16- "Lass mich von Anfang an erzählen..."
„[...] Lyanna Tiàlan galt lange Zeit als das geglückte Experiment des Königs. Sie vereinigte das Blut der Krone, eine angemessene Erziehung und die Vorteile einer besonderen Begabung. Man hoffte durch richtige Einflussnahme eine Thronwürdige und Königstreue Genträgerin zu erschaffen. Jemand, der den radikalen Rebellen im Land Einhalt gebieten könne, ohne dabei selbst eine Gefahr für den Adel darzustellen.
Erst nach ihrem frühzeitigen Tod widmete sich der König anderen Experimenten, um seinem Ziel näher zu kommen. [...]"
- (Lional Frank, "Die Geschichte der letzten fünf Jahrzehnte". S. 234)
✥✥✥
Ein Tropfen nach dem anderen rann die grünlichen Steine herab, die seine Zelle einrahmte. Lewi wusste noch nicht einmal, ob es sich hierbei wirklich um Wasser handelte. Das Licht gab kaum genug Details her, dass er die Strohhalme zu seinen Füßen zählen konnte.
Wie lange saß er schon hier drinnen? In einem Loch unter er Erde?
Es war das merkwürdigste Gefühl. Die Abwesenheit der Angst. Oder spürte er sie nur nicht mehr, während sie sich neben ihn in den Brunnen quetschte, dicht an seine Seite geschmiegt wie ein alter Freund?
Ein Quietschen kündigte den fahlen Lichtstrahl an, dem er einen Herzschlag später entgegen blinzelte, als jemand den runden Deckel fortzerrte. Gegen den Sternenhimmel erkannte er lediglich eine unförmige Silhouette, die ihren Kopf vor einen der Monde schob.
„Wow, du hast auch schon mal besser ausgesehen!"
Glorya. Lewi drückte den Rücken noch fester an die feuchten Steine, doch innerlich rüttelte er an den Wänden, die die Gazel um seine Kräfte gezogen hatte. Wenn er nur einen Funken von ihnen zurückerlangte... Er könnte sie alle retten.
„Steh auf, mir ist langweilig!"
Neben Lewi klatschte das Ende eines Seils auf das modrige Stroh.
Er starrte das Mädchen weiter unverwandt an. Er hätte den Rest seines erbärmlichen Lebens verwettet, dass das keine Anweisung von Kaelchon war. Glorya bewegte sich auf sehr unsicherem Boden. Aber er würde die Chance seine Beine auszustrecken, nicht einfach ausschlagen. Selbst, wenn es in ihrer Gesellschaft war.
Sie erwartete ihn nicht allein außerhalb des Lochs. Vier Soldaten standen vor dem einzigen Tor, dass er von seinem Standort aus ausmachte. Der Rest des Innenhofs war von denselben blassen Mauern eingerahmt, die wie blanke Knochen im Licht der Monde schimmerten. Hunderten runde Deckel pflasterten den Boden. Wie viele von ihnen besetzt waren? Und ob Lya sich in genau so einem befand? Am anderen Ende des Landes?
Glorya setzte sich in Bewegung und ihre Schritte kickten Staub und kleine Steine durch die winzigen Luftlöcher in die Zellen hinein. Gedankenverloren warf sie ihren langen Zopf über ihre Schulter und marschierte schnurgerade auf die Wachmänner zu.
Lewi folgte ihr deutlich vorsichtiger zu dem Tor, den Blick die ganze Zeit auf den Boden gerichtet. Oder waren hier noch andere Leute, die er kannte? Er schluckte einmal bei der Vorstellung, dass sie vielleicht auch seine Gruppe gefasst hatte und er hätte es nicht mitbekommen.
Doch bevor er handeln konnte, war er bereits an den Soldaten vorbei und betrat einen verlassenen Garten.
Glorya erwartete ihn auf einer steinernen Bank unter zwei hochgewachsenen Birken. Ein dichter Busch drängte sich dahinter. Sie saß auf der Lehne, die Ellenbogen auf ihren Knien abgestützt.
„Du kannst aufhören, dich so umzusehen. Sie ist nicht hier."
Lewi hätte gerne mit den Augen gerollt. Er hatte sie auch beim ersten Mal gehört. Eine Falle. Ein Schauspiel, um ihn und alle anderen hier her zu locken. Er fragte sich lediglich, ob noch mehr so dumm wie er gewesen waren und sich langsam in den Löchern verhungerten.
