12- "Es tut mir leid."
„Alles läuft nach Plan."
-(Nachricht an den König, Absender unbekannt)
✥✥✥
„... oder er übernimmt die Kontrolle und was dann?", riss mich Gloryas geflüsterter Satz aus der Beobachtung.
Ich schob ihr Bild von mir und schlich mich beiläufig einige Bäume weiter weg, sodass ich Ravns Antwort verpasste. Jeder der Gefangenen hatte ihn mit Dank überschüttet. Ganz besonders Glorya, die ihn vor einigen Minuten mit in den Wald geschleift hatte, damit keiner der Umstehenden ihre Worte hörte. Nicht zuletzt ein Grund, warum ich ihnen bis zum Rand gefolgt war ... aber das schlechte Gewissen hatte mich eingeholt.
Jetzt starrte ich stur in die andere Richtung, als würde mich das weniger verdächtig aussehen lassen.
Es war ein befremdlich friedlicher Anblick. Wunderschön und doch surreal zugleich. Nur Evangheline fehlte, wie eine stumme Mahnung an unsere Missetaten.
„Was machst du hier hinten? Solltest du nicht bei deinen Eltern sein?" Ravns Stimme dicht neben meinem Ohr ließ mich ertappt zusammenzucken. Seine Nähe trieb mir trotz der Kälte eine verdächtige Röte ins Gesicht, die ich in der Dunkelheit lieber verstecken wollte.
Ich war so versunken gewesen, dass ich gar nicht bemerkt hatte, wie er aus dem Wald gekommen war.
„Ich denke, sie sollten dieses Gespräch ohne mich führen dürfen", gab ich zurück, die Schultern entspannend. Lewi brannte darauf, von seiner Herkunft zu hören. Es ließ ihm nachts keinen Schlaf und lenkte ihn tagsüber ab.
Sie jetzt so gedrängt, am Feuer sitzen zu sehen, war Balsam und Qual zugleich. Sie waren so glücklich, wie ich sie seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen hatte, obwohl meine Eltern aussahen wie der laufende Tod. Wie schützte man so ein Glück vor der Welt?
„Bist du denn gar nicht neugierig, was sie zu sagen haben?" Ravns irrlicht-grüne Augen musterten mich eindringlich.
Das war ich. Unglaublich sogar. Aber hier ging es nicht um mich. Und wenn Lewi bereit wäre, würde er mir davon erzählen. In dieser Hinsicht war er Ravn gar nicht so unähnlich.
Vorsichtig stahl ich einen Seitenblick auf sein Gesicht.
Dafür, dass er erst vor Kurzem meine Welt gerettet hatte, trug Ravn einen ausgesprochen ernsten Ausdruck zur Schau. Fühlte er sich genauso schuldig?
Entschlossen drehte ich mich zu ihm um: „Ist denn bei dir alles in Ordnung?"
Ravns Unterkiefer wurde fest. Es war eine unbewusste Geste, die stets wieder an den Tag trat, wenn er etwas vor mir verbergen wollte. Als müsse er sich selbst daran hindern, all seine Geheimnisse vor mir auszubreiten. Er vertraute mir nicht- nicht wirklich- und das verletzte mich.
Gereizt legte ich den Kopf schief. Was auch immer er für sich behielt, ich würde es genauso ertragen, wie alles andere das man mir in den Weg gelegt hatte. Ich war noch nie ein empfindliches Mädchen gewesen und für ihn würde ich noch so viel mehr auf mich nehmen. Nach allem, was er für mich getan hatte.
„Hat Glorya etwas Dummes gesagt?"
Ravns linkes Auge zuckte unmerklich. Ein Volltreffer.
„Nein."
Also ja. Andererseits, wann machte Glorya den Mund auf und was Hilfreiches kam heraus?
„Wegen Eve? Du weißt, dich trifft nicht für alles, was getan werden muss die Schuld."
Ravn fraß Schuld in sich hinein, als würde er davon leben. Sie verschlossen ihn gegen die Außenwelt.
Aber in diesem einen Fall teilten wir das Mahl.
