12-"Es wird keine Gerechtigkeit geben."
„[...]Bevor die heldenhafte Kriegerin mit ihrem Tod zur Göttin wurde, bewunderten bereits die Elfen auf der Erde Eribs herausragende und niemals fehlende Gerechtigkeit. Man hatte von ihren Taten gehört und wollte sie mit einem einzigartigen Andenken belohnen.
So wurde sie vor den Spiegel der Götter gerufen und die Elfen ließen ihre Magie ein letztes Mal in das Wasser fließen, als Erib hinein stieg. Doch die alte Macht war zu viel für die menschliche Frau, verschlang sie in den ersten Sekunden, da sie mit ihr in Berührung kam. Sie strampelte und wehrte sich, doch ihr Schicksal war besiegelt. Allein ein einziger Tropfen sprang auf ihre Schildmaid über.
Während Erib mit ihrem Tod in die Göttlichkeit gesandt wurde, erlangte die junge Frau nur einen Bruchteil der alten Macht [...]"
-(Aus "Alte Magie in den Sagen der Götter; Eribs Buch". S. 272)
✥✥✥
Unruhig marschierte ich vor der Zimmertür auf und ab.
Es war beinahe schon endlos ruhig da drinnen. Ich traute mich noch nicht einmal, zu klopfen.
Eine seltene Krankheit, hatte Theenan gesagt. Sie machte seine Schwester müde und schwach, bis sie kaum noch die Augen offenhalten konnte. In den letzten Wochen war sie deutlich schlimmer geworden.
Immer länger hatte er sich in ihr Zimmer zurückgezogen, hatte an ihrer Bettseite gewacht und ihr vorgelesen aus der Buchtruhe ihrer Mutter.
Heute Mittag hatte eine Magd mich informiert, dass es Lady Viera schlechter ginge und man wieder den Heiler gerufen habe. Seitdem patrouillierte ich den Flur, als erwarte ich die Ankunft meines Bruders. Dabei fühlte ich mich miserabel. Der König hatte schon einmal angedroht dem Mädchen die nötige Hilfe zu verweigern, hielt Theenan sich nicht an die aufgestellten Regeln. Ein wirkungsvolles Druckmittel, wenn man den jungen Mann kannte, und was das mit ihm machte trieb mir die Galle in den Mund.
Eine lautlose Bewegung nahe den Fenstern ließ mich innehalten. Mit einer halben Umdrehung sank mein Herz in die Magengegend.
Ravn. Von allen Menschen kam ausgerechnet er hier her.
Er lehnte halbverdeckt im Schatten an einer der hohen Marmorsäulen und beobachtete mich unter gesenkten Lidern hinweg. Er sah schrecklich aus. Sein ganzes Gesicht war von aufgeplatzten Wunden, Schwellungen und blauen Verfärbungen entstellt. Die rissigen Lippen hatte er zu einer schmalen Linie zusammengepresst und die Arme schützend vorm Oberkörper verschränkt. Es waren die Überbleibsel seines letzten Gesprächs mit Kaelchon, als wir endlich aus dem Wald zurückgekommen waren.
Ich hatte versucht, es zu verhindern. Ich hatte den König angefleht, Gnade walten zu lassen, doch seine Forderung war entschieden gewesen: Ich sollte den richtigen Rake zurückbringen. Den Soldaten. Den menschenverachtenden Folterknecht meines Freundes. Doch der war fort. Der Zeitfluch hatte einen Rake zurückgebracht, der in seiner Kindheit Liebe erfahren hatte. Nichts konnte das mehr ändern.
Meine Augen fanden Ravns Hände. Sie waren noch schlimmer ramponiert, als sein Gesicht und ließen nur erahnen, was sie Rakes Körper angetan hatten. Der Versuch des Königs, Verstand in den Jungen prügeln zu lassen. Ravn hatte keine Wahl gehabt. Und niemand hatte Rake seither gesehen.
Als hätte er den Blick gespürt, schob Ravn die Arme hinter den Rücken und starrte an mir vorbei zur Tür. Er war nicht wegen mir, sondern für Theenan hier.
Seine verachtende Haltung und das andauernde Schweigen der letzten Wochen versetzte mir einen Stich.
„Wirklich? Du stehst ernsthaft sechs Schritte von mir entfernt und redest nicht mit mir?" Ich wollte gehässig klingen, doch das gelang mir nicht. Der Entzug all meiner Freunde hatte mich müde gemacht. Selbst Minx hatten sie eingesperrt und in eine lebendige Lampe verwandelt.