Wie aufs Stichwort meldete sich sein Magen. Es war tatsächlich ein Wunder, dass sein eigener Gestank ihm nicht mehr den Appetit verdarb.
Kommentarlos zog Glorya einen Brocken Brot aus der Jacke und händigte ihn Lewi aus. Ihr Blick wanderte durch den Garten, als wäre sie kaum anwesend in ihrem einen Körper.
„Erzähl mir was von der Hand des Lichts", forderte sie, ohne ihn anzusehen.
Lewi brachte gerade noch genug Selbstkontrolle auf, um nicht nach dem Brot zu grabschen. Mit zittrigen Fingern brach er ein Stück ab, steckte es sich in den Mund und kaute genüsslich, bevor er sich überhaupt eine Antwort überlegte.
„Du erwartest nicht ernsthaft, dass ich dir etwas über das Rebellenlager verraten werde?", fragte er zurück und schob schnell noch einen weiteren Brocken hinterher. Hieß das, sie hatten sonst niemanden aus seiner Gruppe gestellt? Er erlaubte sich keine Hoffnung zu schöpfen.
Gloryas Augen huschten zu einem wachehaltenden Soldaten, der einen Steinwurf von ihnen entfernt vor einem Tor stand. Er war anders, als die anderen. Hatte sein Visier heruntergelassen, obwohl seine Kollegen meist noch nicht einmal einen Helm trugen. Hatte er schon vorher dagestanden?
„Nein", erwiderte sie knapp, „Beschreib es mir einfach."
Lewi vergaß für einen kurzen Moment, zu kauen. Er war sich nicht ganz sicher, wie er ihr Verhalten bewerten sollte, doch mit jedem verstreichenden Herzschlag kehrte sie langsam zu sich zurück und entfernte sich immer mehr von ihm.
„Los. Unterhalte mich", wiederholte sie ihre Aufforderung. Ihre Hand fuhr durch die langen Haare und blieb an mehreren verfilzten Stellen hängen. Obwohl die Monde größer denn je über ihnen standen, fielen Lewi die kleinen Details erst nacheinander auf. Sie hatte neue Wunden. Kratzer an ihren Armen und zerstörte Fingernägel.
Lewi schluckte einmal. Hier stimmte etwas nicht. Es fühlte sich an, als sähe er einer Falle beim Zuschnappen zu. Als beobachte er ein Boka-Kaninchen, das sich an einen Grauhäuter kuschelte. Sie fiel, doch er wusste nicht, wie er sie erreichen sollte.
„Es ist... Es ist warm dort. Voll. Viele unterschiedliche Menschen." Die Worte fielen ihm stückchenweise aus dem Mund. Zögerlich.
Glorya warf ihm einen ärgerlichen Seitenblick zu, der ihr altes Temperament zurück lockte.
„Ich bitte dich, Lenlay. Erzähl mir was Interessantes", sie schnaubte einmal halbherzig, doch ihre Augen betrogen etwas anderes „Haben sie tatsächlich diese riesige Trainingshalle, von der wir gelesen haben?"
Lewi schluckte den dritten Bissen herunter und beobachtete, wie ein weiterer Soldat mit geschlossenem Visier unter dem Torbogen durchtrat und sich kurz mit seinem Waffenbruder unterhielt.
„Größer", gab er zu, „Lebendiger. Es ist wie ein erwachter Dschungel, gefangen in einem einzigen Saal."
Gloryas Aufmerksamkeit haftete wieder bei den Wachen, doch sie hörte jedes Wort. Gedankenverloren zeichnete sie dir silbrigen Narben auf ihrer Hand nach.
„Ein Dschungel? Ich hatte es mir immer wie den Trainingsplatz der Burg vorgestellt. Gibt Hillow Kamiri die Schulstunden?"
Was ging hier vor sich? Glorya hatte von der Halle genauso viel gehört wie er. Sie benötigte diese Informationen nicht. Es war lange ihr gemeinsamer Traum gewesen, dort zu leben, also warum wollte sie all das wissen?
„Nein, wir trainieren nur untereinander."
Immer wieder huschte Lewis Blick zu den Soldaten zurück. Eine ungreifbare Bedrohung ging von ihnen aus. Sie waren düsterer, als die Schatten, beinahe... Waren das Reiter des Königs?
