1- "Achtung! Hühner!"
„Die Burg der Kinder ist ein schützender Rückzugsort für Nachwuchs mit magischen Begabungen. Sie wurde nur zu zwei historischen Gelegenheiten von Unbeteiligten erblickt. Im 3. Jahr von Kaelchon tauchte sie das erste Mal auf, nachdem ein Magier bei einer Hetzjagd tödlich verwundet wurde. [...] Die Burg selbst verschwand zwei Tage nach ihrem Erscheinen wieder. Sie wurde erst 25 Jahre später ein zweites Mal entdeckt, als ein Reisender in den Besitz eines seltsamen Schlüssels kam, der ihm ermöglichte, hinter die Illusion zu blicken. [...]Bis heute wird ein Doppel-Isolations-Zauber verwendet, der ausschließlich mit solch einem Schlüssel erlaubt, das Gebäude zu finden."
(Picae, Forscher der Magie an der Universität Belhem, in der Fachdisziplin: Naturkatastrophen und Volksschutz; S. 366)
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Es gibt Menschen, die trainieren ihren Zweikampf mit Holzschwertern und es gibt meinen Bruder, der versucht einen Habicht durch eine Wand fliegen zu lassen. Grund genug, auf der hinteren Veranda Platz zu nehmen und ihm bei seinen Versuchen zu beobachten. Hätte ich in unserem Haus irgendetwas zum Knabbern gefunden, wäre das der beste Nachmittag seit Ewigkeiten gewesen. Leider aber auch mein Letzter zuhause. Und in Frieden.
„Weißt du, wie lange ich an diesem Bild gesessen habe?", gesellte sich mein Vater zu mir, ein missbilligendes Auge auf das Schauspiel unter uns werfend. Er meinte die mannshohe Leinwand, auf der eine detaillierte Steinmauer im sachten Wind hin und her schlug. „Das Papier ist extra dünn, damit der Vogel keinen Schaden nimmt. Aber denkt jemand daran, wie schwierig nasse Farben sind? Nein."
Ein müdes Lächeln hob meine Mundwinkel. Ich hatte die endlosen Diskussionen zwischen unseren Eltern sehr wohl mitbekommen. Am Ende gewann stets unsere Mutter.
Unter uns ging das Training weiter. Ein kleiner Krieg, sichergestellt in der zerbrechlichen Blase der Ruhe. .
„Es ist unerlässlich, dass der Vogel dir vertraut. Mehr als seinen Instinkten. Große Verantwortung kommt mit sowas", erklärte meine Mutter, die Arme in die Seite gestemmt.
Lewi streckte die Hand nach dem Tier aus, um es in die Luft zu heben. Konzentriert schloss er die Augen, zweifelsohne, um die Welt aus der Vogelperspektive sehen zu können.
Unsere Ma rief ihm etwas Undeutliches zu, dann schoss das Tier auf das Bild zu. Er war flink, bemüht dem blonden Jungen zu gefallen. Geschmeidig flog er einen Looping, nahm Kurs auf die vermeintliche Mauer und...
... bog im letzten Moment nach links ab. Mein Bruder fluchte und öffnete die Lider, um zu unserer Mutter herüber zu stapfen, jeder Schritt ein Erdbeben des Zorns. Niederlagen- er hatte nie viele davon gehabt und wusste genauso wenig, wie man damit umging.
Vielleicht könnten sie ihm in der Burg helfen. Der Satz klang in meinem Kopf bitter. Die Abneigung für unser zukünftiges Heim hatte sich in den vergangenen Stunden nicht gemindert.
„Schickt ihr uns deshalb fort? Weil du keine falschen Wände mehr malen willst, in die später ein Vogel ein Loch hereinreißt?"
Mein Vater stützte die Ellenbogen auf der Brüstung ab. „Wie kannst du sicher sein, dass es dir dort nicht gefallen wird?"
Ich zuckte mit den Schultern und ließ meinen Blick streifen. Ich mochte unser Heim und den winzigen See dahinter. Wenn ich die Trauerweiden sah, hatte ich das Gefühl, hier her zu gehören. Warum sollte irgendwer von hier wegwollen?
„Deine Mutter ist in der Burg der Kinder aufgewachsen", fuhr mein Vater fort, als spüre er wie mein Heimweh bereits wuchs, „Sie hat es dort geliebt." Seine Finger strichen über die raue Oberfläche des Geländers. Künstler Hände. Kämpfer Hände.
