7- LESENACHT II
"[...] Es wäre dabei interessant zu erfahren, was in dem Kopf eines solchen Wesens vor sich geht. Mir Eurer gnädigen Erlaubnis, würden wir gerne einige Experimente an ihr durchführen, die vielleicht den Studien bezüglich MvET- Trägern nutzen könnten. [...]"
(- Bittstellerbrief an den König, abgesandt von den Wissenschaftlern in Tenur, Datum unbekannt)
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„Ich bin mir sicher der Satz wird mich eines Tages noch in meinen Hintern beißen, aber: Wie gefährlich kann er denn bitte sein?", Oidlem schlackerte bedeutsam mit dem Ende seiner Zügel durch die Luft, „Beanna hat Hillow und mir erzählt, dass er nichts weiter als ein mickriger Feuerbändiger wäre. Ich weiß, dass Tyana nicht einfach ist, wenn man ihrem Ehrgeiz im Weg steht, doch Angst habe ich vor ihr noch keine."
Erstaunt hob Lewi die Augenbrauen. Das waren tatsächlich auch für ihn Neuigkeiten und spannende noch dazu. Seinem letzten Stand zufolge hätte Ravn alle möglichen Begabungen haben können, einschließlich Lyas Anschuldigungen, dass er Gedanken lese.
Mit dem Wissen, dass Kaelchon Ravn zum Anführer einer ganzen Garde gemacht hatte, waren seine Bedenken natürlich gestiegen. Ravn war sicherlich eine gefährliche Waffe. Dass er nur ein Feuerbändiger war, machte es in seinen Augen kaum besser. Der König hatte schon immer eine Vorliebe für das Außergewöhnliche. Ein Elementar an seiner Seite bedeutete lediglich, dass sie kein vollständiges Bild sahen.
Balthar neben ihnen gab einen merkwürdigen abwertenden Laut von sich.
„Selbst, wenn er nichts weiter als einen fauligen Holzlöffel bei sich hätte, würde ich dem Kerl nicht über den Weg trauen", ließ der grauhaarige Sucher verlauten, die Brauen zu einer düsteren Miene zusammen gezogen.
Lewi unterdrückte gerade noch so ein ungeduldiges Schnauben, doch er schlug umso energischer nach seinen Locken, die ihm widerspenstig ins Gesicht fielen. Ravn war kein übernatürliches Wesen, der Bösewicht aus Kindergeschichten oder ein Schattenmonster, das Frauen und Kinder im Haus hielt. Er hatte ihn kennen gelernt und wusste, dass tief in ihm drinnen irgendwo eine Seele schlief. Und auch wenn es bestimmt nicht schadete ihm mit Vorsicht zu begegnen, würde er sich nicht in irgendeiner Höhle vor ihm verkriechen, wie es Balthar am liebsten getan hätte.
„Er hat eine gewisse Begabung mit Menschen umzugehen. Man glaubt schnell, seine abweisende Haltung zu durchschauen, sich gegen die Unfreundlichkeit zu stellen, doch da ist immer noch mehr. Man vertraut ihm zu leicht", gab er seine Meinung an Oidlem weiter.
„Ich habe ihm noch nie getraut!", hielt der Sucher dagegen, Lewi einen herausfordernden Blick zuwerfen.
Es kostete den Jungen alle Kraft, nicht abfällig mit der Zunge zu schnalzen. Seine Geduld hatte seit Hillows Verkündung das Gefängnis zu stürmen, beträchtlich an Kapazität verloren. Nicht, dass er davor sonderlich viel davon besessen hätte. Menschen waren fürchterlich langsam- sie brauchten Zeit, wo es keine zu verschenken gab, wenn es um das Leben seiner Schwester oder Eve ging.
Und aus irgendeinem Grund sah Balthar sich in der Verantwortung ihn jeden Tag aufs Neue zu testen. „Auch nur, weil Beanna eine Panik um ihn verbreitet hat, als wäre er der nächste Nachtschrecken."
„Lady Beanna!", warf Oidlem scheltend ein, doch Balthar überging ihn vollkommen.
„Stattdessen warst du der nächste Nachtschrecken und ich kann nicht behaupten, dass sie untertrieben hat", erwiderte er mit einem schiefen Grinsen, das die Schärfe seiner Worte abmilderte.
Unwillkürlich an Lya erinnert, fiel Lewi so schnell keine passende Antwort ein. Es gab kaum Zweifel, Balthar hatte es in den letzten Tagen auf ihn abgesehen. Nie bösartig, doch es half überhaupt nicht, wenn außer Oidlem ansonsten niemand mit Lewi sprach.
