13- "Du willst uns verlassen?"
"[...] Im 3. Amtsjahr von Bartei wurde Achèl zur Hauptstadt des Landes bestimmt. Ihr beinahe identischer Zwilling Kemhell blieb weiterhin lange Jahre die Sommerresidenz der königlichen Familie. Es sind die einzigen instand gehaltenen Schlösser im Land. Warum die beiden Städte so eine hohe architektonische Ähnlichkeit ausweisen ist bis heute unbekannt. Dennoch prägten sie das Sprichwort: Bist du in einer Stadt geboren, bist du in allen heimisch. [...]"
- (Lional Frank, "Die Geschichte vor den letzten fünf Jahrzehnten". S. 12)
✥✥✥
Der Anblick, der sich Lewi und Balthar bot, jagte beiden Jungen eine Gänsehaut über die entblößten Unterarme.
Sogar Lewis Pferd hatte nervös die Ohren gespitzt und starrte hinunter ins Tal, als erkenne es noch mehr als sein Reiter. Gerne hätte er es dazu befragt, doch wie immer war eisige Stille alles, was seinem tastenden Geist antwortete.1
„Sah das schon so aus, als du das letzte Mal hier gewesen bist?" Balthars Augenbrauen verknoteten sich beinahe, so sehr hatte er sie zusammengezogen. Jede Faser in ihm schrie danach umzudrehen und Hillow das Problem selbst lösen zu lassen. Geräuschvoll stieß er die Luft aus.
Und dieses eine Mal verstand Lewi ihn sogar. Hart schluckte er gegen den Kloß im Hals an, doch der blieb vollkommen unbeweglich. Stattdessen kaute er auf seiner Unterlippe herum zu.
„Sie haben umdekoriert, seitdem ich das letzte Mal da war."
Tatsächlich war es erstaunlich schwer, die Schlucht der Gazel wieder zu erkennen. Wo vorher ein immergrüner Graben, mitten zwischen Weiden und Baumgrüppchen gewesen war, lag nun ein schwarzer Riss, kaum mehr als eine Brandwunde auf der Haut der Erde. Von ihm rankten sich dunkle Adern durch das Land und hatten es in einem erbärmlichen Zustand zurückgelassen. Beinahe war es, als würde Gift aus ihnen heraus pulsieren und jedes Leben um sie herum ertränken.
„Denkst du, das war der König?" Balthar räusperte sich. Unruhe hatte ihn befallen und zeigte sich in den zuckenden Fingern und seiner nervösen Angewohnheit seltsame Laute auszustoßen.
„Ich glaube, das da breitet sich noch weiter aus. Ich vermute eher, dass die Gazel fürchterlich wütend über Eves Gefangennahme sind", entgegnete Lewi ernsthaft, die Lippen grimmig zusammengepresst. Sie hatten begonnen ihren Zorn über die Fehlbarkeit der Menschen endlich wieder außerhalb ihres Heimes zu tragen. Seine jüngste Begegnung mit ihnen und ihr schwarzes Bild von den Herzen aller Wesen, war immer noch sehr lebendig in seiner Vorstellung. Wie begeistert die Wächterinnen erst wären, wenn sie Eves Zustand sahen, war nicht sonderlich schwer auszumalen. Wie er danach aus der Schlucht zurückkommen sollte schon.
Das letzte Mal war er nur knapp dem Tod entkommen und das dank Evangheline. Doch jetzt würde sich niemand mehr für seine Geburtssünden einsetzen. Er war ein Schattenwesen, egal wie sehr er versuchte, ein Mensch zu sein, und das machte ihn zu einem Verbrecher.
„Wie wäre es, wenn wir sie hier aussetzen und sobald wir in einem sicheren Abstand zu ihr sind, entfernt Cam den Glockenzauber", erriet Balthar seine Gedanken. Er konnte sich kaum von dem Schauspiel vor ihnen abwenden. Wachsender Horror verdunkelte seine ohnehin schon schwarzen Augen, bis sie kein Licht mehr reflektierten.
Einfach fortlaufen. Die Vorstellung hatte tatsächlich ihre Reize. Lewis Überleben zum Beispiel. Es gab noch so viel, dass er erledigen, so viel Unrecht, das ebenso beglichen werden musste. Der Umstand, dass dieser Einsatz sein Ende sein könnte, war Lewi zwar in den Kopf gekommen, doch er hatte sich nie so drängend angefühlt wie in diesem Moment. Trotzdem schüttelte Lewi den Kopf.