„Sie hat sich lediglich bedankt dafür, dass ich sie damals mit zur Burg der Kinder gebracht und heute schon wieder gerettet habe", wiegelte Ravn ab und platzierte eine Hand auf meinem Rücken, um mich vorsichtig zum Feuer hinüber zu schieben.
Glorya sollte sich bei jemand anderem bedanken gehen. Ich hatte keine Geduld für ihre Spiele und gedachte nicht Ravn kampflos wieder an sie abzugeben.
Sicher, dass er mir nur die halbe Wahrheit gesagt hatte, vertagte ich das Gespräch auf einen späteren Zeitpunkt, wenn wir mehr Ruhe hatten.
Stumm liefen wir zu dem kleinen Lagerfeuer zurück, an dem sich bereits der gesamte Rest eingefunden hatte. Sie saßen auf Decken und flachen Steinen, dicht aneinandergedrängt, um der Kälte zu trotzen.
Beklommen ließ ich mich neben meiner Mutter nieder und streckte die Hände dem Feuer entgegen, das knisternd einzelne Funken in den Nachthimmel beförderte. Morgen früh würden wir die Heimreise antreten. Endlich. Und egal wie es von da an weiter ging, ich konnte mir sicher sein, dass meine Eltern hinter mir standen. Ich war weniger allein denn je.
Doch eine kleine Stimme in meinem Hinterkopf erinnerte mich daran, dass ich eigentlich Pläne schmieden sollte, wie wir die Gazel aus dem Verlies bekommen würde.
Jetzt war das allerdings schwierig- meine Eltern waren viel zu schwach und niemand der Burg- Gruppe würde Lewi oder mir helfen.
Beruhigend legte sich ein Arm um meine Schultern und ich fing den liebevollen Blick meiner Mutter auf, während mein Vater irgendeine Geschichte erzählte, von Lewis und meinen Kindertagen. Wie Elayn Probleme gehabt hatte Lewis plötzlichen Haarfarbenwechsel zu erklären, als er sich mit zwei Jahren doch entschieden hatte lieber wie sein Vater auszusehen. Und wie ich mit Vier schmollte, weil ich es ihm nicht nachtun konnte.
Es waren die Erzählungen, die ich schon kannte und erst im Licht der letzten Ereignisse wirklich verstand.
„Und erinnerst du dich an den Tag, da Lya einfach ihre Kräfte von ihrem Bruder zurückgeholt hat? Er ist ihr vom See aus bis in den Stall hinterhergerannt, um sie wieder zu bekommen, doch Lya hat jedes Tier in Reichweite auf ihn gehetzt", warf in diesem Moment unsere Mutter ein, das Gesicht warm von den vergangenen Erinnerungen.
Die Hände fielen zurück in meinen Schoß und mein Kopf fuhr herum.
„Meine Kräfte zurückgeholt?", echote ich ein wenig aus den Träumen gerissen. Ich hatte mir eben noch vorgestellt, wie ich Lewi früher mit Schlamm aus dem Teich hinterm Haus beworfen hatte. Wenn man an eine kleine Bachmündung verdeckt unter den Trauerweiden kletterte, glitzerte das Wasser, wenn man es berührte.
Auch Ravn hob interessiert den Kopf und tauschte mit Glorya einen Blick, die sich natürlich neben Lewi gesetzt hatte. Es war befremdlich die Zwei so vertraut miteinander zu sehen, doch ich konnte mich gerade nur auf eine Sache konzentrieren.
Fenkwell nahm seinen linken Arm aus der Schlinge und streckte ihn: „Lya hatte deine Gabe geerbt mit Tieren zu kommunizieren?" Alle Aufmerksamkeit kehrte zu meiner Mutter zurück.
Ich wusste nicht, was ich denken sollte.
Das war ein Missverständnis. Ich ... ich hatte keinen Funken Magie in mir! Das war immer nur Lewi gewesen und was hatte es aus ihm gemacht? Die Kraft hatte ihn über die Jahre verändert, bis ich nicht mehr hatte mit ihm tauschen wollen.
Meine Mutter nickte, einen flehenden Blick in meine Richtung gesandt.
„Lya hat für ihre Gabe gekämpft. Sie entzog sie ihm, bis sie vier war. Doch es wurde schwieriger, je älter Lewi wurde und irgendwann vergaßen beide, dass es früher Lya war, die sich stundenlang mit den Gänsen unterhalten hatte."
