6- LESENACHT I
"[...] Der Spiegel der Götter wurde, weit vor der Zeit der Menschen, bereits von den Elfen genutzt. Alljährlich zur Wintersonnenwende pilgerten sie in langen Umzügen zu den großen Seen und beschenkten ihn mit ihren magischen Kräften. Noch heute gehen Wissenschaftler davon aus, dass die Magie des Wassers von diesen ursprünglichen Ritualen kommt."
- (Elfensänger, Bade im westlichen und südlichen Teil des Königreichs. In: Erzählungen der Drachensagen, S. 528)
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„Ich frage noch einmal: Was ist da gerade passiert?" Ich erreichte panische Tonhöhen, während mein Blick hektisch vom verblassenden Schein des Wassers hinüber zu Theenan schoss.
Ich wollte nicht wie Ravn enden. Ich konnte mir kein Leben unter dem Fuß des Königs vorstellen, unfähig mich aus seinem Griff zu befreien und dazu verdammt meine Freunde zu hintergehen und verletzen.
Theenan dagegen wirkte meiner Welt entrückt. Fasziniert starrte er den See an, dessen Licht uns sicherlich an irgendwen im Palastgarten verraten hatte.
„Ich weiß es nicht", murmelte er mehr zu sich selbst, „Aber wir finden bestimmt in der Bibliothek mehr Informationen."
Für einen kurzen Moment rieb er sich weiterhin gedankenverloren das Kinn, dann drangen seine eigenen Worte auch zu ihm durch und rissen ihn grob aus der Starre. Er zuckte so stark zusammen, dass auch ich mich vor ihm erschreckte, ehe er kurzentschlossen meine Hand packte und mich rückwärts durch das Gebüsch zurück auf den befestigten Weg zog.
„Was hast du vor?", kämpfte ich gegen peitschende Äste und reißende Zweige an, die sich anschickten, mein Gesicht und meinen Mantel zu verunstalten. Für ihn machten sie Platz, aber mich versuchten sie, mit aller Gewalt von ihm zu trennen.
„Zur Bibliothek!", verkündete Theenan atemlos und schob mich durch das eiserne Tor.
Oh gut, ich hatte bereits befürchtet, wir würden durch den Wald nach Alachar flüchten! Ich hatte nichts gegen einen kleinen Urlaub im Nachbarland, aber wenn die Alternative eine staubige Bibliothek war, würde ich kaum nein sagen.
Von irgendwo hörte ich Schritte. Sie hallten merkwürdig laut durch das Labyrinth, als wären sie nur eine Biegung von uns entfernt. Doch als ich mich umsah, sah ich nichts.
Hier konnte sich hoffentlich niemand unsichtbar machen! Dann würde ich an dieser Stelle kapitulieren. Ich musste mich auf meine Sinne verlassen dürfen. Alles andere war ein ungerechter Kampf.
Der Königssohn hatte meine Verwirrung gesehen. Unter seinen Händen wuchsen die Ranken und Äste zurück in die Streben der Pforte, als würde sich der Lauf der Zeit für einen kurzen Moment beschleunigen.
„Sie sind noch weit genug weg. Bis sie hier sind, habe ich dich sicher in den Palast zurückgebracht."
Und ohne auf meine Antwort zu warten, griff er neuerlich meine Hand und zog mich in einen anderen Gang hinein, den wir auf unserem Hinweg bestimmt nicht genommen hatten. An der nächsten Weggabelung hielt er für einen kurzen Moment inne und lauschte nach den Verfolgern.
Auch ich hörte sie und konnte sogar grob die Richtung einordnen, von der sie kamen, doch im Gegensatz zu meinem beinahe schon enthusiastischen Begleiter, hätte ich nicht gewusst, welchen Weg ich einschlagen sollte.
Er dagegen lief kein einziges Mal in eine Sackgasse oder führte uns im Kreis. Immer wieder stoppte er, lauschte und bugsierte uns doch eine andere Gasse entlang. Einmal öffnete er sogar eine kleine Lücke in der Hecke und duckte sich hindurch, ehe wir außerhalb des Labyrinths standen.
Einige Schritte weiter sah ich meine Wachen in den Eingang hinein starren. Schnee hatte sich auf ihren Schultern gesammelt und zu meiner Überraschung erkannte ich selbst, welche Farbe ihre Wintermäntel im Dunklen hatten.
Eine merkwürdige Sicherheit erfüllte mich, dass ich keine Probleme damit haben würde an ihnen vorbei zum Hintereingang des Haupthauses zu huschen. An anderen Tagen hätte mich das Knirschen des Schnees oder mein heftiger Atem verraten. Doch heute hatte mich die kurze Jagd zwischen den Hecken hindurch kaum Anstrengung gekostet.
Ich musste ein neues Konditionshoch erreicht haben und es juckte mich in den Händen mich mit Lewi oder Ravn zu duellieren.