Er richtete sich ein Stück auf der Bank auf. Was hatten die hier verloren?
In ihrer merkwürdigen synchronen Art setzten sie sich in Bewegung.
Glorya erhob sich von der Lehne und er tat es ihr instinktiv gleich. Jeder ihrer Muskeln war angespannt.
„Dann hoffe ich, dass sie deine Linke stärker gemacht haben."
Und ohne weitere Erklärung zog sie ein Schwert aus der Hecke hinter ihnen.
Lewis Kopf fuhr zu ihr herum, als hätte sie ihn geohrfeigt.
„Was hast du vor?"
Sie sah ihn nicht an, sondern hielt ihm lediglich den Griff der Waffe hin.
„Es war nur eine Frage der Zeit, bis er mich umbringen würde." Sie weinte nicht. Ihre Wangen blieben trocken, das Netz aus alten Verletzungen unberührt. Und als sie sich zu ihm umdrehte, glühte der Hass in ihren Augen.
„Ich will nur, dass er es bereut."
Die Reiter des Königs wurden schneller. Obwohl sie immer noch gingen, wirkte es, als würden sie über den Grund fliegen. Sie ruckten mit den Köpfen, zogen ihre Waffen und stießen ein hohes Schnarren aus, das Lewi eiskalt über den Rücken rollte.
Glorya gab Lewi keine Zeit zu reagieren. Mit einem Aufschrei stürzte sie sich auf den Ersten und riss ihn zu Boden. Steine und Staub wurden aufgewirbelt und Fäuste flogen. Lewi hatte noch nie jemanden gesehen, der einen Reiter des Königs von den Füßen holte. Doch Glorya schrie. Sie schrie ihren Hass auf die Welt hinaus, die sie so schändlich ausgenutzt hatte und nun loswurde, wie ein ausgedientes Möbelstück.
Aber sie hatte keine Chance. Der erste Hieb mit dem Knauf brach ihr den Oberarm. Es war ein widerliches Geräusch, das über den leeren Innenhof hallte.
„Los, Lenlay!" Die Schmerzen machten ihre Worte beinahe unverständlich. Noch ein Hieb, und ihr Blut färbte ihre Haare Scharlach. Unkoordiniert ruderte sie mit dem Arm, in ihrem verzweifelten Versuch den Helm herunter zu reißen.
Der zweite Soldat setzte sich in Bewegung.
Lewi stolperte zurück. Was tat sie da? Es würde sie nur beide das Leben kosten! Er griff das Schwert ein bisschen fester und stürzte los. Er wollte sie nicht retten. Das konnte er überhaupt gar nicht.
‚Ich will nur, dass er es bereut.'
Sein ganzer Körper zitterte, als er an ihr vorbei spurtete. Die Tage in der Zelle machten sich bemerkbar. Seine Knie waren weich und gaben nach. Die Muskeln schmerzten allein schon vom Gewicht der Waffe. Die Distanz zum Tor wuchs mit jedem Schritt. Er würde es nichts schaffen.
Wieder schrie Glorya auf, doch es fand ein widerliches Ende, als ihr Kopf abgetrennt wurde. Mit einem wütenden Stöhnen rollte sich der Reiter von ihr herunter und Lewi hielt jäh inne. Er würde sich stellen müssen.
Als er sein Blick auf den geschundenen Körper des Mädchens fiel, kostete es ihn alle Selbstbeherrschung, sich nicht einfach zu übergeben. Sie lag merkwürdig verrenkt auf dem Boden, als hätte jemand eine Puppe fallen lassen. Hoffentlich verbrannten die Soldaten ihre Überreste, sonst würde sie sicher als Geisterwesen wiederkehren und sie alle heimsuchen. So viel Zorn in einer Gestalt würde unmöglich friedlich in die Welt der Götter übergehen.
Der zweite Reiter stieß ein lautes Schnarren aus- eine letzte Warnung, ehe er auf Lewi zuflog. Seine dunkle Rüstung spiegelte nicht einmal das Licht der Monde, sondern ließ die Bewegung verschwimmen, sodass Lewi nichts anderes übrigblieb, als instinktiv seine Klinge hochzureißen.
Der Zusammenstoß sandte ihn stolpernd rückwärts. Und als sich auch der erste Soldat aufgerappelt hatte, wusste er, dass er keine Chance hatte. Aber vielleicht hatten sie Gnade und würden ihn genauso umbringen.
