8- "Es geht noch schlimmer"
"[...] um die telepathischen Angriffe einer Genverstärkten Person zu verhindern, empfiehlt Meister Surom im ersten Schockmoment ein Mantra. Die Kontrolle über die eigenen Gedanken und das Aufrechterhalten einer Mauer erfordern maximale Konzentration. Sie können nicht von jedem angewandt werden. Das Wiederholen eines einfachen Satzes oder Mantra gelingen dagegen schon eher. Sie überlagern die eigentlichen Gedanken und machen sie unleserlich und unangenehm für den Eindringling."
- (Meister Surom, Mentale Talente in der Genverstärkung und ihre Abwehr. S.14)
✥✥✥
Cairi röchelte ein letztes Mal.
Mir schossen die Tränen in die Augen, heiß und schmerzhaft. Ich wollte zu ihr rüber krabbeln, doch der Schütze lud bereits nach. Ravn zappelte immer noch im Klammergriff und alles würde nur noch schlimmer werden, wenn ich nicht bald reagierte.
Der Typ hatte Cairi auf dem Gewissen. Mein heißgeliebtes Pferd. Ich konnte kaum in Worte fassen, was sie mir bedeutete und er hatte sie mir genommen.
Irgendetwas in mir schlug um.
Ruckartig drehte ich den Kopf und fixierte ihn an.
Hinter mir hörte ich Ravns Dunsin nervös wiehern, doch meine Konzentration lag alleine auf dem knienden Mann, der bereits wieder die Kurbel seiner Waffe betätigte. Präzise Arbeit, ungestört von der Ungerechtigkeit der Welt.
Glühender Zorn verfärbte meine ohnehin schon verschleierte Sicht. Die Taubheit der letzten Sekunden taute vollkommen weg und mein Griff um den Wurfdolch verstärkte sich noch. Schwankend kam ich auf die Beine.
Man musste nicht töten. Man konnte Menschen auch kampfunfähig machen.
Noch ehe ich den Gedanken zu Ende gedacht hatte, bewegte sich mein Arm und das silbrige Geschoss bohrte sich in die Hand des Soldaten. Präzise Arbeit.
Sein Schmerzensschrei betäubte meine Ohren, als er die Armbrust fallen ließ, um mit der anderen Hand nach dem Griff des Wurfdolches zu packen. Jede Bewegung ließ seine Finger schaurig zucken. Ich hatte eine Nervenbahn getroffen und er würde nie wieder eine Waffe betätigen.
Ravn brüllte meinen Namen, ein wenig angestrengter als zuvor.
Alles in mir zitterte vor zerreißender Gefühle. Ich wollte jemandem die Schuld an all meinem Unglück geben. Ich wollte, dass es endlich aufhörte. Ganz gleich wie irrational das war. Ich wollte ein Problem haben, das ich bekämpfen konnte.
Und Rufus, mit seinem Messer an Ravns Hals, gab dafür eine super Zielscheibe ab.
Geduldig fokussierte ich ihn an, das Gewicht des zweiten Dolches in der Hand abwägend. Dieses Mal sandte mich die Kühle des Metalls nicht in Schockstarre, sondern beruhigte meine aufgewühlten Nerven.
Ein Ruck ging durch den Informanten und er verzog sein Gesicht zu einer merkwürdigen Maske des Schmerzes. Ravn stolperte von ihm weg, als die Arme seines Angreifers abrupt nachgaben. Blut bildete sich in dessen Mundwinkel.
Verdutzt ließ ich den Wurfdolch sinken. Was hatte Ravn gemacht?
Doch als dieser aus meiner Blickrichtung lief, sah ich die blutige Spitze eines Schwertes aus der Brust des Informanten ragen. Dort verharrte sie kurz und zog sich mit einem Ruck zurück, ein widerliches Loch hinterlassend.
Mein Atem stockte, Rufus kippte zur Seite und ein grimmig entschlossener Lewi mit einer goldenen Krone aus Locken hob sich gegen den blutroten Himmel ab.
Moment.
Was?
Von Links hüpfte eine andere Gestalt zu ihm, die Ravn hektisch ausweichen ließ. Sie flüsterte etwas in Lewis Ohr, drehte sie sich um und bewegte sich auf mich zu.
Hörner und diese fremdartigen Streifen auf ihrer Haut ließen mich in jeder Bewegung innehalten. Ich blinzelte einmal-... und noch einmal. War das ...? Nein. Sah aber verflucht wie eine Gazel aus.
Mit schwingenden Schritten lief sie an mir vorbei und kniete sich neben Cairi ins Gras.