Ein frustrierter Aufschrei verriet, dass das Flugtier wieder ausgewichen war. Ich sah inzwischen nicht mehr zu. Mein Kopf hatte sich in der nahen Zukunft verfangen. So lange die Burg nicht ebenso aufgemalte Wände hatte, um Vögel zu verwirren, konnte sie gar nicht so großartig wie mein zuhause sein. Zufluchtsort hin oder her. „Mama gehörte dort auch hin."
„Sie hatte gleichermaßen wenig Wahl wie du", grinste mein Vater, „Wenn die Sucher der Burg sie nicht vor den Handlangern des Königs gefunden hätten, wäre sie jetzt nicht hier."
Einem neuen Gedanken folgend, hob ich den Kopf. „Weshalb macht der König Jagd auf besondere Kinder?"
Die Brauen meines Vaters schoben sich zusammen. Kein angenehmes Thema. „Weil sie leichter zum Fangen sind? Und manchen von ihnen schüchtert er genug ein, dass sie für ihn arbeiten."
Ich hatte die Frage falsch ausgedrückt. .
„Ich meinte: Was hat er gegen uns? Warum kann es nicht einfach Lebewesen mit und ohne magische Begabung geben?" Ich hatte über die Jahre den ein oder anderen Lexikoneintrag bezüglich genmutierter Menschen gelesen. Sie beschrieben meine Familie als Monster und Mörder. Doch erfahrungsgemäß traf das allerhöchstens bei großen Feiern zu. Und wenn es Festtagsessen gab. Da der König jedoch bei keinem bisher dabei gewesen war, wunderte ich mich, woher diese schrecklichen Gerüchte kamen, die dafür sorgten, dass ich mein trautes Heim verlassen musste.
Mein Vater seufzte schwer. „Weil er Angst vor uns hat. Wir sind mächtig, Lya. Und wir könnten ihm seine Macht nehmen."
Ich schnalzte über die Ironie mit der Zunge. Wenn der Herrscher sein Volk in Ruhe gelassen hätte, hätten sich niemals Rebellenorganisationen aus übernatürlichen Menschen gebildet und er hätte heute seinen Frieden. Aber weil er sich wie ein Narr benahm, musste ich umziehen. Vielen Dank!
Das reißende Geräusch von Papier ließ uns zusammenzucken. Lewi hatte es geschafft und warf uns heischende Blicke zu, obwohl mein Vater aussah, als wäre der Habicht durch seine Brust und nicht durch ein Mauergemälde geflogen. Mit einem Augenrollen gab ich dem König recht. Sehr gefährlich, diese Genträger. Wenn man eine Papierwand war.
Lewi wollte den Trick wiederholen, doch wir hatten leider keine falschen Mauern mehr im Haus und ich hoffte, die letzten Stunden ebenfalls einmal zu trainieren. Es gab einen Streit, in dem mein Bruder mir vorwarf, ihn wieder auszubremsen. Meine Mutter vertröstete ihn damit, dass es in der Burg hilfreichere Lehrerinnen als sie gab und es am sinnvollsten wäre unsere Kräfte für den morgigen Start zu schonen.
Und wie es immer mit Ereignissen ist, die man weit fort von sich wünschte, kam dieser Aufbruch für mich viel zu schnell.
In einem feierlichen Augenblick überreichte meine Mutter mir ihre treue Stute und kaum einen Moment später fand ich mich bereits auf der Straße ins Verderben wieder. Zumindest nannte ich sie so.
Mit Lewi zu reisen hatte mehr Vorteile, als man dem drei-minuten-älteren Besserwisser zutraute. Es war praktisch unmöglich, sich zu verreiten, wenn er auf den Orientierungssinn jedes Tieres im Umkreis von zwei Steinwürfen zurückgriff. Eine Besonderheit, um die ich ihn zugegeben beneidete.
Warum uns unsere Eltern allerdings ohne Aufsicht losgeschickt hatten, in der Hoffnung, dass wir es beide in einem Stück zum nächsten Dorf schaffen würde, konnte ich nicht beantworten. Vielleicht war es einer dieser Schockversuche, die mein Vater wiederholt an mir ausprobierte, um doch noch ein magisches Talent aus mir heraus zu schrecken. .
Erfolglos, logischerweise.
