4- "Ich glaube du brauchst eine Brille"
„Es ist nicht bekannt, warum sie entstehen, auch wenn es unterschiedliche Theorien über ihre Verknüpfung mit der Mond-Konstellation, dem Schlafrhythmus der Wetter-Nymphen oder der durchschnittlichen Dicke von Kieselsteinen gibt. Keine davon belegt. Fakt ist, dass Nebelflüsterer scheinbar wahllos in einem Hundert-Jahres-Abstand hervortreten. Eine Zusammenkunft und die daraus resultierende Macht fand nur zu zwei historischen Zeitpunkten statt, weswegen die Überlieferungen von diesen Ereignissen noch schwammiger als die Kieselstein-Theorien sind [...]"
(Professor Samun Hunt, Über Magische Lebewesen. S. 342)
✥✥✥
Zu den Schlafsälen gelangte man, indem man eine der wackeligen grauhölzernen Treppen hinauf stolperte, sich nicht am Geländer festhielt und damit wieder herunterstürzte, oben unter dem Speicher ratlos vor den Türen stehen blieb und wartete, bis Maze per Zufall sich ebenfalls hoch quälte.
Zumindest war das meine Herangehensweise und sie funktionierte.
„Brauchst du Hilfe? Links ist das Mädchenzimmer, rechts das der Jungen. Unten gibt es noch zwei Säle, falls dir das lieber ist", erklärte der Sucher, kaum da er den Absatz erreicht hatte. Mit den Fingern fuhr er sich durch die dunklen Locken, die ihm vor Anstrengung vom Kopf abstanden. Die Wandleuchter hoben seine hohen Wangenknochen ein bisschen mehr hervor und zeichneten bewegliche Schatten auf sein Kinn. Er sah müde aus. Auf eine unfair hübsche weise.
Unwillkürlich dachte ich an Amilas Reaktion zurück. Hatte sie recht, dass Maze sich keine Gedanken über Vorfälle wie diesen Mittag machte? Selbst in seinem verstrubbelten Zustand sah er makellos aus. Beunruhigend.
„Und niemand hat Sorge, dass ihr euch nachts heimlich herüber stehlen könntet?", fragte ich und wandte mich an die linke Tür. Die Müdigkeit klammerte sich mit bleiernen Gewichten an meine Knochen und ich wollte nichts lieber, als in ein Bett fallen. Aber wer konnte schlafen, wenn es so viele Fragen gab. Über diesen Nyam und die Nebelflüsterer. Hingen sie zusammen? Und vor allem: Was würde ich Garcy sagen?
Aber Mazes Grinsen war ansteckend.
„Ich versteh, warum du denkst, dass ich in Gefahr wäre. Nachts hält Miss Kent Wache", er nickte zu einem verlassenen Ledersessel am Ende des Flurs, „Und der willst du nicht im Dunkeln begegnen." Die Hände demonstrativ zu Klauen verkrümmt, fletschte er die Zähne und kehrte mindestens genauso schnell wieder zu seinem spitzbübischen Ausdruck zurück, als die unterste Treppenstufe verdächtig knarrte.
Aber wir blieben alleine. Er wurde ernster.
„Was du heute geschafft hast..."
Ich hob die Hand. „Schon gut, das hätte jeder anständige Mensch getan."
Er hatte geholfen Garcy zu befreien und nichts in dieser Welt würde mich das vergessen lassen.
Doch Maze ließ sich nicht abwimmeln.
„Ich glaube, Sir Kenrik hat unrecht. Du hast das Talent zu kämpfen, wenn dich jemand trainiert. Ich könnte es versuchen."
Und im Prozess versehentlich noch mehr Leute in Stücke reißen? Nein danke. Dieses Talent würde ungeschärft bleiben, wie ein Trainingsschwert.
Mit einem müden Lachen drückte ich die Türklinke herunter. Garcy würde keine Sekunde hierbleiben, sobald sie erfuhr, dass die Rebellen auf dem Weg hierher waren.
„Hast du bereits vergessen, wer heute wen gerettet hat? Wenn du höflich fragst, dann trainiere ich vielleicht dich."
