4- „Enzyklopädie der intelligenten Antworten."
„[...] Magie ist wie ein Netz zu verstehen, das sich durch jedes Lebewesen und jeden Gegenstand zieht. Menschen und Wesen mit Zugang zu diesem Adergewebe, können die darin fließende Kraft nutzen, um für nicht verständige Menschen unglaubliche Dinge zu vollbringen.
Jede magische Handlung versetzt dabei das umliegende Netzwerk in Schwingung, die wiederum von anderen empfindlichen Wesen aufgefangen und zurückverfolgt werden können."
- (Linus Freihär, Zur Studie der nichtsichtbaren Welt; S.12)
✥✥✥
Mein Blick schoss in Camensi-Sturzflug-Geschwindigkeit von Lewi hinüber zu Ravn und zurück zur Tür. Bilder der widerlichen teigigen Fratzen der Reiter blitzten vor meinem inneren Auge auf.
Wir waren gefangen! Wenn wir Lewi nicht durch das Fenster werfen wollten-...
Ravn erriet meine Gedanken schon wieder.
„Ich klettere raus und fange Lewi auf ..."
„Vergiss es!", unterbrach ich ihn, „Ich werde meinen Bruder nicht wie eine bewusstlose Lebedame in deine Arme-..."
„Woher nimmst du nur immer diese Vergleiche?", zischte Ravn mich an, die Hände in die Luft geworfen.
„Enzyklopädie der intelligenten Antworten", gab ich trocken zurück.
Es klopfte noch einmal.
Stumm nickte Ravn Richtung Fenster und öffnete es, während ich Lewi unter den Armen packte und aus dem Bett hievte. Das Ganze konnte nicht gut für das Bein sein, aber meine Eltern hatten mir eingeschärft, dass Soldaten für Rebellen und deren Kinder ein viel größeres Gesundheitsrisiko darstellten.
Mit einem dumpfen Laut kam Ravn unterhalb des Fensters auf. Noch bevor ich fragen konnte, ob er sich verletzt habe, drückte jemand die Türklinke hinunter.
Rückblickend ist mir bis heute unverständlich, warum die Männer uns mitgenommen haben.
Es waren drei Stück an der Zahl, alle in brauner, abgetragener Kleidung, die in diesem Moment auf ein Mädchen starrten, das im Begriff war ihren schlafenden Bruder aus dem ersten Stock zu werfen.
Ich zumindest hätte die Tür wieder geschlossen, hätte auf dem Absatz kehrtgemacht und meinem Befehlshaber nie von diesem Zwischenfall erzählt. Ich hätte geschwiegen wie ein Mamepu oder eine Waldelfe, der man eine Rechenaufgabe gestellt hat. Und falls doch jemand gefragt hätte, wie der Junge aus dem Fenster gefallen wäre, hätte ich sie enthauptet. Tote stellen keine blöden Fragen.
Der König wusste das. Doch es waren nicht seine Männer, die dort in unserer Tür standen und mich interessiert musterten. Der Größte von ihnen zog spöttisch eine Augenbraue hoch, machte jedoch ebenfalls keine Anstalten mich aufzuhalten.
Ernüchtert ließ ich das Hemd meines Bruders los und er fiel mit einem dumpfen Laut auf den Boden. Hups.
„Lya! Beeil dich!", zischte von draußen Ravn hoch, was das Interesse des linken Kerls weckte. Ohne ein Wort zu sagen, ging er zwischen mir und seinem Kollegen hindurch zum Fenster und linste hinunter.
„Was?", schnappte ich nach dem Größten, der mich amüsiert musterte, „Entweder ihr helft, oder ihr wartet vor der Tür, bis das Zimmer frei ist."
Im Augenwinkel sah ich, wie sich das Grinsen des Fenstertyps verbreitete. Er hatte graues Haar, das wenig mit seinem Alter zu tun hatte. Seine Züge waren glatt und jugendlich, doch die Augen so dunkel, dass sie hier drinnen schwarz wirkten.