Er wollte nicht in diesem Loch verhungern.
Er wollte die Sterne über seinem Kopf wissen.
✥✥✥
Die Beiden waren kaum mehr als Kinder, viel zu jung, um bereits alleine durch das gesamte Land geritten zu sein, nur um derartig schlechte Nachrichten zu überbringen.
Mit hängenden Schultern standen Balthar und seine Freundin nahe dem Ausgang und starrten auf ihre Hände.
Elayn hatte ihn so oft mit ihrem Sohn zusammen gesehen, dass es beinahe unmöglich erschien, dass Lewi hier nirgendwo in der Nähe war. Es war, als täte sich neben ihm ein Loch in der Luft auf, das er selbst nur allzu gut spürte.
„Das heißt, wir können inzwischen annehmen, dass Lewi genauso gefangen genommen worden ist wie seine Schwester." Obwohl Hillow laut sprach, fehlte ihrer Stimme jegliche Kraft. Das erste Mal seit Elayn ihre Freundin kannte, wirkte sie müde.
Sie hatten sich in eine aussichtslose Situation manövriert. Der König war ihnen bisher stets einen Schritt voraus gewesen.
„Wenigstens ist es Glorya nicht geglückt, die gesamte Gruppe einzufangen. Wir haben ein Schreiben abgefangen, in dem sich Kaelchon unzufrieden über ihre Wirksamkeit äußert", warf Mr. Creek aus dem Hintergrund ein.
„Dann wird er nicht mehr lange warten und Konsequenzen ziehen", nickte die Anführerin schwach.
Ihre eigenen Ängste herunterschluckend stand Elayn von ihrem Stuhl auf. Sie konnte sich jetzt nicht leisten, Erschöpfung vorzutäuschen.
„Das heißt, wir werden ebenfalls in Aktion treten müssen. Ein Angriff auf seinen Palast", eröffnete sie so sachlich, ihre Nerven das zuließen.
Der versammelte Rat sah sie zweifelnd an. Ein paar von ihnen tauschten vielsagende Blicke. Keiner von ihnen erkannte die Notwendigkeit.
„Weil das das letzte Mal auch so gut funktioniert hat", wandte Timmens endlich ein, die Arme vor seinem Oberkörper verschränkt. Er saß zurückgelehnt auf dem Stuhl, als wäre das hier der Mittagstee im Lehrerzimmer.
Doch hinter der abweisenden Haltung lauerte die Angst. Er konnte die Finger nicht ruhig halten, egal wie sehr er sie im Saum seiner Weste verkrampfte. Sie alle fürchteten, was als Nächstes geschehen mochte. Würde der König Lewis Kräfte wiederherstellen? Welches Talent hatte Lya, dass er sie als Waffe bei sich behielt?
Aber nichts davon war eine Ausrede für solche Worte. Er war nicht dabei gewesen, als sie damals den Palast gestürmt hatten. Er hatte nicht gekämpft und verloren.
„Und was schlägst du stattdessen vor?"
Langsam, um sich selbst Zeit für eine passende Antwort zu verschaffen, richtete sich der ehemalige Lehrer auf und warf ebenfalls einen Blick in die Runde, als müsse er sich erst ihrer Aufmerksamkeit versichern.
„Wir sitzen das Ganze aus. Das hier erscheint mir ein ausreichend geschütztes Versteck, in dem wir in aller Ruhe auf den richtigen Zeitpunkt warten, um erneut zuzuschlagen und mehr Schaden anzurichten."
„Bis dahin werden Lya und Lewi längst tot sein", warf Hillow ungläubig ein, die linke Hand erhoben, um den zwei Jugendliche hinter ihr Einhalt zu gebieten. Ganz besonders das Mädchen war bereit Feuer zu spucken.
Elayn starrte ihn fassungslos an. Sich verstecken und ihre Kinder ihrem eigenen Schicksal überlassen? Sie hatte gut Lust ihn den Waldelfen auszuliefern, bis er um ihr Eingreifen betteln würde.