„Ich habe einen Auftrag. Hillow vertraut darauf, dass ich ihn erfülle."
Sein Freund rollte mit den Augen, doch bevor er zu einer bissigen Antwort über Lewis Loyalität ansetzte, wurden sie von Tyanas Stimme unterbrochen.
„Hey! Kommt ihr zwei auch mal zurück, oder-..." Sie brach spontan ab, als sie endlich die Anhöhe erklommen hatte und ihr Blick auf das Tal davor fiel. Ihr eben noch keuchender Atem verfing sich in ihrer Brust und ließ sie jäh innehalten. Ihre kleine Statur erzitterte.
„Was bei den Göttinnen ist das?"
„Lewis baldiges Ableben", schnarrte Balthar, einen trotzigen Zug um die Lippen. Er war wütend auf seinen Freund, doch Lewi verstand nicht ganz warum.
„Oh." Man musste der Feuerbändigerin hoch anrechnen, dass sie nicht erleichtert aussah. „Aber wie erklären wir zuhause, dass wir den jüngsten und schönsten aller Gruppenleiter verloren haben? Vielleicht mit Meerjungfrauen? Die alleinstehenden Damen würden in Scharen hierher pilg-..."
„Halt die Klappe, Tyana, er meint's dieses Mal ernst!", fauchte Balthar sie an und machte auf dem Absatz kehrt, um sein Pferd zu ihrem kleinen provisorischen Lager zu führen. Allerdings nicht, ohne mindestens eine Wagenladung an Steinen in alle möglichen Richtungen zu treten.
Die Feuerbändigerin wandte sich Lewi zu, den Kopf schief gelegt.
„Hast du unserer Sonnenfee das Abendessen geklaut?"
Ihr Gruppenleiter warf der schauerlichen Szenerie unter ihnen einen letzten Blick zu, ehe auch er den Abstieg zu ihrem Lager zurück antrat.
„Du weißt, was Reisen mit seiner Stimmung anrichtet", er zuckte abwiegelnd mit den Schultern, „Und dann ist da noch dieser Baum, von dem er glaubt, er verfolge uns ..."
Für einen viel zu kurzen Augenblick meinte er, ein feines Lächeln neben ihm aufblitzen zu sehen. Doch Tyana hatte sich schneller gefangen.
„Der Kerl sollte sich mal gründlich von Kimia untersuchen lassen", entschied sie, eine Spur zorniger als notwendig. Was Lewi in seinem Verdacht bestätigte, dass sie vielleicht mehr für den grauhaarigen Sucher übrighatte, als sie durchsickern ließ.
„Und wo wir bereits von Verrückten sprechen", hielt sie ihn am Arm zurück, ehe sie in Hörreichweite des Lagers kamen, „Du willst nicht ernsthaft alleine zu den Gazel laufen und ihnen ihre übergeschnappte Tochter wiederbringen?"
„Sie ist nicht ...", brauste Lewi auf, ehe er seine eigene Zunge zügelte. Wohl wissend, dass Tyana ihre Worte absichtlich gewählt hatte, brach er den Satz ab und holte tief Luft. Eve war nicht übergeschnappt. Was ihr zugestoßen war, war schrecklich und noch darüber hinaus seine Schuld. Doch all das würde er nicht mit der Feuerbändigerin diskutieren. Er war empfindlich und sie verstand ihn ohnehin nicht. Sie hatte die sozialen Fähigkeiten eines Stollen-Gnoms.
„Hillow hat mich mit dem Auftrag betraut. Du vor allen andere, weißt, dass wir uns keine weiteren Fehlschläge leisten dürfen."
Tyana schnaubte abfällig.
„Natürlich, wenn Hillow etwas anordnet, springst du sofort. Verrätst du mir auch, wie wir die Gruppe zusammenhalten, wenn wir schon wieder den Gruppenführer verlieren?"
„Sie wird einen Weg finden. Und ohne Loyalität würde das System mit einem Anführer nicht funktionieren. Ich muss ihr vertrauen", bestätigte Lewi mit einem Kopfnicken und setzte seinen Weg fort. Es war mühselig mit Tyana zu streiten.
„Nein, du musst gar nichts. Wenn sie unfehlbar wäre, wäre sie eine der sechs Göttinnen", ihre Ohren leuchteten rot auf, „Und wenn du dich in den freiwilligen Tod stürzt, wer wird deine Schwester retten?"