Oidlem dagegen ermahnte sie beide, dass sie sich auf einem Außendienst befanden und auch dementsprechend ernsthaft verhalten sollten. Dann bremste er sein Pferd vor dem kleinen Lager, an dem sich die anderen Mitglieder ihres Unternehmens versammelt hatten und schwang sich aus dem Sattel. Schnee knirschte unter den breiten Stiefeln, als er zu Joell hinüber marschierte und ihm sein Reittier in die Hand drückte.
Mit einem verschlagenen Grinsen tat Balthar es ihm nach, wohl wissend, dass Lewi sein Pferd selbst abreiben musste, fehlende Hand hin oder her. Joell strafte ihn seit seinem Kommentar in den Höhlengängen mit kühler Ignoranz, die sich auf ein oder zwei Worte während ihrer gesamten Mission beschränkten. Und so kümmerte er sich ohne Murren um die Tiere all seiner Freunde, doch Lewis Rappen behandelte er mit derselben feindlichen Einstellung, wie seinen Reiter.
Lewi selbst machte das erstaunlich wenig aus. Tatsächlich schätzte er die ruhigen Minuten alleine mit dem Tier, die ihn bittersüß daran erinnerten, was er in den letzten Monaten verloren hatte. Seine einzigartige Verbindung war kaum mehr als ein unscharfer Schatten in den weiten Ecken seiner Erinnerungen. Doch sie war besser, als die Einsamkeit, die er unter den Gruppenmitgliedern verspürte.
Mit gleichmütigem Gesicht führte er sein Pferd hinter Joell her zu den zwei Wagen, die sie mitgebracht hatten, um mögliche Verletzte sicher zurück zur Hand des Lichts zu bringen. Sie standen nahe einiger aufragenden Steine, die sich wie festgewordene Drohungen aus der Erde erhoben hatten.
Auf einem der Holzräder saß Camanero, die langen Beine in der Luft pendelnd mit einem Ausdruck unvergleichlicher Entspannung.
Der junge Mann war Anfang dreißig, doch sein bartloses Gesicht unter schwarzen kinnlangen Haaren, schenkte ihm einige dieser Jahre wieder zurück. Vielleicht war es aber auch die lockere Haltung zum Leben, die ihn gegen dessen scharfe Zähne schützte.
„Heute Abend ist es so weit!", begrüßte er Joell und Lewi, ehe er sich mit einem schwungvollen Satz neben sie beförderte. Aufgeregt rieb er sich die Hände, als könne er es überhaupt nicht erwarten, seine Magie endlich zum Einsatz kommen zu lassen.
Tatsächlich stellte Lewi sich den neuen Alltag des Zauberers im Untergrund langweilig vor, wenn man bedachte, dass er davor eine ganze Schule im Alleingang vor der Entdeckung bewahrt hatte. Er war jetzt schon Teil vieler Geschichtsbücher, ganz oben auf der Gesucht-Liste des Königs.
Nichts an seinem Äußeren oder seiner Art schrie jedoch ‚mächtigster Zauberer seiner Zeit'. Allerhöchstens: Verlässt zu selten sein eigenes Zimmer, um die Sonne zu sehen. Isst zu viel Zuckergebäck. Hat zu viel Spaß an simplen Dingen.
„Ich versteh deine Begeisterung nicht. Nach heute Abend schleppen wir uns mit einem Tross voll Leute zurück in den Wald und hoffen, dass der König nicht doch einen einzelnen Soldatentrupp hier draußen im Land zurückgelassen hat", brummte Joell, während er ein Pferd nach dem anderen an der langen Seite des Wagens anband und absattelte. Er war gleich nach Balthar der Erste gewesen, der seine Fersen in den lehmigen Boden der Höhlen gestemmt hatte, weil er nicht schon wieder quer durchs Land geschickt werden wollte, um irgendein Gefängnis untauglich zu machen. Der Auftrag war gefährlich genug und die Vorstellung dem König Flöhe ins Bett zu setzen und sich damit seinen Zorn aufzuziehen, hatte ihn nicht gerade angesprochen.
Balthar dagegen hatte sein Bett nicht verlassen wollen, wenn es nicht ums Frühstück ging.
Camanero ließ sich von der finsteren Einstellung nicht sonderlich beeindrucken. Es war wirklich kein Wunder, dass Balthar den Zauberer nicht ausstehen konnte. Mit einem ungetrübten Lächeln wandte er sich an Lewi.
„Aber warum sollte der König? Jetzt da er mit deiner Schwester die Waffe hat uns alle zu zerstören?"