„Ich rechne sogar damit", setzte Timmens noch einen drauf und ließ sich betont entspannt zurück in den Stuhl fallen, „Schließlich haben sie sich beide selbst in diese unangenehme Lage gebracht. Lewi ist sogar ein verurteilter Deserteur! Warum auch immer der König sie festhält, die Geschichte hat uns gelehrt, dass sie uns nur Probleme machen werden. Geben wir ihm einmal nicht das, womit er ohnehin rechnet. Lassen wir ihn sich austoben und wenn seine Kräfte erschöpft sind, schlagen wir zu."
„Wenn du mit Geschichte auf mich anspielst, ich habe nie etwas getan, um diesem Land zu schaden!", sprang Lyanna auf und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, „Nur weil du zu feige bist, um dein Gesicht außerhalb von hohen Mauern und Zaubersprüchen zu zeigen, heißt das noch lange nicht, dass wir hunderte von Menschen ihrem sicheren Tod überlassen."
„Der König hat sich in seinem ganzen Leben um nichts so sehr gekümmert, wie um dich", pflichtete Beanna nachdenklich ihrem Kollegen bei, hob jedoch sofort abwehrend die Hände, als Lyanna sich zu ihr umdrehte.
„Einmal davon abgesehen befinden sich bereits die meisten Begabten in irgendwelchen geschützten Einrichtungen. Wenn wir mit ihnen Kontakt aufnehmen und sagen, dass sie für die nächsten zehn Jahre nicht herauskommen sollen...", führte ein anderer Gruppenleiter fort, die Stirn in steile Falten gelegt.
„Die meisten begabten Menschen?", wiederholte Lyanna ungläubig, „Und der ganze Rest der Bevölkerung? Sie werden nicht weniger unter dem Machtgewinn meines Vaters leiden!"
„Und wann kümmert es die, wie sehr wir bereits jetzt leiden? Es tut mir leid Elayn, aber in diesem Fall stimme ich Timmens zu. Lewi hatte keine Befugnis sich dem Palast zu nähern. So viel wir wissen ist er bereits tot", mischte sich eine grauhaarige Frau mit tiefen Krähenfüßen ein.
Zustimmendes Gemurmel erhob sich, das Elayns Verzweiflung beinahe greifbar machte.
„Er ist kein Deserteur! Er hat versucht, seine Schwester zu befreien! Etwas, woran dieser Rat schon seit Monaten scheitert!", brauste sie auf. Die Hände zu Fäusten geballt. Wie sehr sie sich in dem Moment Jamah an ihre Seite wünschte. Ihr Mann hätte die Ruhe besessen, um die verängstigten Sturköpfe zu überzeugen. Stattdessen stand er in der großen Trainingshalle und bemühte sich einem Jungen, der bei Lewis letztem Abenteuer den Verstand verloren hatte, das Laufen beizubringen.
„Eine Schwester, die durch einen Freundschaftsdienst von einem Mord freigesprochen wurde. Dieser Rat zieht eben nicht planlos aus und versucht in Kaelchons Palast einzubrechen. Deshalb leben wir noch und deine Kinder vermutlich nicht mehr", zuckte Timmens mit den Schultern.
„Du treuloser Bürokrat!", fauchte das dunkelhaarige Mädchen hinter Hillow und stürzte sich trotz ausgestreckter Hände auf den Mann, „Dein Unterricht war schon immer Schrott!"
Mit einem Satz sprang sie über den breiten Holztisch und riss den ehemaligen Lehrer mitsamt Stuhl um. Eine beeindruckende Leistung, wenn man ihre kindliche Gestalt beachtete.
„Tyana, nein!" Balthar versuchte, ihr hinterher zu hechten, doch einer der Gruppenleiter hatte bereits beide Arme um seinen Oberkörper geschlungen, und hielt ihn zurück, während sich zwei andere abmühten Tyana von Timmens herunter zu ziehen.
Ohne die beruhigende Aura ihres Ehemannes war Elayn ihr zur Hilfe gestürzt, noch ehe sie über die Konsequenzen ihrer Taten nachdachte. Wie konnten sie nur? Tausende Menschen würden sterben. Ihre eigenen Kinder würden sterben. Das würde sie nicht zulassen.
„ALLE RAUS!" Hillows Stimme hallte von der hohen Decke des Saals wider und ließ jeden in seiner Bewegung innehalten. Sie war außer sich. Ihre Lippe hatte sich zu einem abfälligen Schnauben zurückgezogen und in ihrer Hand drehten sich bedrohlich leuchtende Kugeln.