„Ihr glaubt nicht, wer da unten steht, die Arme ausgebreitet wie ein Tempelkind bereit für die Weihe", grinste er den anderen Zwei zu, die ebenfalls in unsere kleine Kammer traten und höflich die Tür hinter sich schlossen.
Ich verschränkte die Arme vor der Brust.
„Sag Ravn, er soll wieder hochkommen", erklärte der Große mit einem weiten Lächeln, ehe er sich neben mir herunterbeugte und Lewi zurück ins Bett hob. Angespannt folgte ich seinen Bewegungen, ehe mir dämmerte, was er da gerade gesagt hatte.
Es dauerte nicht lange, bis sich die Tür öffnete und ein deutlich verstimmter Ravn eintrat. Für eine halbe Minute tauschte er grimmige Blicke mit den Eindringlingen, nur um sich mit dem Rücken gegen die Tür zu lehnen, als wäre er ein Wachmann.
Super Taktik. Versperr den Feinden den Fluchtweg. Ich wollte allerdings auch nicht in die Mitte der stummen Auseinandersetzung kommen. Eigentlich.
Stattdessen fragte ich unschuldig: „Freunde von dir?"
Ravns Miene verfinstere sich noch mehr. Gegen ihn sah jeder Dorflehrmeister wie eine Sonnenfee aus und es hätte mich nicht gewundert, wenn in dem Moment, hier, unter diesem Dach, ein Gewitter losgebrochen wäre.
„Freunde?", echote der Grauhaarige, „Ich würde uns eher als Familie bezeichnen!" Allein ein merkwürdiges Geräusch aus seinem Mundwinkel verriet den Sarkasmus seiner Worte.
Ich verzog den Mund. „Stimmt. Jetzt wo du's ansprichst, ist die Ähnlichkeit unübersehbar", erklärte ich mit einem Nicken in Richtung der anderen Männer mit ihrem olivfarbenen Teint. Der Dritte lachte auf.
„Sie ist genau wie ihre Mutter", platzte es begeistert aus ihm heraus, als wäre er meine Mutter.
Ich verdrehte die Augen. Wenn mir nicht bald jemand erklären würde, was hier los war, würde ich doch noch handgreiflich werden.
Ravn schnaubte hörbar.
„Sie ist nicht ihre Mutter. Das vorlaute Mundwerk kommt aus der Linie ihres Vaters."
Ich bezweifelte schwer, dass das ein Kompliment gewesen war, hatte jedoch schon nach seinem ersten Satz begonnen zustimmend zu nicken.
Ravn sah das nicht.
„Das sind Kohen, Fenkwell", er nickte zu dem Großen, „und der Grauhaarige ist Balthar", stellte er in gelangweiltem Ton vor, ohne mich oder die Kerle anzusehen, „Alles Sucher und Lehrer von der Burg der Kinder."
Interessiert sah ich auf. Nacheinander winkten mir die zwei älteren Männer kurz zu, jeder einzelne deutlich freundlicher als Ravn es je gewesen war. Warum war er von dem Ort geflohen, wenn die Menschen dort so nett waren?
„Und ich denke nicht, dass ich Lya und Lewi Lenlay vorstellen muss", fügte Ravn hinzu und beendete seinen Text noch düsterer, „Ich habe sie aufgegriffen, nachdem Leop von Soldaten des Königs überrascht wurde."
„Oh, nein", betroffen senkte Kohen denk Kopf, der mit seinen schütteren Haaren im Alter von Leop Kamrell gewesen sein musste, „Er hätte nicht mehr ausreiten sollen. Aber er war so begeistert, euch kennen zu lernen. Man erzählt so viel von euch. Zwillinge! Das muss man erst mal verarbeiten. Meiner löchrigen Erinnerung nach hat es vor euch erst ein ..."
„...Zwei", mischte Fenkwell sich ein, die Arme ebenfalls verschränkt, „Es gab zwei Fälle von talentierten Zwillingen vor ihnen, beide waren eineiig und haben nicht das Kindesalter überlebt."