Sein Enthusiasmus handelte ihm einen dunklen Blick von Lewi ein. Wenn er schon von der totalen Vernichtung sprach, dann doch nicht mit einem Gesichtsausdruck, der an Blümchen und Sonnenfeen erinnerte. Und erst gar nicht in Verbindung mit Lya. Vor allem da sie überhaupt nicht wussten, was der König glaubte, mit ihrer merkwürdigen Begabung anzufangen. Bei den Göttinnen, sie wussten ja noch nicht einmal, was für ein Talent sie hatte!
Doch wieder blieb die subtile Bitte nach Mäßigung fruchtlos. Stattdessen fasste Camanero das Schweigen als Zustimmung auf und fügte in einem verschwörerischen Ton hinzu: „Stimmt es, dass sie mit ihrer Schönheit sogar Waldelfen neidisch macht?"
Noch bevor Lewi die Worte zu einer passenden Antwort fand, hörte er hinter sich das dröhnende Lachen seines Gruppenleiters. Mit beiden Händen hielt er sich den Bauch, während sein Gesicht einen immer tieferen Rotton annahm. Erst nach einigen verstrichenen Atemzügen und ergebnislosen Versuchen, schaffte er es endlich sich genug zu beruhigen, um einen vernünftigen Satz heraus zu bringen.
„Vergiss es, Bursche! Das ist die Tochter von Elayn Lenlay. Wahrscheinlich verwandelt sie dich in einen pfeifenden Teekessel, wenn sie erst mit dem König fertig ist."
Wären die Worte von einem anderen Mann gekommen, sie hätten respektlos angemutet. Doch Oidlems warmes Zwinkern in den Augen malte ein wundervolles Bild, das Lewi wirklich gefiel. Lya würde nicht vor Kaelchon kauern, sie würde ihm Manieren beibringen. Die ganze Zeit fürchtete Lewi, dass er zu spät käme und nur noch eine zerbrochene Hülle seiner kleinen Schwester vorfinden würde. Dabei vergaß er vollkommen, welche ungeahnten Kräfte in Lya erwachten, wenn sie wütend wurde. Bei den Sängerinnen, er hatte sie häufig genug selbst erlebt.
Und Lewi bereute ein wenig, dass er nicht dort war, wenn der König das erste Mal zu weit ging.
Oidlem hatte sich unterdessen ebenfalls auf eines der Wagenräder gesetzt und fummelte an einem ledernen Bändchen, das eine Trinkflasche an seinem Gürtel befestigte.
„Erinnert mich bei Gelegenheit daran, dass ich euch die Geschichte erzähle, wie ich deine Mutter kennen gelernt habe, Lewi. Damals lebte ich noch in einem der letzten verbliebenen Kloster. Sie sagte mir, ihr Pferd wüsste, wo ich meinen Weinvorrat vor den anderen Mönchen verstecken würde. Wenn ich ihr abends etwas davon aufs Zimmer brächte, bliebe mein Geheimnis auch unter dem langen Schopf verborgen!"
„Jetzt wäre eine wunderbare Gelegenheit", schlug Camanero vor, zustimmende Blicke mit Lewi tauschend. Doch nach einem Schluck aus seiner Flasche schüttelte Oidlem den Kopf.
„Zuerst befreien wir jeden, der gerade in diesem Berg gefoltert wird. Und wenn wir dann noch alle am Leben sind, sprechen wir über den richtigen Augenblick."
Und zu ihrem Glück kam der Abend schneller als erwartet. Und mit ihm die angespannte Nervosität, die allen die Worte stahl und sie in beklemmender Stille warten ließ.
Die gesamte Gruppe unter Oidlem bestand aus sechs Mitgliedern. Neben Lewi, Balthar, Joell und Camanero, gesellten sich außerdem noch Kimia, eine junge Heilerin aus der Burg und Tyana eine Feuerbändigerin mit dem Temperament eines Eiszapfens dazu.
Sie alle standen im Halbkreis vor der Schlucht und starrten auf die steinerne Frontfassade herab.
Einzelne Lichter flackerten in den halboffenen Höhlen des Gefängnisses, wie Augen, die hinaus in die Nacht spähten. Hin und wieder sah man sogar Schatten hindurch huschen und Lewi war sich sicher, dass er früher bestimmt auch die Gestalten selbst erkannt hätte. Jetzt war es nichts mehr als ein Flackern im Schein der Bedrohung.
„Sobald du soweit bist Camanero", beendete Oidlem das andächtige Schweigen der Gruppe und bedeutete dem Mann vor zu treten. Sein Gesicht war versteinert und noch zusammen gedrückter als sonst. Es war nicht schwer, zu verstehen was hinter seinen buschigen Augenbrauen vor sich ging.
Lewi hörte sein Herz lauter pochen. Wenn das heute funktionierte, wäre das der erste schmerzhafte Schlag gegen den König seit dem letzten Versuch seiner Eltern. Und ganz tief in sich drinnen konnte er es überhaupt nicht erwarten Eves Ausdruck zu sehen, wenn er ihr erzählte, dass es seine Idee gewesen war, die sie alle befreit hatte.