„Dieses Treffen wird vertagt. Ihr seid doch alle nicht bei Verstand!"
Eine zaghafte Hand half Elayn hoch und drückte sie zurück in einen der Stühle. Lyanna ließ sie nicht los, während sich nach und nach der Raum leerte. Die Leute tuschelten und warfen ihr merkwürdige Blicke zu, die sie kaum interessierten. Timmens wurde sogar gestützt.
Insgesamt vier Männer schoben die zwei Heranwachsenden heraus zu einer der Strafzellen.
Und mit ihnen verließ Elayn auch jegliche Kraft sich aufrecht zu halten.
Stumm starrte sie gerade aus, bis endlich das dumpfe Zufallen der Tür sie alleine mit Lyanna in der großen Höhle einschloss. Wenn sie ihre Kinder wirklich nicht noch einmal sehen würde, könnte man sie genauso gut hier unten beerdigen.
„Ich versteh nicht, warum Kaelchon Lya gefangen hält", gestand sie ihrer Schwägerin, die sich ihr gegenüber auf die Tischkante gesetzt hatte.
Eine einzelne Träne löste sich aus ihren Wimpern und rollte über ihre Wange, ehe Elayn sie hastig fortwischte.
Lyannas Blick wurde unruhig und ihre Knöchel weiß, ehe sie mit einem tiefen Seufzen den Kampf gegen sich selbst gewann.
„Weil sie die Lichterbin ist."
Elayn verschluckte sich an ihrem Schluchzen.
„Lya ist ein ganz normales Mädchen. Sie hat als Kind ihre Begabung an Lewi verloren", widersprach sie durcheinander, nach einer Antwort im Gesicht der jungen Frau vor ihr suchend.
Eine Pause entstand, in der die Rothaarige nach den richtigen Worten suchte, ehe sie alle auf einmal loswurde. „Nein ist sie nicht. Ich habe ihr meine Fähigkeiten geschenkt."
„Du hast was?" Elayns Verwirrung wuchs. Lya konnte sich nicht in irgendwelche Tiere verwandeln. Niemand hatte zwei Begabungen gleichzeitig. Das machte überhaupt gar keinen Sinn!
Noch einmal stöhnte Lyanna. Das alles war so viel schwerer, als sie es sich ausgemalt hatte.
„Lass mich von Anfang an erzählen, sonst dauert das deutlich länger, als wir eigentlich Zeit haben."
Das Schweigen der Mutter war ihr Antwort genug. Mit hängenden Schultern wandte sie den Blick ab, bis sie vor sich die Geschehnisse der Vergangenheit sah.
„Ich war die letzte Erbin des Lichts."
Ihre Brust hob und senkte sich quälend langsam. „Wir fanden es bei einem Ausflug zu den Spiegelseen heraus. Mein Vater war glücklicherweise nicht dabei, aber dafür eine Freundin, die eine heimliche Faszination für die alte Magie hatte." Sie schüttelte den Kopf.
„Es war furchtbar. Ich konnte kaum noch mit ihm in einem Raum sein, ohne zu fürchten, dass er herausgefunden hatte, was ich so dringend vor ihm verbarg. Was er damit alles hätte tun können! Seine Bestrafung wäre schrecklich gewesen ...
Als ich es nicht mehr aushielt, floh ich. Und endete bei den Waldelfen. Du kannst... du kannst dir nicht vorstellen, wie dankbar ich war. "
Ungeduldig wischte Lyanna sich eine Strähne ihrer roten Haare aus der Stirn. Ihre zitternden Finger verrieten dabei, dass sie erst zu dem unangenehmen Teil der Geschichte kommen würde.
„Mithilfe ihrer Magie beobachtete ich, wie du und mein Bruder euren Kampf gegen meinen Vater austrugen. Wie er dir einen Antrag machte und ihr euch endlich zurückziehen konntet.
Erst knapp fünf Jahre später kam neuerlich Unruhe in mein inzwischen friedliches Leben. Eine Nachtelfe und ihr Neugeborenes störten unser sonst so abgeschottetes Lager. Ich hatte eigentlich gedacht, dass sie ausgestorben seien, seit ... Doch da stand eine vor mir, leibhaftig und bereit irgendeinem unschuldigen Kind das Leben zu nehmen."