Aber Theenans Finger auf seinen Lippen bedeutete, dass jetzt nicht der Zeitpunkt dafür war. Vorsichtig drückte er sich an der Hecke entlang weiter von meinen Wachen fort und schlug einen Bogen zu der dunklen Hintertür. Ich folgte ihm mit laut schlagendem Herzen. Die Panik vom Teich hatte sich in Nervosität verwandelt, was schon für sich genommen ein merkwürdiger Zustand bei mir war.
Erleichtert atmete ich auf, als wir nacheinander in den sicheren Schatten des Hausinneren schlüpften.
„Wie kennst du dich nur so gut da draußen aus?", fragte ich Theenan, der sich kleine Flocken aus den Haaren schüttelte.
„Wer glaubst du, hat das Labyrinth erschaffen? Bestimmt nicht unsere wundervollen Gärtner", lächelte er schmal, ehe er einen nervösen Blick durch den Raum warf. Seine Anspannung stieg mit jedem Herzschlag, den wir innerhalb der Palastmauern waren. Das jugendliche Grinsen war in diesem Moment unvorstellbar.
Er hatte Angst und ich malte mir bildlich aus, was ihn so geprägt hatte. Eine weitere Welle des Mitgefühls für ihn und Ravn brandete in mir auf und ließ mich meiner eigenen Verhaltenheit zum Trotz eine Hand auf seine Schultern legen.
„Wollen wir lieber bis morgen warten?"
Er atmete einmal tief durch und entschied sich für einen entschlosseneren Ausdruck.
„Ich glaube nicht, dass ich mich bis Tagesanbruch gedulden kann", setzte er sich in Bewegung.
Die Bibliothek lag im dritten Stock des Palasts, am Ende des östlichen Flügels. Eine große gläserne Kuppel spannte sich über den halbovalen Raum und ließ das Licht vereinzelter Sterne herein. Sie wirkte düster und verlassen. Staub auf jedem Regal tauchte das Zimmer in eine ergraute Version seiner selbst.
Zur abgerundeten Seite führten zwei Treppen auf einen inneren Balkon, der weitere Bücherborde hielt. Darunter, in der Mitte, hatte jemand die gesamte Landeskarte in den Boden eingelassen. Man konnte die Namen der Städte und Landzungen kaum noch lesen.
Was mich nicht davon abhielt, den kleinen Flecken Erde zu suchen, der bisher meine Heimat gewesen war.
Unbeschrieben und vergessen lag er in der Ecke der Karte. Selbst in diesem dunklen Raum seinen ganz eigenen Frieden ausstrahlend. Auch dort hatte es eine Quelle gegeben, die leuchtete, wenn man das Wasser berührte. Sie war lange ausgetrocknet, bevor ich sie jemand gezeigt hatte. Dahin wollte ich zurück. Um jeden Preis.
Theenan war derweil eine der Treppen hochgestiegen und strich mit einem Finger über die Buchreihen im ersten Regal.
Ich wusste nicht, nach was er suchte, doch die verblassten Farben der Buchrücken neben mir lockten mich näher. Mühsam versuchte ich, ihre Namen zu entziffern, interessiert was der König dazu verdammt hatte in seinem eigenen Heim verrotten zu lassen.
Inmitten einer ziemlich abgegriffenen Version von Hoves „Pferdehaltung und Erziehung" und Samun Hunts „Enzyklopädie der bekannten Wildtiere" war eine breite Lücke, die einem kleinen Etikett zur Folge ein Buch von Carmyl Howard enthalten sollte.
Das Lächeln kehrte von ganz alleine zu mir zurück. Das gute Stück war gerade dick genug gewesen, dass es den massiven Spalt zwischen unserem hinteren Küchentischbein und dem Boden überbrückt hatte. Wo es, meines Wissens, immer noch lag.
„Die Bibliothek? Wirklich? Du enttäuschst mich Theenan", schnitt in diesem Moment Rakes gedehnte Stimme durch die eben noch andächtige Stille des Raums. Sie breitete sich aus wie eine Rila-Seuche, zäh aber gerade flüssig genug, dass sie in jeden Winkel vordrang.
Mein Lachen fiel wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Die Hand zuckte wie elektrisiert zurück, während meine Augen ihn in der Eingangstür lehnend fanden. Wussten die Göttinnen, wie er uns hier drinnen gefunden hatte! Ich ging einmal davon aus, dass er nächtliche Ausflüge zu den Büchern nicht mit ‚ermüdenden Bettaktivitäten' gemeint hatte.
„Glaub mir, Lyanna. Wärst du auf mein Angebot eingegangen, hätte ich dir die wirklich schönen Ecken des Palasts gezeigt", fuhr er triumphierend fort, ehe er lautstark die Tür hinter sich zu fallen ließ und mit schlurfenden Schritten zu mir hinüber schlenderte.
Eine Gänsehaut zog sich über meine Arme und ich war mehr als entschlossen ihn meine absolute Abneigung sehen zu lassen. Der Typ widerte mich an. Alles an ihm erinnerte mich an Colin Drakes und seine unflätigen Annäherungsversuche. Und ich war es leid mir noch einen einzigen dieser Sprüche anzuhören.