Lewi hatte sich daran nicht gestört. Er liebte Herausforderungen, denen er sich alleine stellen durfte. Ich dagegen vermisste meine Familie schon jetzt.
Ich verstand selbstverständlich, dass unsere Eltern nicht durch eine Großstadt marschieren konnten, wenn noch heute ihre Gesichter auf den „Gesucht"-Zetteln die Innenstadt tapezierten.
Aber wir sprachen hier von Miondir. Man wohnte einen Tagesritt davon entfernt und hatte nie von diesem Dorf gehört. Ich bezweifelte sogar, dass auch nur eine Karte den Flecken verzeichnete.
Der perfekte Ort, um sich mit einem Sucher zu treffen.
Leop Kamrell war extra auf Wunsch meiner Mutter mitten ins Nirgendwo gereist, obwohl ihn eigentlich seine alten Knochen zu sehr schmerzten, um derartige Abenteuer noch zu erleben. Lewi wusste sofort, dass es sich hierbei um einen bekannten Rebellenveteranen handelte. Nach der historischen Niederlage im Schlossgarten war er zur Burg der Kinder zurückgekehrt, um dort zu unterrichten, und ihre besten Absolventen gleich weiter zu den Rebellenorganisationen im Untergrund zuschicken.
Und genau diese Gruppierungen waren das Ziel meines versessenen Bruders, der es nicht erwarten konnte die Bekanntschaft eines berühmten Kriegers zu machen. Lediglich Hillow Kamiri, Leiterin einer solchen Organisation, hätte ihn noch glücklicher gemacht.
Er war so aufgeregt, dass er vergaß, wütend auf mich zu sein, dass ich ebenfalls zur Burg kam. Ununterbrochen schwärmte er von den vielen Lehrern, die uns- oder besser gesagt ihm- zur Verfügung stehen würden. Er prahlte mit all dem Wissen, das sich dort angesammelt hatte und den großartigen Trainingsmöglichkeiten, die selbst meinem Schwertkampf helfen könnten. Und das war kein Kompliment. Mein Bruder hielt mich, dank mangelndem magischen Talent, für minderbemittelt und lernresistent, wenn es um das Führen von Waffen ging.
Dass ich ihn innerhalb von drei Zügen entwaffnen konnte, ignorierte er, mit dem Verweis, dass er schließlich nicht so fair gegen die Männer des Königs kämpfen würde. Und die auch nicht so sacht gegen mich.
Das Dorf empfing uns wenig überraschend im Zentrum eines Tals, in Sichtweite eines schmalen Flusses. Es hatte weder einen Palisadenzaun zur Verteidigung, noch ein einziges Gebäude, das größer als ein Schuppen war, und wurde stattdessen von bescheidenen Feldern eingerahmt. Es waren vielleicht zwei Handvoll hutzeliger Häuschen und einer Scheune, die sich direkt an das Ufer schmiegte. Eine steinerne Brücke führte darüber und jemand hatte mehrere Fässer mit Seilen am Geländer befestigt, um sie am Fortschwimmen zu hindern.
Nichts an diesem Ort unterschied sich wirklich von unserem Heim. Die Hütten reckten sich gerade bis zum ersten Stock, ihre Stroh- oder Holzschindeldächer trotzten nicht mal einem lauen Sommerregen und die aufwendig verzierten Dacherker moderten längst. Ihre Bewohner hatten sich Mühe gegeben die Türen und Fensterläden in grellen Farben zu streichen, um Elfen und Irrlichter abzuschrecken, doch die hölzernen Fassaden hatten sie ausgelassen und so passten sie perfekt in die grüne Landschaft.
„Achtung! Hühner!", warnte mich mein Bruder im letzten Moment, ehe ein paar Exemplare unseren Pferden in den Weg flogen, als wären die riesigen Tiere mit ihren schweren Hufen keine Bedrohung für mutiges Federvieh. Ihnen folgte ein Junge, der genauso, ohne aufzusehen, aus einem Garten stolperte.
Cairi, die Stute meiner Mutter, machte einen erschrockenen Satz zur Seite, was mich so überrumpelte, dass ich beinahe eine unfreiwillige Bodenprobe nahm. Die Hühner waren ähnlich verdutzt und flatterten unter wildem Gegacker durcheinander, was sogar Lewis Pferd erstaunt die Ohren spitzen ließ.