„Und du hast sie zu mir geschickt", Elayns Stimme war kurz vor dem Ersticken. Sie erinnerte sich an die Kette, die das Wesen mit sich gebracht hatte. Die Gestalt zwischen den Bäumen. Ein magischer Wegweiser. Es war niemals Zufall gewesen.
Lyannas Rücken schrumpfte noch ein wenig mehr in sich zusammen. „Ich überredete sie Lya zu mir zu bringen. Ich hätte sie großgezogen und niemand wäre gestorben. Sonst lassen sie die Tauschkinder langsam verhungern und-..."
„Du hättest mir das wirklich angetan? Mir mein eigenes Kind genommen?" Anklagend schüttelte Elayn den Kopf. Sie erkannte was der Frau durch den Kopf gegangen war, doch sie verstand es nicht. Viel zu gut erinnerte sie sich an ihre Angst, als dieses Wesen in Lyas Kinderzimmer gestanden hatte.
„Normalerweise hättest du den Austausch nie bemerkt. Aber als die Nachtelfe mit leeren Händen zurückkam, ahnte ich bereits, was vorgefallen sein musste.
Ich habe euch besucht. Nachts, als alle schliefen."
„Um was zu tun? Lya doch noch von unserem Heim zu stehlen?" Aus irgendeinem Grund machte Lyanna alles nur noch schlimmer. Inzwischen war Elayn auf die Beine gekommen. Blanke Verzweiflung schüttelte ihren Körper. Sie hatte diese Frau für ihre Familie gehalten.
„Nein!", wehrte Lyanna hektisch ab, „Ich habe ihr meine Gabe übertragen. Ich fürchtete, dass Lewi eine Gefahr für sie darstellen würde und wollte sie schützen! Es war als eine Wiedergutmachung gedacht!"
„Und jetzt werden beide sterben, weil du dich in ein fremdes Leben eingemischt hast!" Aufgebracht warf Elayn die Arme über den Kopf. So eine Gabe konnte Lya den Kopf kosten! Wer auch immer davon erfahren würde, sie wäre nichts weiter als eine Art Superwaffe.
Menschen würden sie ausnutzen und verletzen. Vielleicht käme sogar jemand auf die Idee, dass sie tot weniger gefährlich wäre.
„Auszusuchen wer sein Kind verlieren soll ... das war nicht deine Entscheidung gewesen. Mein Pferd hat mich vor dir gewandt, aber ich habe nicht zugehört. Du bist nicht hier, weil die Waldelfen dich geschickt haben, du hast Angst was passiert, wenn dein Vater erfährt, was Lya wirklich kann."
Fassungslos wandte sie sich zum Gehen. Sie war fertig hier, fertig mit Lyanna und dem gesamten Rat, der lieber die Menschen sich selbst überlassen wollte, nur um die eigene Haut zu schonen. Es galt endlich zur Tat zu schreiten.
Mit einem Knall fiel die Tür hinter ihr zu.
Das Leben ihrer Kinder stand auf dem Spiel und sie würde sich nie verzeihen, wenn sie nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft hätte, um sie zu retten.
Sie hatte schon so viele Male ihr Leben erst für die Burg der Kinder und später für diese Organisation riskiert. Man würde ihr nachsehen, wenn sie dieses eine Mal ohne Erlaubnis von oben handelte.
Hillow hatte tatsächlich einen Mann abgestellt, um die zwei Jugendlichen in ihren Zellen zu bewachen. Er stand neben dem Eingang und starrte in die beiden Löcher hinein, als könne er nicht glauben, wen sie dort gerade festgesetzt hatten. Oder aber er schlief mit offenen Augen.
Ohne sich eine Sekunde des Zögerns zu erlauben, marschierte Elayn in den Raum, zog ihr Schwert und rammte den Knauf in einer einzigen Bewegung gegen die Schläfe des Rebellen. Für den Moment empfand sie noch nicht einmal Mitleid, als der Kerl zu Boden ging. Wenn sie zurückkommen sollte, würde sie sich entschuldigen.
„Oh Schande, Elayn", Balthar hatte Augen wie Teetassen. Hastig ging er in die Knie, um besser zu erkennen, ob die Wache auch wirklich bewusstlos war.
Seine dunkelhaarige Gefährtin hatte da schon ganz andere Nerven. Gelangweilt lehnte sie an den Gitterstäben, als habe sie nichts weiter erwartet, als von hier auszubrechen.