Auch jetzt schwieg Ravn beharrlich, als wäre ich kaum mehr als eine lästige Erscheinung, die verschwinden würde, wenn man ihr nur keine Aufmerksamkeit schenkte.
Das war alles meine Schuld. Ich hatte sie alle dort mit hineingezogen.
Unbewusst strich mein Daumen über die Brandnarbe an meinem linken Handgelenk. Es war das perfekte Gegenstück zu dem an meinem rechten, nur eben noch rot und leicht angeschwollen. Die Erinnerung an die Schmerzen des heißen Eisens auf meiner Haut drohten selbst jetzt noch die Tränen überquellen zu lassen.
Doch Ravns Abweisung, manchmal durch aktive Ignoranz, manchmal durch sein offensichtlich neu entflammtes Interesse an Marijan, war so viel schlimmer gewesen. Obwohl ich mir schon lange eingestanden hatte, dass zwischen ihm und mir alles verloren war, die Finalität dieses neuen Zustands war noch einmal eine ganz neue Wunde.
Mit einem Rumsen flog die Zimmertür auf und prallte lautstark von der Wand ab. Ich zuckte zusammen, wischte jedoch alle düsteren Gedanken fort, als Theenan über die Türschwelle marschierte.
Seine Augen waren rot gerahmt und glitzerten verdächtig. Die Spitze der Narbe kräuselte sich.
Ein hastiger Blick hinter ihn, ließen meine Innereien schwer wie Blei werden.
Jemand hatte das weiße Bettlaken über das Gesicht der Prinzessin gezogen. Wie eine schattige Zeichnung sah ich noch immer die Ähnlichkeit der Gesichtszüge zu denen ihres Bruders. Ein Bild, das sich wie Säure durch meine Nervenbahnen brannte.
„Theenan?" Meine Stimme betrog mich um ganze zwei Oktaven und einen heiseren Ausdruck. Mitleid erstickte mich, ehe ich mich zu meinem Freund umdrehte, der inzwischen das Ende des Flurs erreicht hatte. Er war bereit für einen Mord und es war nicht schwer, zu erkennen, nach wem ihm der Sinn stand.
Ravn reagierte schneller als ich. Noch ehe ich mich aus der Schockstarre gelöst hatte, hatte er schon zu seinem Schwertbruder aufgeschlossen und hielt in an der Schulter zurück. Eine Aura der ruhigen Entschlossenheit strahlte von ihm ab, doch sie fand nicht jeden.
„Fass mich nicht an." Es war mehr das Fauchen eines verzweifelten Tieres, als ein richtiger Satz- ganz anders als ich den immer gefassten Theenan kannte. Er war fahrig, wusste weder wohin mit seinen Händen, noch mit seinen Augen. Er leitete den Schmerz in eine einzige Richtung.
„Tu es nicht." Ravn nahm weder seine Hand fort, noch unterbrach er den Blickkontakt mit dem aufgebrachten jungen Mann. Irrlichtgleiches Grün, traf tiefes Blau. Stattdessen beschwor er ihn stumm, Verstand walten zu lassen. Er wirkte so viel erwachsener und so über die Situation erhaben. Warum redete er nicht auch mit mir?
„Ravn hat recht", sprang ich ihm zur Seite, die Röcke mit beiden Händen gerafft, „Wenn du jetzt in den Thronsaal rennst, ist das Selbstmord!"
Ravn warf mir einen kurzen messenden Blick zu, doch meine Aufmerksamkeit galt allein dem inzwischen tränenüberströmten Jungen vor mir. Wenn ich Lewi verlieren würde... ich wollte mir nicht ausmalen, wie es ihm im Moment ging.
„Dann bin ich endlich frei", entgegnete er atemlos. Die Verzweiflung und die übermächtige Trauer zerrten an seiner Kraft, eine kompromisslose Miene zu wahren.
Ich erinnerte mich an unser erstes Treffen im Wald. Warum er mir den See gezeigt hatte.
„Und wo bleibt da die Gerechtigkeit?" Obwohl Ravn leise sprach, verlor er nichts an seiner Eindringlichkeit. Er war entschlossen Theenan zu retten.
Nicht den König.
Seine wahre Loyalität machte ihm alle Ehre.
„Es wird keine Gerechtigkeit geben", fuhr Theenan ihn an und schüttelte die Hand ab, „Sie war unsere letzte Chance, doch der See ist trockengelegt und so auch ihre Kräfte!"
Anklagend deutete er auf mich und auf den ganzen Raum, als erwarte er, dass Kaelchon mithören würde.