„Entschuldigung ...", nuschelte der kleine Junge, als er mit seinen dünnen Armen versuchte, die aufgeschreckten Tiere einzufangen. Er hatte tiefschwarze Haare, die in unkontrollierten Locken von seinem Kopf abstanden und einen starken Kontrast zu seiner bleichen Haut bildete. .
Jeder Ärger, den der Schreck in meinen Mund gelegt hatte, verpuffte jäh. Ein Kind! Erstaunlich selten draußen auf dem Land und noch seltener, wenn man den Hof der eigenen Eltern kaum verließ.
„Ziro!", rief in diesem Augenblick eine Stimme hinter uns. Ich zuckte zusammen.
Zwischen zwei Häusern kam ein junger Mann hervor, nicht nennenswert älter als wir. Gleiche schwarze Haare, weniger lockig, verrieten ihn sofort als den Bruder. Ziro ließ sein eben gefangenes Huhn wieder fallen, kaum da er ihn näherkommen sah.
„Verzeiht, er kann die-...", die Aufmerksamkeit des Größeren fiel auf mich und sein Satz brach abrupt ab. Er unterzog mich einer eingehenden Musterung und ich konnte nicht sagen, was hinter seiner versteinerten Miene vorging.
„Elayn?", brachte er schließlich zwischen seinen zusammen gepressten Zähnen hervor, bereit, den nächsten Gegenstand als Waffe zu greifen und mich von meinem Pferd zu holen.
Wie bitte? .
Mein Herz setzte einen Schlag aus. Das durfte nicht wahr sein! Hatte ich nicht eben noch darüber nachgedacht wie winzig und abgelegen das Dorf in die Hügel duckte, grenzte diese Szene an Hohn für meine Gedanken. Ich griff die Zügel kürzer. Flucht oder Angriff?
Interessiert musterte uns der Kleine, ehe sein Bruder ihn an der Hand packte und hinter sich in Deckung zog. Ein gefährliches Schweigen entstand, in dem mein Verstand fieberhaft nach einer Lösung suchte, die nicht aus roher Gewalt bestand.
Glücklicherweise reagierte Lewi schneller. .
„Oh ...", war allerdings alles, was er hervorbrachte, ehe er in Gelächter ausbrach. Ich schoss ein einziges Fragezeichen in seine Richtung. Das war nicht witzig. Der Kerl dachte, dass ich-...
„Ich habe dir gesagt; du siehst aus wie sie!", grinste Lewi, doch ich erkannte die Anstrengung hinter diesem Lachen. Was spielte er?
„Tu ich nicht ...", hielt ich dagegen, jedoch ohne die nötige Selbstsicherheit. Hatte ich etwas verpasst?
„Ich weiß, ich weiß. Elayn hat braune Augen, deine sind blau, aber verzeih dem guten Mann. Ihr seht euch zum Verwechseln ähnlich", plapperte mein Bruder weiter, als hätte er einen Hieb auf den Kopf bekommen oder Wein getrunken. .
Lewi plapperte nicht. .
Nie.
Und wenn er lachte, dann über mich.
Doch es funktionierte. Der Fremde entspannte sich, nachdem er meine Erscheinung prüfte.
Tatsächlich hatte Lewi Recht. Ich hatte nicht die sanften Augen unserer Mutter, die hatte niemand von uns beiden.
Aber heute in diesem Dorf jemanden anzutreffen, der wusste, welche Augenfarbe Elayn Lenlay hatte, verstimmte mir den Magen. Wusste er auch von ihrer Lieblingskette, die sie niemals ablegte? Hm?
Vor allem, da die groben Zeichnungen der „Gesucht"-Zettel über dieses Detail bestimmt keine Auskunft gaben.
Ohne sich um uns zu kümmern, kniete sich der Fremde hin und flüsterte seinem Bruder etwas ins Ohr. Es war eine liebevolle Geste, die mein Misstrauen nicht vertrieb. .
Der Junge nickte hektisch, die Augen aufgerissen, ehe er davonrannte.
Sein Beschützer sah ihm hinterher, als müsse er sichergehen, dass er den Weg nach Hause finden würde, ehe er sich uns zu wandte. Zu meiner Überraschung konnte ich weiterhin Spuren leisen Zweifels in seinem Gesicht sehen. Ganz gleich wie er sich Mühe gab diese hinter einem kantigen Unterkiefer zu verbergen. Er war kühler, als der seines Bruders und fraß Löcher in meine Haut.
