider herzzerreißend zu weinen. Wie war das mit empfindlich?
„Ich...meine Flügel...sie sind geschrumpft worden!", schluchzt er und deutet zur Verstärkung auf seinen Rücken. „Kannst du dir das vorstellen, hast du jemals einen Engel ohne Flügel gesehen?" Arya folgt der stummen Aufforderung und entdeckt zwei Stümpfe, die links und rechts hinten aus dem Hoodie heraus ragen. Der Arme.
Liebevoll nimmt er Jay erneut in den Arm und tätschelt ihn wie ein Baby, das gerade Bäuerchen macht. Nur das Ei ei verkneift er sich. Der schluchzt in seine Armbeuge hinein und kann sich kaum noch beruhigen, so fertig ist er. „Sch, alles gut!", wispert Arya ihm ins Ohr und drückt ihn fester an sich. „Weißt du, ich finde dich auch ohne Flügel hübsch genug!" Jay schnieft und wischt sich über die feuchten Augen: „Meinst du?" Der Perser nickt zustimmend und gibt ihm einen flüchtigen Schmatzer auf die Wange. „Warum nicht? So und jetzt schön der Reihe nach!"
Zur selben Zeit in Luzifers Schloss...
Der leibhaftige Teufel ist schwer beschäftigt. Und wütend noch obendrauf. Da hat ihm sein nichtsnutziger Sohn hoch und heilig versprochen, die Verborgene Welt zu stürzen und jetzt muss sein Vater sich um diesen Schutzengel kümmern! Als ob er nicht schon genug zu tun hat! Grummelnd erhebt er sich von seinem mit Knochen verzierten Thron und geht in sein „Arbeitszimmer", von wo aus er das untere Reich und die Verborgene Welt gleichzeitig beobachten kann. Mal sehen. Dort oben tut sich wahrscheinlich nichts, wie immer sehr öde. Aber auf der Erde - oh ja, welch ein Vergnügen. Sein Diener Zerberus ist gerade dabei, den kleinen getarnten Engel ordentlich einzuschüchtern, perfekt. Alles sieht gut aus...bis dieser ekelhafte Mensch ins Bild kommt und ihn verjagt. Auch noch mit Eisen, dem stärksten Gift aller höllischen Kreaturen. Die Aufzeichnung stoppt. Es ist förmlich zum Hörner ausreißen, erst sein Sohn und nun das! Ein neuer Plan muss her, gut durchdacht und vor allem idiotensicher. Kurzerhand zitiert er Zerberus erneut herbei, dessen beide Hunde ziemlich müde in den Raum trotten. Er selbst sieht auch sehr mitgenommen aus, doch für Mitleid hat Luzifer nun mal überhaupt keine Zeit.
„WAS HABE ICH DIR EIGENTLICH GESAGT, ALS ICH DICH RUNTER GESCHICKT HABE?", poltert er und baut sich vor dem Buckel - Diener auf, seine Ziegenbeine kommen dabei besonders gut zur Geltung. Zerberus macht sich so klein wie nur möglich und stottert: „V - Verzeiht, eure F - Fürchterlichkeit...w - was sagten sie doch gleich..." Luzifer rollt so stark mit den Augen, dass das Weiß fast heraus treten könnte. „KEINEN KONTAKT MIT EISEN UND VOR ALLEM MENSCHEN, VERSTANDEN?", zischt er und schüttelt den Kopf. „DEINETWEGEN IST ER MIR ENTWISCHT - ICH REDE VON DEM NUTZLOSEN SCHUTZENGEL, DER AUFGRUND MEINES SOHNES VERBANNT WURDE!" Zerberus nickt stumm, doch innerhalb von 24 Stunden wird er es eh wieder vergessen haben. Sein Gebieter stiefelt grübelnd im Zimmer auf und ab, während der bucklige Dämon jeden seiner Schritte verfolgt: „U - Und was gedenkt Ihr, nun zu tun, eure grausige Eminenz?" Der Teufel legt die Stirn in Falten. So richtig hat er auch keine Ahnung mehr. „GEH SOFORT ZURÜCK UND BEOBACHTE WEITER!", befiehlt er ihm, woraufhin Zerberus kehrt macht und hinaus trippelt. „ZUR NOT MUSS ICH SCHWERERE GESCHÜTZE AUFFAHREN..." Ein erfrischendes Bad wäre nun genau richtig, doch vorher erlaubt er sich einen kleinen Wortwitz. Zur Hölle mit seinen Angestellten.
Das imaginäre Blatt Papier, auf dem Arya bereits eine gedankliche Notiz nach der anderen gemacht hat, ist randvoll. Jays Mund ist vollkommen ausgetrocknet, so viel hat er berichtet. Aus dieser wirklich abgedrehten Story könnte man glatt eine Biografie schreiben.
Arya runzelt die Stirn: „Okay, berichtige mich, sollte was falsch sein: Dein Erzfeind, der gleichzeitig der Sohn des Teufels ist, hat dich besessen gemacht, sodass du hierher geschickt wurdest. Deine Flügel kannst du nur im Notfall einsetzen und du hast zwei Tage Zeit, die Schreckensherrschaft über den Himmel zu verhindern? Das war die kürzeste Fassung, die ich kriegen konnte oder willst du noch mehr?" Sein Freund schüttelt den Kopf. „Goldrichtig, herzlichen Glückwunsch! Na ja, eine Sache hast du vergessen: Nicht nur meine Flügel, sondern alle meine Kräfte, sind verschwunden. Deshalb konnte ich mich nicht gegen deinen komischen Nachbarn zur Wehr setzen!" Er schmollt eine Runde, mit dieser Miene sieht Jay mega süß aus. Was er eigentlich schon immer gewesen ist.
Arya nimmt seine kühlen Finger in seine und lächelt ihn sanft an. Er hat sich entschieden. „Mach dir keine Sorgen!", ruft er und reckt triumphierend die Faust in die Höhe. „Ich werde dir mit allem, was in meiner Macht steht, so gut wie möglich helfen. Schließlich sind wir Bros und zusammen einzigartig, Engel hin oder her! Was sagst du?" Der Perser grinst breit, woraufhin Jay sich widerwillig ein kleines - wirklich nur ein klitzekleines - Lächeln erlaubt. Zum Glück weiß niemand, wie es in seinem Inneren gerade ausschaut.
Arya hat für heute schon genug Umarmungen verteilt, er hat schließlich kein Schild um den Hals. Doch, wie es nun mal seine Art ist, tut er es bei seinem Freund zum dritten Mal. „Wir kriegen das hin!", murmelt er und bringt es im nächsten Augenblick endlich fertig, ihn zu küssen. Mitten auf den Mund, obwohl er wieder nichts richtiges spüren kann. Bis auf die klamme Kälte, die trotz heißem Tee von Jay auszugehen scheint und niemals mehr enden wird.
Wie schwer kann es schon sein, den buchstäblichen Weltuntergang zu verhindern? Wie's aussieht, ziemlich.
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