Oh nein. Niemand würde das arme Tier anfassen. Es reichte! Mir reichte es! Ich war fertig mit ihnen allen. Mörder und ... was auch immer sie war! Es war genug!
„Finger weg, oder ich breche sie dir alle einzeln!"
Noch ehe sie reagieren konnte, warf ich mich auf sie, den Ellenbogen zu einem gezielten Schlag auf ihr Kinn ausgestreckt.
Ich landete den Treffer auch.
Aber aus irgendeinem Grund tat er mir mehr weh als ihr.
„Lya, nein!"
Lewis Lieblingssatz. Es war kein Wunder, dass es das Erste sein würde, was er bei unserem Wiedersehen zu mir sagte.
Doch ich freute mich nicht. Diese Monster hatten Cairi verletzt und ich würde nicht zulassen, dass man ihr Leiden noch verschlimmerte.
Das Mädchen drehte sich und schenkte mir ein mitleidiges Lächeln.
„Ich versuche sie zu heilen, wenn du mich in Ruhe lässt."
Von wegen. So viel Glück hatte ich nicht und ich würde nicht alles noch weiter den Fluss runter gehen lassen. Entschieden griff ich nach ihr, wurde jedoch abgewehrt.
Wer war sie? Eine Art Kampf-Vampir?
Zugegeben, vielleicht waren durch all die Tränen und die Wut meine Bewegungen ein wenig unkoordiniert.
Gerade startete ich einen weiteren Versuch, als jemand mich von hinten packte und von dem Mädchen wegzog.
Instinktiv trat ich um mich und kämpfte meine Arme frei. Das würden sie bereuen! Wie konnten sie nur so herzlos sein? Das war ein wehrloses Tier!
„Und ich würde ihr wirklich gerne helfen, wenn du endlich Ruhe geben würdest!", beschied mich die junge Frau mit milder Schärfe. Auch wenn sie versuchte, mich anzufunkeln, es wollte nicht so beeindruckend aussehen, wie sie beabsichtigte. Sie hatte goldene Augen!
„Und hör bitte auf ‚Geh weg' zu denken, ich habe gerade andere Probleme, als in deinem Kopf herum zu stöbern!", wandte sie sich an Ravn.
Er stand einige Fuß entfernt von uns, eine steile Falte in die Stirn gegraben.
Er würde mir auch nicht helfen. Mein Herz sank noch ein wenig tiefer in den Magen und ich stellte die Tritte ein. Stattdessen quollen die Tränen über. Es war vorbei. Ich war alleine.
Lewi versuchte, mich noch ein Stück weiter in seine Arme zu ziehen, dieses Mal tröstend um mich geschlungen. Ich verpasste ihm eine Kopfnuss. Ich würde ihm das hier nie verzeihen.
Endlich in Frieden gelassen, wandte sich das Mädchen meiner Stute zu und strich ihr sanft über die Stirn bis hinunter zu den Nüstern.
Cairis eben noch panischen Bewegungen ließen nach. Stattdessen bettete sie ihren Kopf ins Gras, bereit, für was auch immer jetzt kommen mochte.
Die Hände des Mädchens fanden die Wunde in ihrem Brustkorb. Das Gefieder des Bolzens ragte aus dem seidigen Fell, von Blutspritzern übersäht. Sie griff danach und zog ihn mit einem Ruck heraus, der Cairi einen weiteren gequälten Schrei entlockte.
Ich wimmerte inzwischen, wollte gleichzeitig den Kopf wegdrehen oder meine verschwundenen Kräfte mobilisieren, um all diese Ungerechtigkeit auszulöschen. Lewi hielt mich trotzdem.
Das Mädchen hatte schnell Druck auf die Wunde ausgeübt und murmelte unverständliche Worte, die mir vage bekannt vorkamen. Magie? Ich würde sie momentan nicht mal mehr erkennen, wenn sie direkt vor meiner Nase stattfände.
„Sie heilt sie", flüsterte Lewi in mein Ohr. Er gab sich alle Mühe mich so vorsichtig wie eben möglich an Ort und Stelle zu halten, den Kopf auf meinen gelegt, aus Angst vor einer weiteren Attacke.
Und tatsächlich. Cairis Atemzüge wurden langsamer und tiefer. Der Schmerz verschwand aus ihren Augen und als das Mädchen ihre Hände von der Wunde hob, war nichts mehr zu sehen, als der rote Blutfleck auf ihrem Fell.
Ich hielt die Luft an. Hoffnung, die Art, die dir den Boden unter den Füßen wegzog, ertränkte mich. Lewi ließ mich los und haltlos stolperte ich auf die Stute zu, die mit einem zufriedenen Schnauben auf die Beine kam. Sie war ... lebendig.