„Das Dorf ist kein verbreitetes Reiseziel."
Ich hätte ihm eine Antwort verwehrt. Nicht, weil ich die indirekte Frage dreist fand. Er sah einfach nicht aus wie ein Bauer. Im Gegenteil. Die Art wie er die Faust ballte, kaum ausreichend kontrolliert, als dass sie nicht immer wieder zu seinem losen Gürtel zuckte, brachte jeden Idioten darauf, dass er liebend gerne ein Schwert nach uns schwingen würde.
Nur mein Bruder war entschlossen, die Wogen unserer Begegnung zu glätten. .
„Wir treffen einen Bekannten", entgegnete Lewi mit einem nachlässigen Lächeln und drehte sein Pferd um. Er hatte nicht gesehen, was mir aufgefallen war und sprach ich ihn später hierauf an, würde er meine Beobachtung als Hirngespinste abtun.
Widerwillig folgte ich ihm. Sicher war es besser, keinen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. .
Aber dann wiederum ... was war falsch mit ihm?
Ich riskierte einen Blick über die Schultern. Ein Fehler, wie sich herausstellte. Für einen kurzen Herzschlag trafen sich unsere Augen und ich glaubte mich daran zu verbrennen.
So unbewegt und abweisend der Fremde seinen Ausdruck halten wollte, seine Mauern reichten nicht ganz. Hinter ihnen loderten die zurückgedrängten Emotionen, entschlossen meine eigenen Schutzwälle nieder zu reißen und jedes meiner Geheimnisse offen zu legen. Mein Verstand stolperte über die letzte unfertige Eingebung und kam trudelnd zum Stehen.
Unbewusst bremste ich Cairi aus, um das wortlose Gefecht zu meinen Gunsten zu beenden. .
Was wusste er über uns?
„Lya", riss mein Bruder mich aus dem inneren Kampf. Er war schon weiter die Straße herunter, sein Pferd in meine Richtung gewendet. Selbst auf die Distanz spürte ich seine Ungeduld.
Ich traute mich nicht, nochmal zurückzusehen. Egal wie unangenehm es sein mochte den Kerl in meinem Rücken zu wissen. Das erste Mal aus dem Haus und ich wurde bereits paranoid. Kein Wunder, dass Lewi mir nichts zutraute.
Unser Treffen mit Leop war für den frühen Abend außerhalb des Dorfes anberaumt. Neben dem Fluss hatte sich ein Wäldchen zusammengerauft, das uns genügend Schutz vor neugierigen grünen Augen bieten würde. .
Wir erreichten es, nachdem Lewi in einem Laden unseren Proviant aufgestockt hatte.
Ich hatte nichts gegen die Verzögerung einzuwenden, doch die ständige Gesellschaft meines Bruders hätte jede Laune auf Dauer ruiniert. Es war kaum zu glauben, dass wir einmal unzertrennlich gewesen waren.
Das Leuchten eines Lagerfeuers schien zwischen den Bäumen hindurch, als wir die Pferde außerhalb anbanden und die Lichtung betraten. Davor saß, uns den Rücken zugekehrt, ein älterer Mann, der sich erst bei unserem Eintreffen umdrehte und mit einem Lachen von der Erde erhob. .
„Lya! Lewi!", breitete er die Arme aus, als hieße er uns in einer Villa willkommen, „Es muss zwei Jahrzehnte her sein, dass ich euch Beide das letzte Mal gesehen habe!"
„Wir sind erst sechzehn ...", warf ich irritiert ein und erntete von Lewi einen Knuff mit dem Ellenbogen in die Rippen. Statt sich über den offensichtlichen Gedächtnisverlust des Mannes Gedanken zu machen, erhellte heute das zweite breite Grinsen die Züge meines Bruders. Und dieses Mal war es sogar ein Echtes!
Für einen Moment glotzte ich ihn wie eine Kuh an, ehe er mich noch einmal knuffte und auf den Mann zuging. .
„Leop, meine Mutter richtet ihre Grüße aus!", erwiderte er den Empfang und ergriff die dargebotene Hand, um sie kräftig zu schütteln.
Ich blieb ein wenig benommen zurück. Ein dumpfes Knacken im Unterholz neben mir, lenkte mich von der Begrüßung ab. Hätte ich Lewis Kräfte, hätte ich einen Kanibi-Fuchs um seine Nachtsicht gebeten, stattdessen starrte ich angestrengt in den Schatten, der sich nicht bewegte. Oder doch? Nein. Doch? .