Eine fremde Hitze kribbelte unter meiner Haut, bereit, jedes Papier hier drinnen in Asche zu verwandeln, fasste er mich auch nur an.
„Oder stehst du auf verlassene Orte?", sein anzügliches Grinsen entblößte eine Reihe perlweißer Zähne, die im diffusen Licht der Decke leuchteten.
Unwillkürlich machte ich einen Schritt zurück und stieß mit dem Rücken gegen das Regal, das ich eben noch inspiziert hatte.
„Der Ort ist kaum Verlassen genug, wenn du hier bist", ließ ich ihn mit einem missbilligenden Schnalzen wissen.
Über uns war Theenan mit einem Buch in der Hand erstarrt. Seine Augen waren riesig, wie sie jede Bewegung Rakes verfolgten. Sein Gesicht sprach von purem Horror, der aus der Vorstellung geboren war, was passieren würden, wenn sein Stiefvater von unseren nächtlichen Abenteuern erfuhr.
„Rawr, kleine Katze. Jetzt weiß ich, warum Ravn dir den Spitznamen verpasst hat. Deine Krallen sind ja zum Fürchten!" Rake trat noch näher, stemmte eine Hand links von meinem Kopf gegen die Buchrücken und lehnte sich vor, um direkt neben meinem Hals in die Luft zu schnappen. „Aber ich weiß eine echte Herausforderung zu schätzen", hauchte er mir ins Ohr.
Ich wollte mich übergeben. Hier an Ort und Stelle. Auf seine Füße. Oder ihm kräftig zwischen die Beine treten. Mein ursprünglicher Instinkt Probleme mit Gewalt zu lösen wurde beinahe übermächtig. Und mit ihm die Flammen unter meiner Haut. Sie sammelten sich in meiner Handfläche, ließen die Finger so stark kribbeln, dass ich allzu bereit Rake vor die Brust schlug.
„Mit deinem Kleinkind-Grips wirst du nie einer Herausforderung wie mir gewachsen sein", zischte ich ihn an und versetzte ihm einen Stoß, bis ich nicht mehr mit dem Rücken das Regal berührte.
Aus dem Gleichgewicht gebracht stolperte Rake zurück, die Augen vor Verwirrung klein. Kurz glaubte ich, dass er tatsächlich nicht mit Gegenwehr gerechnet hatte, doch im nächsten Moment erkannte auch ich, was ihn wie wild mit den Armen um sich schlagen ließ.
Zu meinem eigenen Entsetzen musste ich Mitansehen, wie Rake vor mir in sich zusammen schrumpfte. Stück für Stück ruckte sein Kopf in die Tiefe, die Arme wurden erst dünner, dann weicher und sein Bart zog sich in die Haut zurück. Lose fiel seine Kleidung von ihm ab und mit einem Scheppern krachte das silberne Schwert zu Boden.
Als alle Hitze meine Finger verlassen hatte, stand nur noch ein Kleinkind vor mir, das verdutzt auf den Stoff zu seinen Füßen herunterblickte.
Das war gerade nicht wirklich passiert. Richtig?
Wir waren so gut wie tot.
Das hier war nicht mein Talent. Mein Talent war irgendwann mal eine mentale Verbindung zu Tieren gewesen. Und auch wenn ich Rake selbstsicher als Schwein eingestuft hätte- das hier hätte nie passieren dürfen.
Hilfesuchend sah ich zu Theenan hoch, der im Schock sein Buch hatte fallen lassen. Doch seine Aufmerksamkeit lag bereits nicht mehr auf seinem geschrumpften Waffenbruder.
Mit wachsendem Grauen folgte ich seinem panischen Blick und entdeckte Ravn, der ähnlich erstarrt in der Tür stand. Grüne Augen rund wie die sieben Monde. Er war nicht in der Lage sich abzuwenden von dem merkwürdigen Anblick, den ich und Baby Rake boten. Und das gab mir den Rest.
Er würde uns zum König bringen, daran bestand überhaupt kein Zweifel.
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"Voted, und wir sehen uns in einigen Stunden wieder."- Theenan
Juhu! Lesenacht! Es geht endlich los!! Ihr glaubt gar nicht wie lange ich das alles habe vorbereiten müssen ABER ich kann euch jetzt schon mal teasern: Wer bis Mitternacht durchhält wird eine der größten Geheimnisse ALLER DREI BÜCHER erfahren! :D
Also holt den Kaffee raus, das wird jetzt lang für alle von uns! Nächstes Update folgt um 21 Uhr.
Diese Kapitel widme ich @Zavabe :D weil sie mit ihrer Theorie wie es weiter geht am nähsten kam :D
Schreibt mir doch auf wer und warum euer Lieblingscharakter ist :D vielleicht widme ich ja einem von euch das folgende Kapitel :D
See you later :D
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