Der Kerl warf seinen Kopf zurück vor Lachen.
„Ich bin einer der besten Sucher dieses Landes mit einer langjährigen Ausbildung", hielt er dagegen, „Wenn du es dir anders überlegst...", und damit war er im Jungenschlafsaal verschwunden.
Ich öffnete die andere Tür.
Amila saß mit meiner Schwester auf einem Bett und flocht ihr die Haare. Perfekte weiße Zöpfe lagen in ihren Händen, die innehielten, als die Tür hinter mir schloss. Falls sie sich freute, mich zu sehen, ließ sie sich nichts anmerken.
„Die Bezwingerin des königlichen Heroldes und der Laubkultur. Hattest du Angst?"
Bitte was?
„Hatte sie nicht", antwortete Garcy kleinlaut, „Sie wusste nicht einmal, dass er es war."
Es war merkwürdig sie mit gekreuzten Beinen entspannt bei einer Fremden in schwarzer Lederjacke sitzen zu sehen. Ihre Wangen hatten eine rosige Farbe angenommen und leuchteten mit ihren Augen um die Wette.
Ich dagegen ließ mich absolut unelegant auf das gegenüberstehende Bett fallen und streckte alle viere von mir. Wir hatten heute jede Menge im Wald gesehen. Ein Herold war mir per se nicht aufgefallen.
Amila trug von unserem Ausflug keinerlei Müdigkeit davon.
„Du hast nicht gewusst, dass Nyam der Herold des Königs ist? Habt ihr unter einem Stein gelebt?"
In einem Steinhaufen, um genau zu sein. Aber das sagte ich ihr nicht. Es war peinlich genug, vor Sir Kenrik zuzugeben, dass ich mit 16 immer noch keine Bildung hatte.
„Herolde des Königs kamen nicht jeden Tag in unserer Stadt vorbei."
„Ihr hattet keine Schule?" Sie glaubte mir nicht.
„Nein, leider nicht." Mir war allerdings aufgefallen, dass der Herold des Königs jemanden suchte, den er in Elayns Nähe erwartet hätte. Aber warum?
Amila hatte diesen Teil unseres Ausflugs wieder verdrängt.
„Das macht nichts. Sobald sie die ersten Nebelflüsterer gefunden haben, wird sich hier alles beruhigen. Den meisten von den Amöbenhirnen bist du schon voraus."
„Wenn du Flöhe in meinem Bett verteilst, kaufst du mir ein neues Kissen. Und ich bezweifle, dass du dafür das Geld hast."
Niemand hatte Sidra eintreten hören. Sie stand vor der Tür, die Arme vor ihrer Brust verschränkt und starrte mich an, als wolle sie meinen Kopf explodieren lassen.
Ich wollte ihr die Zunge herausstrecken, doch ein einziger düsterer Blick Amilas, bewegte mich dazu aufzustehen. Kein Streit. Nicht jetzt.
„Tut mir leid, ich wusste nicht, dass das dein Bett war", überging ich den Flohkommentar und versuchte es stattdessen mit einem Lächeln.
Sidra schlenderte zu mir herüber und knallte mir das Kissen in den Bauch „Wenn wir bei mir zuhause wären, hätte ich dich für diese Dreistigkeit auspeitschen lassen", erwiderte sie kühl, „Los! Besorg mir ein Neues."
Ich... was?
Ganz langsam schlossen sich meine Finger um den weichen Stoff. In meinem Rücken wurde Garcy immer kleiner, als versuche sie, Eins mit der Decke und der Wand im Hintergrund zu werden. Sidra machte ihr Angst. Und Garcy hatte in ihrem Leben mehr als genug Angst erlebt.
Ich gab dem rothaarigen Gift ihr Kissen zurück.
„Zu schade für dich, dass wir nicht bei dir zuhause sind. Wenn du ein neues Kissen willst, wirst du es dir selber holen."
Sidras Augen verengten sich zu Schlitzen. Ihre langen Fingernägel gruben sich in das weiße Leinen und rissen Löcher hinein, aus denen sofort winzige Federn zu Boden rieselten.