Ravn schnaubte noch einmal und ich fühlte mich unwohl. Ich wusste, es gab kein Vorkommen von magisch begabten Zwillingen. Mein Vater hatte uns früher seine kleinen Wunder genannt. Bis Lewi tatsächlich Wunder vollbrachte und jeden auf Trab hielt. Und ich nicht.
Doch wie eine Kuriosität angestarrt zu werden war für mich neu und mein sonst so loses Mundwerk wurde urplötzlich trocken.
„Warum beschreibt ihr nicht im Detail, wie die anderen Kinder gestorben sind, damit die Stimmung hier drinnen nicht so trübe ist?", knurrte Ravn und trat neben mich. Ein wenig erleichtert sah ich zu ihm auf, doch er ignorierte mich, wie immer.
„Wenn jemand weiß, wie man die Stimmung hebt, dann du", erwiderte Balthar vom Fensterbrett aus, während er scheinbar abgelenkt das Treiben dort unten auf den Straßen beobachtete.
„Ravn, wir haben in diesem Umkreis magische Schwingungen aufgegriffen. Sie haben uns zu dir geführt", schritt Fenkwell ein, bevor mein aufgebrachter Freund eine passende Antwort gab, die ihm in den Augen geschrieben stand. Vermutlich irgendwelche Beschimpfungen.
Doch, anstatt die Worte doch noch schnell loszuwerden, richtete er sich ein wenig mehr auf und nickte.
„Der Heiler verwendet Magie", entgegnete er nüchtern.
„Das wissen wir", schnalzte Balthar mit der Zunge, doch Fenkwell überging ihn.
„Und kann er auch die Lichter des Himmels erlöschen lassen?"
„Wohl kaum. Kein Magus bringt alleine so viel Kraft auf", schüttelte Ravn den Kopf, „Da ist etwas Mächtigeres am Werk."
Mir lief es eisig den Rücken herunter. Aber das bedeutete ...
„Du vermutest den König? Direkt hier im Umkreis?", Kohen wirkte alles andere als überzeugt.
„Ein Zauber, der die Sonne abbrennen lässt, würde eher einen magischen Tsunami auslösen, anstatt leichte Schwingungen in eurem Pseudo-Sucher-Pendel."
Zu meiner Überraschung nickte Fenkwell.
„Wir sollten von hier verschwinden. Kohen, mach die Pferde bereit. Ravn, Balthar, sobald ihr mit eurem Blickduell fertig seid, helft mir bitte, Lewi nach unten zu bringen."
Er hatte seinen Satz nicht ganz beendet, da sprangen die anderen zwei Männer auch schon in Aktion. Selbst Ravn, der für einen kurzen Moment zögerte, ergab sich seinem Schicksal und ging hinüber zu Lewis Bett.
„Wo genau gehen wir hin?", fragte ich, die Antwort vorausahnend.
Fenkwells Gesicht wurde von einem breiten Grinsen erhellt.
„Zur Burg der Kinder natürlich."
✥✥✥
Mit den drei Suchern wurde Ravn noch stiller als zuvor. Oft ritt er mit einigen Pferdelängen Abstand zu uns, den Blick starr in die Ferne gerichtet und die Lippen zu einer angespannten Linie zusammengepresst.
Fenkwell unterhielt sich die meiste Zeit mit mir, während Kohen damit beschäftigt war meinen Bruder zu pflegen. Er zog ihn auf einer Pritsche hinter seinem Pferd her und ermahnte uns zu regelmäßigen Pausen, um nach Lewis Bein zu sehen.
Sein unbewegtes Gesicht machte mir ehrlich Angst. Ich hatte in meinem ganzen Leben Lewi kein einziges Mal krank erlebt. Doch jetzt und hier sah er aus, als wäre er vor einiger Zeit gestorben und sein Körper hätte es noch nicht bemerkt.
„Nie krank gewesen?", wiederholte Fenkwell interessiert, als ich meine Sorgen mit ihm teilte, „Wie sieht es mit Verletzungen aus?"