Aber warum? Sie so zu sehen, abgekämpft und nur noch ein Schatten ihrer selbst, brach mir das Herz aufs Neue. Nicht mehr lange und Evangheline würde genauso aussehen.
„Wir wollten dich nicht mit dem Verlust leben lassen. Es hätte dich von deinem Bruder nur noch mehr entfernt", sprang mein Vater ein, die Stimme tief und beruhigend.
„Sie hat ihre Kräfte zurückgeholt?", fragte Uzilia ungläubig nach, die Überreste eines Laibs Brot zwischen den Fingern.
Der kleine Zusatz in der Geschichte fiel mir erst im Nachhinein auf. Niemand nahm einem Verfluchten Kind seine Gaben weg. Ich hatte genug Bücher dazu studiert.
Wieder tauschten Ravn und Glorya einen Blick. Ganz langsam ließ das Mädchen ihre Hand von Lewis Knie hinunter in die Reisetasche fallen.
Etwas in meinem Verstand läutete die Alarmglocke. Es war so eine nebensächliche Bewegung, unscheinbar, doch ich wusste sofort, was sie vorhatte. Mein kleiner Frieden war vorbei.
„Lewi pass auf!", platzte es aus mir heraus und ich war schneller auf den Beinen, als Ravn mich zurückzog.
Für den Bruchteil einer Sekunde starrten alle zu mir herüber, dann riss mein Bruder beide unsere Eltern um, als er mit einem riesigen Satz von Gloryas gezogenem Schwert wegfuhr. Die Klinge blitzte im goldenen Schein des Feuers, kaum mehr als eine vage Andeutung.
Fenkwell war zu langsam. Noch ehe er mit dem gesunden Arm seine Waffe erreichte, trennte Glorya seinen Kopf von den Schultern und kickte den Oberkörper gegen Uzilia, die machtlos unter ihm begraben wurde.
Alles um mich herum verschwamm in Bewegung.
Mein Puls rauschte durch die Ohren, als ich blindlings zum Satteln hechtete, an dem mein Schwert befestigt war. Etwas Metallisches traf mich hart an der Schläfe und ließ mich nach links taumeln.
Ein pulsierender Schmerz stahl mir die Sicht. Ich krachte Schulter voraus in den frostigen Boden und schaffte es gerade noch mich auf den Rücken zu rollen.
Rasselnder Atem schüttelte meinen Oberkörper.
Was war passiert? Was hatte Glorya vor?
Irgendjemand stolperte über mich und trat mir empfindlich in die Seite, sodass ich mich reflexartig zusammenkrümmte. Meine Familie!
Die letzte Kraft mobilisierend riss ich beide Augen auf und entdeckte gerade noch Ravn, der mich am Handgelenk packte. In einer präzisen, schwungvollen Bewegung warf er mich über seine Schulter.
„Ich habe sie, Glorya, komm!"
Sein Brüllen ließ meine Ohren klingeln. Was ging hier vor?
Neben dem Feuer sah ich die Leichen von Fenkwell und Uzilia liegen. Ihr Blut erstickte die verbliebenen Flammen und tauchten uns in Dunkelheit.
Wo war meine Familie? Ich musste zu ihnen- musste sie retten.
Weiter hinter mit machte ich Schwertklirren aus. Doch Ravn sah dem Duell zu und so konnte ich meinen Kopf nicht weit genug drehen, um zu sehen, wer dort gegen Glorya kämpfte.
„Lass mich runter, du hirnloser Bastard", zischte ich aufgebracht in das Ohr jenes Kerls, den ich vor einigen Augenblicken noch als meinen besten Freund betitelt hätte.
Er zuckte zusammen, als hätte ich ihm in den Nacken gebissen.
„Tut mir leid, aber ich habe meine Befehle."
Ich habe meine Befehle. Er ritzte die Worte in mein Herz. Er hatte Befehle meine Familie anzugreifen und mich ... herum zu tragen? Zu verschleppen?