Bis auf Balthar, der nur genervt aussah, teilten die anderen seine Anspannung. Sie war ihnen auf die Augen geschrieben, in ihre Mienen geschnitten, jeder zerrissen zwischen Hoffnung und Angst.
Als wäre er ihr aller Flucht, atmete Camanero aus, ehe er bedächtig nach vorne trat. Alle jungenhafte Vorfreude des Mittags war von ihm abgefallen, kaum da sie sich an der Klippe versammelt hatten. Immer wieder ballte er seine Finger zu Fäusten, nur um sie im nächsten Moment ruckartig zu lösen. Die Kraft dahinter ließ die Luft um seine Handflächen vibrieren.
Noch ein Atemzug, dann schloss er die Augen und zog sich aus der sichtbaren Welt zurück. Allein das gut verborgene Zucken, das sich überall an seinem Körper wiederfand, ließ erahnen, wie er an den magischen Linien um sie herum zupfte und zog, bis sie ihm genug Kraft schenkten.
Lewi versuchte, sich einzubilden, dass er die Wellen von dem Zauberer abstrahlen spüre. Dass er selbst immer noch Teil dieses rätselhaften Netzwerkes war. Doch das war ebenso unsinnig, wie jeden Morgen auf seinen Armstumpf zu starren und zu hoffen, dass er doch nachwachsen würde.
Der Moment verstrich, doch keiner von ihnen traute sich zu bewegen. Lewi glaubte, vor Anspannung ein reißendes Geräusch zu hören. Doch die Stille um sie herum war durch die Haut in seinen Kopf gedrungen und füllte ihn aus, bis er kaum etwas anderes mehr wahrnahm, als die feinen Schweißperlen auf Camaneros Stirn.
Nichts passierte.
Ganz vorsichtig entließ Lewi die Luft aus der Lunge und begann gegen das beklemmende Gefühl in seinem Magen anzukämpfen. Wie eine Klapperschlange lag es vor seinen Füßen und forderte ihn heraus, sich zu bewegen, den Augenblick zu zerstören und sie alle mit sich in den Abgrund zu reißen.
Es verstrich eine kleine Ewigkeit, in der Lewi einen Kampf mit sich selbst und dem juckenden Reiz in seiner Hand ausfocht.
Alles blieb ruhig.
Mit einem leisen Seufzen war es Oidlem, der den Moment abbrach, indem er mit gesenktem Haupt neben Camanero trat und der unveränderten Fassade Tenurs einen enttäuschten Blick zuwarf. Nicht ein Stein hatte sich vom anderen gelöst. Nicht ein Sandkorn hatte sich vom Boden gehoben und kein einziger Flüchtige hatte die großen Tore aufgestoßen und war in die mondbeschienene Freiheit hinaus gestürzte. Doch es würde jeden Atemzug passieren.
Oidlem schüttelte den Kopf, als könne er die kollektive Hoffnung seiner Schützlinge hören. Lewi wollte ihn anflehen dem Magus noch eine zweite Chance zu geben, doch gleichzeitig war ihm klar, dass irgendwer entscheiden musste, ab wann es genug war.
Bestimmt würde irgendein Zauberer des Königs im Gefängnis Meldung machen, dass seine Schutzmaßnahmen angegriffen wurden. Dann wäre es nicht mehr lange, bis es hier draußen nur so von Soldaten wimmelte.
Mit einer schwerfälligen Geste ließ Oidlem die Hand auf die Schulter des größeren Mannes fallen.
Es passierten mehrere Dinge gleichzeitig.
Camanero zuckte zusammen und für den Bruchteil eines Lidschlags flackerte ein gleißend helles Licht auf.
Ein ohrenbetäubender Knall riss sie alle von den Füßen.
Lewi wusste noch nicht wirklich, wie ihm geschah. In einem Moment starrte er auf Oidlems Hand, die wie in Zeitlupe auf den braunen Mantel traf. Und im nächsten Herzschlag wurde sein Körper etliche Schritte weit durch die Luft gewirbelt.
In einem bizarren Augenblick blieb ihm sogar die Zeit sich zu fragen, was schiefgelaufen war, doch dann schlug erst sein Hinterkopf und kurz darauf der empfindliche Rest seines Rumpfs im Schnee auf.
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Hey, jetzt da ich ja gerade fast schon chat- mäßig mit euch kommunizieren kann:
Ich hab im übrigen auch noch große Nachrichten. Allerdings werden nicht alle von euch darüber glücklich sein. Genau genommen fällt es mir sogar ein bisschen schwer...
See you later
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