Lewi fühlte sich, als hätte sie ihn geohrfeigt. Natürlich wäre er gerne dabei, wenn sie Lya befreiten und es war sein größter Zweifel. Er wollte für sie da sein, wie sie es für ihn gewesen war. Er schuldete ihr das. Aber sie würde am besten verstehen, warum er Eve heimbrachte.
„Hillow und meine Eltern werden tun, was getan werden muss", war seine glatte Antwort, mit der er endlich den Rest der Gruppe, namentlich Camanero und Kimia, erreichte.
Die zwei saßen vor einem kleinen Lagerfeuer und versuchten Brot darüber zu grillen. Beide erhoben sich sofort, als sie Tyanas verstimmte Miene sahen.
„Rede dir das ruhig ein, wenn du uns alle im Stich lässt", schnappte sie nach ihm. Und in einem Nachgedanken, fügte sie noch hinzu, „Weißt du, mit dir hätten wir wirklich groß werden können."
Eine seltsame Verletzlichkeit lag in ihrer ganzen Haltung. Mit Schwung machte sie auf dem Absatz kehrt und marschierte in die Richtung, in der Lewi auch Balthar vermutete.
„Du willst uns verla-...?" „Habt ihr den Grund für diese magischen Schwingungen gefunden?" Platzte es gleichzeitig aus der Heilerin und dem Magier heraus, begleitet von riesigen Augen und offenstehenden Mündern. Kimia wirkte, trotz ihrer Hautfarbe, blass und nervös. Camanero fingerte an dem kleinen Zopf herum, den er sich seit einigen Tagen band.
Lewi seufzte innerlich. Er wusste die Sorge seiner Leute zu schätzen, doch er fühlte sich kräftemäßig überhaupt nicht in der Lage jetzt mit jedem Einzelnen von ihnen noch einmal das Für-Und-Wider der Entscheidung zu besprechen.
„Nein und ja", erwiderte er matt und sattelte sein Pferd ab, „Die Gazel sind der Grund für das Kribbeln in deinen Zehen, Camanero. Wir sind tatsächlich näher als gedacht. Und nein, ich habe nicht vor euch zu verlassen. Tyana und Balthar übertreiben fürchterlich, was diesen Auftrag betrifft."
Vorerst zufrieden gestellt, wandten sich die Beiden wieder ihrem Stockbrot, oder besser dem Kohlestück an Kimias Ast, zu, das diese in die Glut hatte fallen lassen. Mit einem gleichgültigen Schulterzucken warf sie ‚Maen' fort, der seinen Namen mit einem Ritter aus einem Kinderbuch teilte.
Entschlossen, die letzten Stunden in Ruhe und Frieden zu verbringen, machte Lewi sich kurz darauf auf den Weg zu Eves kleinem Zellenwagen.
Zu seiner Überraschung fand er allerdings die Tür offen und Balthar neben der Gazel sitzend. Wie von Sinnen redete er auf sie ein, die Hände hilflos in die Luft werfend. Er zuckte sichtbar zusammen, als er Lewi entdeckte.
Seine Verzweiflung verwandelte sich in Schuldbewusstsein und mit hängendem Kopf kletterte er aus dem Wagen.
„Sie will noch nicht einmal davonlaufen", erklärte er Lewi mit belegter Stimme und gestikulierte in Eves Richtung. Er war erschöpft und ermüdet, als habe er wirklich alle Energie darauf verbraucht die Gazel zu befreien.
Sein wenig durchdachter Versuch ihn zu retten, berührte Lewi. Er war ihm noch nicht mal böse. Gehen war so ein hässlicher Gedanke. Er mochte seine Leute.
Nach einem kurzen Zögern zog er den Jungen in eine Umarmung, die dem Sucher all die Worte sagen sollte, die er jetzt nicht aussprach. Er hatte sich zu ihm bekannt, als jeder Lewi den Rücken kehrte. Er war ihm gefolgt, als seine Pläne aussichtslos waren und selbst als Lewi seine Hilfe nicht mehr wollte, versuchte er ihm das Leben zu retten, ohne seine Ehre zu verletzen.
„Versprich mir, dass du sie alle sicher zurück nach Hause bringen wirst", murmelte er in Balthars Ohr, unwillig ihn und damit ihren letzten gemeinsamen Moment loszulassen, „Und rette Lya. Auch wenn du dem Rat dafür in den Hintern treten musst. Meine Schwester hat es nicht verdient, im Palast zu verrotten."