Ich wollte mich gar nicht fragen, was alles Teil seiner Befehle gewesen war. Ich wollte nicht wissen, ob er mich die ganze Zeit angelogen hatte oder irgendwas an unserer Mission auch Spaß für ihn gewesen war.
Alles, was ich wissen wollte, war, wie ich meine Familie retten konnte. Mit allem Schwung, den ich aufbrachte, schwang ich mein Bein und traf ihn mitten auf der Brust.
Keuchend ließ Ravn locker und stolperte weg. Ich nutzte den kurzen Augenblick und befreite mich aus seinem Klammergriff. Mit dem Ellenbogen traf ich ihn an der Schläfe und mein Handballen rammte seinen Unterkiefer zurück, sodass er stolpernd umfiel.
Mit ein bisschen Glück hatte er sich diese verlogene Zunge abgebissen.
Bereit, Glorya in das nächste Himmelreich zu schicken, fuhr ich herum und erkannte, dass es Lewi war, der den anderen Fliehenden den Rücken freihielt. Unsere Eltern und Balthar hatten es noch nicht ganz bis zum Wald geschafft, da meine Mutter mit ihrem zertrümmerten Knöchel nicht rennen konnte. Beide Männer stützten sie, so gut es ging, doch sie waren so schrecklich langsam.
Mit einem Aufschrei ungebremster Wut rannte ich auf Glorya zu, hob im Laufen ein Schwert auf und schwang es über meinem Kopf.
In diesem Moment schlug Glorya Lewis Schwerthand ab. Es ging so schnell, dass mein Bruder einen Herzschlag brauchte, um zu realisieren, was geschehen war. Seine Hand hielt immer noch die Waffe umklammert, als beides zu Boden fiel und im Gras liegen blieb. Ein widerlicher Anblick, der mich fast von den Füßen holte.
Mein Brüllen verstummte und wurde von Lewis Schmerzenslauten abgelöst, als er auf die Knie fiel. Gequält presste er den Stumpf gegen seinen Oberkörper und beugte sich vor. Die blonden Locken rutschten zur Seite und präsentierten Glorya sein Genick.
Weiter hinten sah ich meine Eltern innehalten. Dann Balthar.
Glorya hob ihr Schwert, Blut tropfte bereits daran herunter. Ein selbstzufriedenes Lächeln verzerrte ihr Gesicht zu einer Fratze, die ich am liebsten auf einem Spieß gesehen hätte.
Ich beschleunigte noch einmal. Dieses Mal würde ich keine Bedenken haben, wenn ich ein weiteres Leben nahm. Die Götter würden verstehen, wenn ich ihr ein Ende bereitete.
„Glorya, pass auf!" Ravn war ebenfalls auf die Füße gekommen.
Für den Bruchteil einer Sekunde blickte das Mädchen auf, doch schon im nächsten Moment riss ich sie um. Mein Schwung schleuderte uns einige Schritte über den Boden, ehe ich Halt fand und mich von ihr abstieß. Dieses Mal gab es keine Gnade! Keine Reue!
Ich konnte meinen Arm nicht recht heben, weshalb ich ihr meinen Ellenbogen gegen die Schläfe schmetterte. Dieses Miststück. Verlogenes, dreckiges-...
Jemand riss mich von ihr herunter und zurück in eine stehende Position. Ravns grüne Augen durchdrangen mich, als er mich am Kragen packte und aufrecht hielt. Nase an Nase.
Für einen kurzen Augenblick glaubte ich, in ihnen die gleichen Schmerzen zu sehen, die ich gerade durch blinden Hass ausblendete.
Er lehnte den Kopf ein wenig nach hinten, als brauche er mehr Abstand und meine Knie wurden weich.
Dann verpasste er mir eine Kopfnuss, die alle Lichter ausgehen ließ. Meine Muskeln wurden schwach und er fing mich auf, doch das Gefühl wurde von einer noch tieferen Schwärze verschluckt, als die Nacht hätte heraufbeschwören können.
Allein Ravns Stimme drang durch siehindurch.
„Es tut mir leid. So unendlich leid."
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Ja, ich habe ein schlechtes Gewissen.
Aber ja, es war notwendig.
Und Tripple- Ja: Im letzten Band wird alles besser.
xoxo
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