Ravn schluckte. Er war es gewesen, der dem König verraten hatte, woher mein Talent stammte. Keinen Tag hatte es gedauert und der Teich war aus dem Wald verschwunden. Doch da ich bezweifelte, dass es freiwillig geschehen war, schwieg ich.
Theenan hatte in diesem Punkt recht. Das Wasser war fort und ich genauso nutzlos, wie bei meiner Ankunft. Nur, dass der König inzwischen feste Pläne entwickelte, wie ich zur Beseitigung aller Genträger beitragen konnte.
Wenn ich nicht von hier fortkommen würde, gäbe es auch für mich keinen anderen Weg, um meine Leute zu schützen. Aber ich war noch nicht bereit. Im Gegensatz zu Theenan.
„Es war nicht unsere letzte Chance." Ravn schüttelte entschieden den Kopf. „Dafür haben wir dich. Du bist derjenige, der die Idee hatte Lyas Talent zu nutzen, um uns alle von diesem Ort zu befreien, du wirst auch einen Plan finden, wie wir es ohne schaffen." Er gab sich alle Mühe überzeugt zu klingen und als Theenan kaum reagierte, fügte er noch hinzu: „Zeig ihr das Buch, das du gestern gefunden hast."
Für einen kurzen Moment konnte ich nicht folgen. Theenan hatte doch etwas zu meiner Verbindung mit dem Spiegel der Seelen entdeckt? Warum hatte er das erst mit Ravn geteilt und nicht mit mir? Und auch wenn ich immer irgendwo vermutet hatte, dass er mich für meine vermeintliche Begabung nutzte, hatte ich nie erwogen, dass Ravn genauso in die Sache involviert wäre.
Theenan zögerte. Die Herzschläge verstrichen, während er seinen Selbstmordplan gegen Ravns Vorschlag abwog, getrieben von der eigenen Verzweiflung und dem Verlust.
Zum Schluss sah er noch einmal zum Zimmer seiner Schwester zurück und nickte endlich.
Ich atmete erlöst auf. Die kleine Welle der Erleichterung verfolgte mich auf dem Weg in seine Gemächer, die nur ein Stockwerk oberhalb lagen. Das Schlimmste war vorerst abgewendet und meine Neugierde wuchs mit jedem Schritt.
Das Buch von dem Ravn gesprochen hatte, stand gut versteckt umgeben von vielen anderen Büchern mitten in einem riesigen Regal. Tatsächlich hielt dieser Raum mehr Lektüren, als mein Turmzimmer Kissen hatte. Sie stapelten sich in gemütlicher Unordnung auf einem breiten Schreibtisch, zwischen Tintenfässern und Sternenkarten, neben seinem Bett und auf einem Sessel vor den hohen Fenstern. Jeder noch so kleine Fleck war von ihnen in Anspruch genommen.
Die Vorstellung, dass sein Zimmer, wie jedes andere auch, einmal am Tag aufgeräumt wurde, machte das Chaos nur noch sympathischer. Allerdings bestimmt nicht für die Kammerdiener.
Zielsicher griff Theenan nach dem breiten ledernen Rücken und zog einen riesigen Wälzer heraus, mit dem er sich auf die Bettkante fallen ließ.
Ravn suchte sich seinen Lieblingsort nahe einem Fenster und ich schloss ein wenig beklommen die Tür hinter mir.
Es brauchte nicht lange, bis die richtige Stelle gefunden war und ich das Buch in die Hände gedrückt bekam. Beide Jungen sahen mich erwartungsvoll an.
War es was Gutes oder musste ich mir Sorgen machen?
Unsicher senkte ich den Blick auf die eng beschriebenen Seiten. Es war eine historische Schrift über alte Magie und wo sie in den Göttersagen zu finden waren. Nichts, was ich in der Bibliothek des Königs erwartet hätte.
„Wo hast du das her?"
Theenan zuckte mit den Achseln. „Ich habe für Viera in der Truhe meiner Mutter nach Lesestoff gesucht. Ich hätte es mir denken können dort auch illegale Schriften zu entdecken. Alte Magie hat sie immer fasziniert." Seine eigenen Worte drohten ihn zu ersticken. Er kämpfte so stark mit ihnen, dass ich mich wieder der Lektüre zuwandte.
„[...]während Erib mit ihrem Tod in die Göttlichkeit gesandt wurde, erlangte die junge Frau nur einen Bruchteil der alten Magie. Genau jene Magie, die auch die Elfen für ihr langes Leben und die anhaltende Jugend nutzten. Sollte sie mit dem Wasser der heiligen Seen in Verbindung kommen, so erlaubte es ihr, die Zeit in jede Richtung zu drehen, die sie sich wünschte. Einzige Bedingung, die die Elfen stellten: Die Gabe dürfe nur für einen selbstlosen Zweck eingesetzt werden, sonst würde sie schwächer.