Das konnte nicht sein. Niemand hatte unter einem Fluch so viel Glück.
Zaghaft streckte ich meine Finger nach ihr aus. Nur um zu schauen, ob sie wirklich dastand.
„Es gibt überhaupt keinen Fluch der Mörder. Das ist eine Volkslegende, um die Menschen zu verschrecken ...", hörte ich im Hintergrund das Mädchen ihre Verwirrung zu Lewi ausdrücken, doch ich hörte ihr kaum zu.
Sie stand tatsächlich da.
Kurzentschlossen warf ich an den Hals der Stute und drückte mein tränenüberströmtes Gesicht in ihre Mähne. Cairi schnaubte noch einmal und versuchte mich aus dem Weg zu schieben, um an das Gras an meinen Füßen zu gelangen.
Ein merkwürdiges Lachen drängte sich in mir hoch und ich trat zur Seite.
Der Moment war perfe-...
„Was macht eine Gazel außerhalb ihrer Schlucht?" Die Feindseligkeit in Ravns Stimme ließ meinen Kopf herumfahren. Wovon redete er da?
Beschützend stellte Lewi sich neben sie, das Kinn in Trotz erhoben. Er setzte bereits zu einer Antwort in ihrer Verteidigung an, doch das Mädchen brauchte seine Hilfe nicht.
„Ich bin hier, um zu lernen. Und um mir ein eigenes Bild von Lewis Schilderungen zu machen." Hatte sie die Abneigung in Ravns Stimme gehört, ignorierte sie diese gekonnt. Stattdessen legte sie den Kopf schief und konzentriere sich.
„Hat es einen Grund, dass du deinen Verstand so krampfhaft vor mir verbirgst?"
Ravns Lippen waren zu einem einzigen Strich gespannt, der Unterkiefer in unterdrückten Zorn verkantet. Er würde ihr kaum antworten. Und ich brauchte keinen weiteren Streit. Nicht jetzt.
„Wenn er wollte, dass du seine Gedanken hörst, würde er sie laut aussprechen." Ich gab mir wirklich alle Mühe nicht undankbar zu klingen, eine Hand auf Cairis Rücken.
„Ich weiß, dass du nicht undankbar bist", entgegnete die Gazel mit einem süßen Lächeln, das Ravn ein abfälliges Schnauben entlockte.
„Lewi was soll das? Wo hast du sie überhaupt aufgetrieben?"
Wo wohl?
Das Mädchen kicherte und machte mir wieder bewusst, dass ich nicht mehr alleine in meinem Kopf war. Ich warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu, der sie sofort verstummen ließ.
Das war eine Gazel? Sie war ... niedlich. Unschuldig. Keine mordwütige Richterin der Göttin Erib. Zumindest nicht auf den ersten Eindruck.
„Ich war bei ihnen, Ravn. Ich habe mich ihrem Urteil gebeugt", Lewi sprach so ruhig, dass ich hellhörig wurde.
Ravn ebenso: „Was haben sie getan?"
„Meine Verbindung zur Magie gekappt." Es war, als habe er die erste Schaufel voll Erde auf sein offenes Grab geworfen. Von alleine fiel mein Blick auf seine geschundenen Lippen, die er Tag und Nacht zerbissen haben musste.
„Oh Lewi", war alles, was ich herausbrachte, ehe ich endlich meinem aller ersten Bedürfnis unserer Begegnung nachgab, und auch ihn in eine Umarmung zog.
Melodramatisch? Ich hatte es mir verdient. Ich war mit den Nerven buchstäblich am Ende und jede noch so kleine gute Nachricht hielt mich einen Schritt weiter von den Irrenhäusern der Großstadt fern.
Ohne ein Wort zu sagen, fing er mich auf und presste mich gegen sich. Er hatte das genauso nötig wie ich.
Und endlich- das erste Mal seit Wochen- fühlte ich mich vollständig. Mit ihm würde alles gut werden.
„Du hast deine Kräfte aufgegeben? Alle?", unterbrach Ravn den Moment.
Ich schoss einen giftigen Blick nach ihm. Konnte er nicht gefühlvoller damit umgehen? Sah er nicht, wie schwer es Lewi fiel?
Offenbar nicht.
„Und dann nimmst du einen von ihnen mit, als deine persönliche Leibwache?", setzte er nach.
In einer gefassten Bewegung machte Lewi sich von mir los. „Ich brauche keine Leibwache. Ich konnte sie nur nicht davon abhalten. Nicht mehr zumindest. Sie ist ein bisschen stärker als ich."