Ich brauchte nicht lange nach einer Erinnerung suchen. „Wir hatten ein Flusskind im See hinter unserem Haus. Es hat versucht, Lewi zu ertränken. Ich weiß noch, dass ich eine Ewigkeit benötigte, um meine Eltern zu holen. Aber als wir zu dritt zurückkamen, saß er neben dem Ufer ohne einen einzigen Kratzer."
Beeindruckt nickte Fenkwell und winkte Balthar an seine Seite. Der Junge wirkte auf mich von dem ganzen Trio am merkwürdigsten. Er konnte kaum älter als Ravn sein, doch seine Haare ... Und es juckte mich in den Fingern herauszufinden, welche Geschichte sich dahinter verbarg.
„Balthar hat auch einmal ein Flusskind gesehen", erklärte der Mann mit einem breiten Grinsen, „Wenn ich mich nicht irre, war das, nachdem du Ravn in den Fluss geschubst hattest?"
Balthar machte ein nicht kommentierendes Geräusch, das Fenkwell dazu verleitete weiterzusprechen. „Ravn ist ausgeflippt. Hat ihn irgendwann als Rache nachts in den Wald gelockt."
Tatsächlich geschockt riss ich die Augen auf. Wie bitte? Was für eine Art Schule sollte ich besuchen? Von meinem bisherigen Verständnis war Fenkwell dort Lehrer, wenn er nicht gerade Ausreißer jagte, und doch sprach er über diese Vorfälle, als wären sie amüsante Streiche seiner eigenen Kinder.
„Ist irgendwem etwas passiert?"
Balthar nickte. Fenkwell winkte ab. „Nichts schlimmer als mein Alltag mit den Elementbändigern! Wenn du die trainierst, lohnt es sich immer, Schutzkleidung anzuziehen. Die haben ihre Kräfte wirklich nie im Griff!"
Sein ehemaliger Schüler schnaubte vorwurfsvoll: „Ich habe vier Nächte allein in einem dunklen Wald verbrachte, nur weil Ravn irgendeine unbehandelte Angst vor Wasser hat und-..."
Sein Leidensausdruck wurde unterbrochen, als wir die Kuppe eines Hügels erreichten und ich das erste Mal die Burg der Kinder sah. Selbst wenn er danach weitergesprochen hätte, ich hätte ihm nicht mehr zugehört.
Noch nie in meinem Leben hatte ich größere Bauten als die ländlichen Scheunen gesehen. Allein die fantastischen Wälle ließen meinen Unterkiefer schmerzhaft herunterfallen.
Ein graues Gebäude drängte sich an runde und eckige Türme, eingeschlossen von einer kolossalen Mauer und mitten drin ruhte das Hauptgebäude mit rotem Dach. Ich sah hohe, freischwebende Brücken, Zinnen, Tore und viele Fenster. Die Hoffnung, mehr von der Magie ähnlich der des Heilers zu finden, vertrieb kurz die Ängste, dort unten durch das Tor zu reiten. Sie sah so solide und widerstandsfähig aus, dass ich mir im ersten Moment nicht vorstellen konnte, dass es wirklich einen Zauber gab, der so ein riesiges Mauerwerk verbarg.
„Ah ja, sie hat doch immer denselben Effekt", grinste unser Gruppenleiter neben mir und tauschte einen wissenden Blick mit Balthar.
Sogar Ravn und Kohen hatten sich zu diesem Anlass bei uns eingefunden.
„Erinnerst du dich, als du Glorya hierhergebracht hast, Ravn? Sie hat für drei Tage nicht mehr gesprochen", ermutigte Fenkwell den dunkelhaarigen Jungen, doch er erntete nichts als stoisches Starren geradeaus.
Balthar entging dies. „Und danach wünschten wir uns alle, sie wäre bloß still geblieben."
Ich grinste. Zu schade, dass Balthar nicht mehr den Unterricht in der Burg besuchte. Ich hätte jemanden wie ihn zu schätzen gewusst.
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"Voted, wenn ihr auch gerne eine Ausgabe der Enzyklopädie für Intelligente Antworten hättet. Gerne auch signiert."- Lya, wirft auch mal ihren Bruder aus dem Fenster
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