Die Schildmaid tat wie geheißen. Für manche änderte sie nur Sekunden. Andere schickte sie mit dem ganzen Körper vor oder zurück im Verlauf ihres Lebens, wohl wissend wie die unbewegten Einflüsse der Umgebung sie veränderten.
Nur sich selbst überließ sie dem gewohnten Gang der Zeit, bis es endlich daran war einen würdigen Nachfolger zu finden. Sie übertrug ihre Macht an einen kleinen Jungen, der viele Jahre später zu Kronotes- dem Gott der Zeit heranwachsen würde.
Über Jahrhunderte lebten die Beschenkten nacheinander auf unserer Erde. Man nannte sie auch die Erben des Lichtes, da das Wasser zwischen ihren Fingern leuchtete wie die Sterne und die Sonne. Doch wie jede andere Figur aus den Mythen und Sagen, verschwanden sie irgendwann im Faltenwurf der Geschichte. Ihr Aussterben nahm die letzte menschliche Verbindung zur alten Magie mit sich."
Ich blickte auf. Ravn war aus dem Raum verschwunden, ohne dass ich es bemerkt hatte, aber Theenan saß immer noch auf seinem Bett und sah mich aus müden Augen an. Die Tränen hatten salzige Spuren auf seiner Haut hinterlassen und erinnerten mich daran, wovor auch ich mich so unglaublich fürchtete. Familie verlieren.
Als wäre ihm mein Schweigen unangenehm, räusperte er sich und nahm mir das Buch vorsichtig ab. „Es ist nur eine Legende, aber sie klingt doch sehr ... verdächtig, findest du nicht?"
Da hatte er recht. Unter anderen Umständen hätte ich über die Existenz solcher Lichterben gelacht. Schließlich gab es auch Mythen über die Entstehung von Nebelflüsterer und die glaubte ich genauso wenig. Aber die Details passten zu gut. Fast, als hätte jemand die Sage nur für mich geschrieben.
„Aber wenn diese Gabe nicht genetisch vererbt, sondern weiter gegeben wird ...", ich stockte, weil der Gedanke mich überforderte, „Wer bei allen Göttern hat sich gedacht, dass ausgerechnet ich ein super würdiger Träger für so eine Waffe wäre?"
Darauf hatte Theenan auch keine Antwort. Darauf hätte niemand eine Antwort gehabt, der mich kannte.
Nachdem ich ihm hundert Mal anbot den Abend bei ihm zu bleiben, damit er nicht allein mit seiner Trauer war, rang ich ihm irgendwann stattdessen das Versprechen ab, zumindest mit den dummen Plänen bis morgen zu warten.
Das Buch unter den Arm geklemmt, kletterte ich die Stufen zu meinem Turmzimmer hinauf und war derartig in Gedanken versunken, dass ich die minimale Veränderung in dem Raum erst bemerkte, als ich die Tür sorgsam hinter mit verschlossen hatte.
Eine kleine Phiole mit einem vergoldeten Korken lag auf dem Kissen und schimmerte sacht im Kerzenlicht. Jemand hatte sie an einer Kette befestigt, die mich unweigerlich an das Schmuckstück meiner Mutter erinnerte, und einen versiegelten Brief danebengelegt.
Auch ohne ihn zu öffnen, wusste ich, wer ihn geschrieben hatte.
Das verschlimmerte allerdings mein Herzpochen nur noch mehr, als ich mit zittrigen Fingern danach griff und das rote Siegel brach.
Meine Augen flogen über den Text, doch nur ein Abschnitt brannte sich in meine Netzhaut ein.
„Wie du sicher weißt, wünscht der König meine Bindung zu Marijan. Sollte er uns noch einmal zusammen sehen, werden die Folgen für dich schrecklich sein. So sehr ich es mir auch einrede, ich liebe Marijan nicht. Mein Herz ist bereits vergeben und ich will es schützen. Keinen anderen Grund gibt es für mein Schweigen. In dem Anhänger ist das letzte Seewasser, es schenkt dir und Theenan die Freiheit. So sehr ich wünsche ich könnte mit euch gehen und ein Leben lang wiedergutmachen, was ich dir angetan habe, wissen wir beide, dass ich dem König nie entkomme. Deshalb flehe ich dich an: Geh und rette Theenan das Leben."
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"Voted, und ich schreibe auch euch kleine Liebesbriefe."- Ravn
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