Doof starrend trat ich ein Stück näher an den Rand des Lichtkegels.
„Lya!", rief Lewi mich, der mit einer ungehaltenen Handbewegung zu Leop Kamrell gestikulierte, der auf meine Begrüßung wartete. Das hier war sein Moment und ich durfte ihn nicht ruinieren.
Mit einem letzten Blick zurück zu den Bäumen, die sich wieder vollkommen friedlich verhielten, machte ich kehrt und ging auf die beiden zu.
Das Lächeln auf den Lippen des Mannes, wärmte selbst mich ein bisschen für ihn auf. Ich kannte die Geschichten meiner Mutter über ihn, die ihn als tapfer und selbstlos beschrieben. Aber auch, dass er seine gesamte Familie in einem Überfall verloren hatte und seitdem jedes Kind wie sein eigenes behandelte.
„LYA RUNTER!", brüllte eine mir vage bekannte Stimme und riss mich aus meinen Erinnerungen. Noch bevor ich begriff, wer da mit mir sprach, plumpste ich zu Boden. Blanker Instinkt. Und einen Lidschlag später schnellte ein Bolzen über meinen Kopf hinweg und bohrte sich in einen Baumstamm.
Mit einem Ruck warf ich meinen Körper zur Seite, rollte mich auf den Rücken und sprang wieder auf die Füße. Hinter mir stürmten sechs Gestalten auf die Lichtung, alle mit silbern schimmernden Harnischen und Helmen, die Lewi im Dunkeln bestimmt gesehen hätte.
Ich aber nicht. Verdammt. .
Mein Schwert fand von alleine den Weg in meine Hand, als der erste Soldat auf mich zu rannte und dabei die gelben Zähne in einem dämlichen Grinsen zeigte. Der Anblick ließ mich mehr erschaudern, als seine offensichtlich falsche Angriffshaltung.
Das hier waren keine Reiter des Königs. Ihre verbeulte Rüstung verriet sie als Fußkämpfer. Dumm wie Bärven-Hunde.
Ein wenig Erleichterung kam zu angespannten Nerven durch. Das bedeutete, dass uns niemand gezielt suchte, ganz gleich wie merkwürdig das Treffen im Dorf heute Morgen gewesen war.
Aber es waren immer Zwei auf einmal. .
Dem Ersten verpasste ich eine Knieverletzung, die ihn nie wieder gehen lassen würde. Doch der Zweite drängte mich zurück, da hatte ich den Anderen noch nicht gänzlichst erledigt.
„Lya!", dieses Mal war es Lewi, der durch die Stille der Nacht rief. Ein Angstschrei des Furchtlosen, schrecklich allein durch seine Existenz. Eisiges Blut schoss durch meine Adern und stellte die Härchen in meinem Nacken auf. .
Der fremde Laut ließ mich trotz besserer Schulung herumfahren, als wäre ich eine Handpuppe gesteuert von Angst. Angst um meinen Bruder und vor dem, was jemanden wie ihn erschreckt haben konnte.
Ein heftiger Schmerz setzte in meinem Oberarm ein, als die Klinge meines Kontrahenten in mein Fleisch sank. Für einen Herzschlag starrte ich ihn entsetzt an, ehe er zur Seite wegkippte und die Sicht auf den schwarzhaarigen Jungen frei gab. Glücklicherweise den Älteren von beiden.
Er trug ebenfalls ein Schwert, von dem dunkles Blut auf den Boden tropfte, und seiner Miene fehlte nichts an Entschlossenheit. Kurz musterte er meinen Schnitt, ehe sein Blick hinter mich fiel und er sofort wieder in Bewegung kam. .
Hastig quetschte er sich an mir vorbei und spurtete los. Etwas langsamer drehte ich den Kopf.
Ich wusste nicht was ich denken oder fühlen sollte. Mein Arm pochte, als würde ich ihn in heiße Kohlen halten. Alles ging zu schnell, auch wenn dies wahrlich nicht mein erster Kampf war. Ich konnte die einzelnen Eindrücke nicht zu einem logischen Schluss zusammenknüpfen.
Nach Hilfe suchend wandte ich mich zu Lewi um. Das Echo seines Schreis hallte durch meinen leeren Verstand und holte den Frost zurück. Und als der Fremde ihn erreichte, blieb mir die Luft in der Lunge stecken.