„Die Schlüssel sind ihm vorhin unter den Hocker gefallen."
Elayn folgte ihrem Fingerzeig. „Ihr müsst mir sagen, wo ihr Lewi zuletzt gesehen habt."
Ein wissendes Grinsen schlich sich auf Balthars Gesicht, als das Schloss der Zelle ein Klicken von sich gab. „Ich kann sogar etwas Besseres: Ich weiß, wo er jetzt gerade festgehalten wi-..."
„Er tut gar nichts, wenn Sie uns nicht schwören, dass Sie uns nicht genauso wegschicken, sobald es brenzlich wird", schnitt ihm Tyana das Wort ab, ein herausforderndes Funkeln in ihren gelben Augen.
Aufsässig verschränkte sie die Arme vor der Brust, als wollte sie Elayn testen.
„Ich verspreche rein gar nichts und schon gar nicht trotzigen Kindern wie dir", entgegnete diese schlicht und bedeutete Balthar, ihr zu folgen. So eine Dreistigkeit sollten sich mal Lya oder Lewi herausnehmen! Obwohl sie für Erstere nicht wirklich ihre Hand ins Feuer legen würde. Provoziert hatte sie definitiv das Temperament der Lenlays.
„Tut mir leid, Tyana, aber in dem Fall bin ich auf Elayns Seite. Sie kocht einen viel zu guten Eintopf!", rief Balthar über seine Schulter hinweg, als das Mädchen ihnen nicht gleich aus der Zellenhöhle folgte.
„Ist das dein verdammter Ernst? Wir sind schon das letzte Mal fast als Deserteure verurteilt worden! Unsere ganze Zukunft ist für die Katz, wenn wir zwei Mal dasselbe Theater veranstalten!", rief sie ihm aufgebracht hinterher, schluckte kurz darauf aber ihren Stolz herunter und schloss sich ihnen doch an.
Ohne sich umzudrehen, eilte Elayn mehrere Gänge hinunter, vor jeder Abzweigung stoppend aus Sorge in ein Ratsmitglied zu laufen. Sie sollte nicht mit denen Zwei gesehen werden, wenn sie kein Aufsehen erregen wollten. Schließlich hatten alle mitbekommen, was für eine Darbietung Tyana im Ratssaal gezeigt hatte.
Die Flure waren erstaunlich leer für diese Uhrzeit, als ahnten alle, in welcher Stimmung ihre Anführer die große Höhle verlassen hatten.
„Und was ist unser herausragender Plan?", fauchte die Feuerbändigerin, als sie endlich in den letzten Gang abbogen, bevor sie die Oberfläche erreichen würden.
„Es gibt keinen Plan!", schnitt Hillow ihnen den Weg ab. Breitbeinig stand sie vor der Luke, ganz offensichtlich entschlossen sie nicht aus diesem Lager entkommen zu lassen. Sie trug keine Waffen bei sich, denn allein ihr Anblick genügte, dass Balthar schluckend einen Schritt zurücktrat.
Elayn schnalzte ungeduldig mit der Zunge.
„Lass mich gehen, Hillow. Wenn es um deinen Sohn gegangen wäre, hättest du schon lange die Pferde gesattelt."
Doch die Anführerin bewegte sich nicht einen Fingerbreit.
„Tatsächlich verwundert mich am meisten, dass du dich keine Sekunde mit Jamah abgesprochen hast. Er hat offenbar ähnliche Instinkte wie ich."
Elayns Augenbrauen schoben sich verwirrt zusammen.
„Jamah ist bereits losgeritten?"
„Mit seiner Schwester. Sie will einen Austausch aushandeln. Sie selbst gegen deine Kinder. Und bei ihrer Vorgeschichte würde ich tatsächlich das halbe Lager verwetten, dass sie Erfolg haben wird."
✥✥✥
Hello Nightowls :DDie kleine Morgan Kingsman hat sich die Sehne im linken Handgelenk gereizt und tippt jetzt fröhlich einhändig, weil Zavabe gesagt hat ich soll mich nicht so anstellen :D
Deshalb dauert alles ein bisschen länger :D
Aber hey, ich hoffe dieses Kapitel hat noch ein paar Fragezeichen bei euch auflösen können :D
Was meint ihr? Wird der König Lya einfach gehen lassen, jetzt da er weiß was sie kann?
xoxo
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