Seine Aussage zauberte ein breites Grinsen auf ihr Gesicht. Eine Hand zum Gruß ausgestreckt, kam sie in großen Schritten auf Ravn zu. „Mein Name ist übrigens Evangheline. Es ist eine Freude deine Gedanken berühren zu dürfen."
War das ein Gazel-Gruß?
Verunsichert huschte mein Blick zu meinem Bruder herunter, der mit den Augen rollte.
„Es geht noch schlimmer", flüsterte er in mein Ohr und schaffte es tatsächlich, dass meine Mundwinkel unkontrolliert zuckten.
Eine angenehme Wärme breitete sich überall in mir aus und ließ mich ein wenig entspannen.
Ravn überging die ausgestreckte Hand komplett. „Sie kann nicht hierbleiben. Ich werde nicht mit ihr reisen."
Überrascht ließ Evangheline ihre Hand fallen und starrte ihn aus großen Augen an.
„Wegen deinem Vater?", hauchte sie in die entstandene Stille und ließ meinen Unterkiefer unangenehm nach unten fallen.
Wa-... Wie bitte?
Auch Lewi hob interessiert die Augenbrauen und wandte sich fragend an Ravn, dessen Miene sich noch weiter verfinsterte. Er fand meinen Blick und hielt für einen langen Moment daran fest.
„Nein, genau deswegen. Ich kann niemanden gebrauchen, der in meinem Kopf herum pfuscht."
„Ich finde nicht, dass Lya deine geistigen Fähigkeiten sonderlich beeinträchtigt."
Was?
Jetzt war es an Ravn große Augen vor wachsendem Horror zu machen.
Evangheline missinterpretierte seinen Gesichtsausdruck, was einer Telepatin nicht passieren sollte.
„Ich meine, du denkst natürlich vermehrt an sie, aber-..."
„Das reicht", unterbrach Ravn sie forsch und marschierte an ihr vorbei zu unserem Lager. Ohne einen von uns anzusehen, hob er seinen Sattel auf und warf ihn auf sein Pferd.
„Wenn sie hierbleibt, verfolge ich die Soldaten eben alleine."
Der Satz war unmissverständlich an mich gerichtet. Und hier kamen die Probleme wieder ...
„Ravn ich bitte dich." Ich klang wie meine Mutter, wenn Lewi und ich nicht aufgehört hatten zu streiten.
Behutsam ging ich auf ihn zu, die Hände erhoben. Ich konnte und ich wollte ihn nicht zwingen bei mir zu bleiben. Doch noch schrecklicher war die Vorstellung, dass er mich wirklich verlassen würde.
„Was wäre, wenn Evangheline verspricht, dass sie deine Gedanken für sich behält."
Autsch. Der Blick hätte auch töten können.
„Es ist beinahe unmöglich mit Blicken zu-..."
„Jetzt nicht", unterbrach Lewi die Gazel.
Ravn hatte bereits sein Pferd losgebunden und führte es zur Schlucht, um zu wissen, in welche Richtung die Soldaten weiter ritten.
„Ravn, bitte. Das hier war dein Plan und ich wüsste überhaupt nicht, was ich ohne dich machen soll", bemühte ich mich noch mehr, ein wenig verloren zwischen all dem Gras.
Ravn erstarrte. Meine Gedanken rumpelten gegeneinander. War das denn wirklich so abwegig? Das ich ihn brauchte?
„Nein, er hat dich gar nicht gehört", widersprach Evangheline, „Aber anscheinend sind die Soldaten fort und er weiß nicht wohin."
Ein Herzschlag nach dem Nächsten verstrich, in denen mein Kopf ihre Antwort in die richtige Reihenfolge brachte.
„WAS?", panisch stürzte ich neben Ravn und starrte ebenfalls hinunter auf die sandige Straße.
Das Camp war abgebrochen. Kein einziger Wagen war mehr zu sehen. Wie hatten sie verloren und mit ihnen Glorya.
„Wer ist Glorya?" Dunkle Locken flogen durch die Luft, so schnell drehte sie ihren Kopf.
„Glorya?", echote Lewi ungläubig und wandte sich fragend an Ravn und mich.
Ich konnte ihm kaum in die Augen schauen.
Oh weia. Das hier würde schrecklich werden.
✥✥✥
Und das, liebe @Zavabe, ist der Grund, warum ich nur ein Bisschen ein schlechtes Gewissen hatte :D
Ob ich beide Zwillinge noch umbringe überlege ich mir jetzt aber :D
xoxo
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