Widerwillig machte sein Freund sich los und die Müdigkeit in seinen Augen verriet die Hoffnungslosigkeit dahinter. „Und was sag ich Lya, wenn ich ohne dich in der Hauptstadt aufkreuze? Dass ihr Bruder sich vertan hat und nach Kemhell geritten ist? Oder du noch andere Damen aus prekären Lagen rettest und deshalb leider verhindert ist?"
Ein trauriges Lächeln huschte über Lewis Lippen. Er wollte sich Lyas Gesicht nicht ausmalen, wenn sie davon hörte. Sie würde ihm Beine machen, kaum da sie endlich Freiheit atmete.
„Nein. Sag ihr, dass ich meine Schuld gegenüber den Gazel beglichen habe. Dass ich einmal in meinem Leben das Richtige getan habe."
Balthar gab ein undefiniertes Geräusch von sich, das abfälliger nicht hätte sein können. „Nur du würdest verlangen, dass ich deine eigene Schwester über deinen Verbleib anlüge."
Lewi wollte bereits widersprechen, doch der Sucher stoppte ihn mit erhobener Handfläche.
„Schon gut, ich werde es natürlich machen", er haderte kurz mit sich selbst, „Auch wenn ich es nicht durchziehen würde, ich bewundere dich für deinen Mut." Er schenkte Lewi ein schwaches Grinsen und machte kehrt, ehe Lewi sich sicher war, ob er es ernst gemeint hatte.
Alle verbliebene Kraft floss aus ihm heraus, kaum da sein Freund um eine Steingruppe gebogen war. Lewi war nicht bereit Abschied zu nehmen. Doch dann wiederum würde er das wohl nie sein.
Eine leichte Bewegung weckte seine Aufmerksamkeit. Eve, die bisher zusammengesunken auf der kleinen Holzbank im Käfig gesessen war, hatte sich aufgerichtet und lief auf wackeligen Beinen zu der immer noch offenstehenden Tür.
Lewi vergaß, wie man atmete. Oder sonst irgendeinen Muskel bewegte. Sämtliche Gedanken stolperten übereinander und verwirrten ihn, bis alles was zurückblieb, die Wärme in seinem Bauch war. Es fühlte sich an wie die ersten Sonnenstrahlen nach einer der plötzlichen Nächte. Oder das Beobachten von friedlich grasenden Pferden.
Erst als sie an der kleinen Stufe vom Wagen herunter scheiterte, sprang er in Aktion und fing sie prompt auf. Ihr Körper war warm und belebt. Kein Vergleich zu der starren Hülle, die er im Dunkel in die Zellen getragen hatte.
Als er jedoch ihr Zittern bemerkte, stellte er sie schnell ab und trat einen Schritt zurück. Auch wenn Camaneros Glockenzauber immer noch intakt war, wenn sie ihn jetzt töten wollte, er würde es geschehen lassen.
Ihre goldenen Augen hatten sich auf ihn gerichtet. Schatten jagten sich dahinter, doch sie scheiterte nicht daran, ihm eine gewisse Strenge zu verleihen.
„Du kannst Lya nicht im Stich lassen." Es klang wie das Rascheln trockener Blätter im Wind. Sie sprach nicht laut, doch das musste sie in diesem Moment auch nicht. Alle Sinne des Gruppenführers drehten sich nur noch um sie.
„Und wenn ich dich ...", sie holte Luft, um alle ihre Worte hörbar zu machen, „...vor den Palast tragen."
Die Vorstellung ließ Lewi schmunzeln, doch Eves energischer Ausdruck, trieb ihm das Bild ganz schnell aus.
„Und was wird aus meiner Gruppe? Ich könnte nie so ihre Leben riskieren."
Eve schüttelte den Kopf, als könne sie nicht glauben wie einfältig er war. „Sie werden sich selbst dafür entscheiden, ihr Leben zu riskieren."
Hektisch leckte sie über ihre rissigen Lippen. So viele Worte lagen auf ihrer Zunge, doch sie hatte nicht die Möglichkeit alle auf einmal herzugeben.
„Wir müssen Lya retten", beschwor sie stattdessen den blonden Jungen, „Die magischen Schwingungen sind nicht von den Gazel. Ich spür sie auch."
Und als Lewis selbst so hoch gelobter Verstand immer noch nicht aufschloss, schlug sie ihm gegen den Oberkörper, um ihrem Frust Luft zu machen.
„Sie kommen von ihr! Sie ist die Lichterbin!"
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