Mein Bruder kniete vor einem niedergestreckten Leop Kamrell. Mit seinem freien Arm verteidigte er den blutenden Körper des alten Rebellen gegen zwei weitere Männer, die gnadenlos Schläge auf ihn niederhageln ließen.
Die letzten Zwei des Trupps lagen im Gras, regungslos.
Doch auch ihre Kollegen sahen nicht den blassen Schatten von hinten kommen, der ihnen so schnell die Kehle durchschnitt, dass sie noch nicht einmal einen Ton von sich gaben.
Mit laut schlagendem Herzen und zitternden Fingern eilte ich zu meinem Bruder und fiel ebenfalls neben ihn auf die Knie, das Schwert achtlos zur Seite geworfen. Vorsichtig nahm ich die Hände in meine, doch sie waren ohne jede Kraft. Mein Magen sank noch ein Stück weiter. Blut rann von meinem Arm auf ihn hinab.
Die eisige Kälte meiner Adern kroch unter meiner Haut entlang, als der Fremde Leops Augen schloss. .
Blut hatte sein Leinenhemd durchtränkt und färbte auch die Kleidung meines Bruders rot, der immer noch in verzweifelter Haltung den Oberkörper des Mannes hielt.
Mit einem erstickten Laut sank ich auf die Fersen und biss auf meine Unterlippe. Das durfte gerade nicht wirklich passiert sein.
„Wer seid ihr?", brach der Junge die Stille, die Arme anklagend verschränkt.
„Du kennst meinen Namen", erwiderte ich rau. Er hatte ihn gerufen und mir so das Leben vor dem Armbrust-Schützen-... unter den Leichen war kein Armbrust-Schütze!
Hektisch kam ich auf die Beine, griff mein Schwert und rannte zu der Stelle, von der die anderen Soldaten gekommen war. Mein Arm pulsierte von der Kampfverletzung, doch ich hatte keine Zeit mich darum zu kümmern.
„Er ist schon lange fort", rief der Schwarzhaarige mir hinter, als könne er nicht fassen, dass mir das nicht aufgefallen sei.
Tatsächlich lag das Halbdunkel des Waldes unbewegt vor mir. Erfroren im Schock der jüngsten Geschehnisse.
„Du rennst also frontal auf einen Bogenschützen zu, der sich womöglich zwischen den Bäumen versteckt?", fragte er spöttisch, als ich zu ihnen zurückkehrte.
„Wieso? Sollte ich ruhig sitzen bleiben, damit er meinen Rücken besser anvisieren kann?", schoss ich zurück und wischte meine Klinge an der Grasnarbe ab. Ich wusste nicht, was es war, doch in diesem Moment war ich mehr als bereit ihn genauso einen Kopf kürzer zu machen, Rettung hin oder her.
„Wer sagt uns, dass du nichts mit dem Angriff zu tun hattest?"
Er schnaubte, die Mundwinkel nach unten gezogen.
„Ist wohl dein erster Tag außerhalb des Nests. Oder siehst du sonst auch überall Verschwörungen?"
Ich zwang meine Miene zu einem gleichgültigen Ausdruck. Es war egal, dass er ins Schwarze getroffen hatte. Er wich der Frage aus.
„Also treiben sich öfter Soldaten des Königs hier im nirgendwo herum?"
„Genug", Lewi klang erschöpft, als er den alten Mann von sich schob und auf die Füße kam, „Wir haben weitaus größere Probleme, Lya."
Da hatte er Recht. Leop hatte vielleicht einen Schlüssel bei sich, der die Burg der Kinder für uns sichtbar machte, aber dazu mussten wir sie erst finden. .
Und dann lagen da noch sieben Leichen auf dem Waldboden, die alle kein so entscheidendes Problem darstellten, wie die eine, die uns fehlte.
Das ungute Gefühl kehrte sofort zurück.
✥✥✥
"Voted, um mit mir die Hühner einzufangen."- Ziro
Sodele, die Upload- Zeit wurde also jetzt erfolgreich auf Dienstag festgelegt, damit ich auch noch Zeit für den Weltenwandler habe :D Michael ohne Aufmerksamkeit ist GAR KEINE GUTE IDEE!
Aber zurück zu unseren Helden. Wie gefallen euch die unterschiedlichen Geschwistercharaktere bis jetzt?
xoxo
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