Als sie ihr Missgeschick bemerkte, verwandelte sich ihr Ausdruck in eine Maske absoluter Bosheit.
„Oh nein, sieh, was du getan hast", säuselte sie, „Diese Kissen haben Sir Kenrik ein Vermögen gekostet. Er wird nicht erfreut sein, wenn er hiervon hört."
War das ihr Ernst? Panik machte sich ein meiner Brust breit.
„Warum machst du es dann kaputt?" Es gab kein Szenario, in dem ich die Schuld hierfür übernehmen würde. Primwood Hall war ohnehin knapp bei Kasse und meine Anwesenheit war ein weiterer schwerer Stein an ihrer Fußfessel. Ich würde meinen Platz hier nicht riskieren, wegen...
„Oh, Amila hat es auch gesehen, nicht wahr?" Der Rotschopf fixierte Garcys neue Freundin mit ihren katzenhaften Augen und die knirschte mit den Zähnen. In scheinbaren Schmerzen verzog sie das Gesicht und ließ Garcys Zöpfe los.
Was war los? Erpresste Sidra ihre Mitschüler?
„Amila", wiederholte sie ihre unmissverständliche Drohung.
Ratsch. Noch ein Loch. Das Grinsen verwandelte sich in eine Maske, die es mir kalt den Rücken herunterlaufen ließ.
Die Angesprochene wandte sich ab, doch Sidra wertete das als einen Erfolg.
Mit einem gehässigen Lächeln drückte sie mir das Kissen wieder in die Arme.
„Wenn ich von Maze zurückkomme, will ich mein Bett tadellos vorfinden, oder wir beide sprechen heute Abend den Schulleiter über deine Dankbarkeit für unsere Gastfreundschaft."
Und noch bevor mein Unterkiefer auf dem Boden aufklatschte, hatte sie das Zimmer verlassen.
Ich brauchte eine Sekunde, um mich zu sammeln. Was... warum...?
„Habt ihr das gehört?", drehte ich mich zu den anderen zwei Mädchen um.
Garcy sah aus, als wolle sie gleichzeitig weinen oder lieber doch nicht. Sie war in ein winziges, mageres Häufchen Elend zusammengeschrumpft, das aus nichts mehr, als ihrer dunklen Haut und weißen Haaren bestand.
Amila dagegen brodelte vor Wut.
„Tut mir leid. Sidra ist..., setzte sie an, die Hände zu Fäusten geballt, „Kenrik soll sie gehen lassen und uns alle erlösen. Und wenn sie Maze mitnimmt, umso besser."
Mit einem Seufzen ließ ich mich neben sie auf die Bettkante fallen.
„Nichts passiert. Garcy hat alles gesehen und kann es im Zweifelsfall Sir Ke-..."
„Ich möchte nicht." Die hohe Stimme meiner Schwester wurde durch den Stoff ihres Pullis abgedämpft, in den sie sich zurückgezogen hatte.
„Ich will nicht in andere Köpfe." Es war ein Flehen, dem ich mich nicht verschließen konnte.
Ich seufzte.
„Schon gut, schon gut." Ich legte einen Arm um Garcy und zog sie an meinen Körper. „Ich werde meine Kissen nehmen."
Was auch immer Sidra über Amilas Kopf hielt, es war kein Kissen wert.
„Du bist zu nett, Gwinn", teile Amila mir mit, mich fixierend, als wäre ich Beute, „Sie wird dich kauen und wieder ausspucken, wenn du weiter versuchst, freundlich zu sein."
Sie war nicht die Erste, die mir sowas sagte.
Mein Blick schweifte über die knapp zwanzig Betten, die hier oben verteilt standen. Alle verweist, weil es Abendessen gab.
„Erzählt mir lieber, was es mit diesen Nebelflüsterern auf sich hat, von denen jeder redet."
Amilas Gesicht kehrte zu ihrem passiv- gelangweilten Ausdruck zurück, der jedes Wort in einen Graubereich zwischen blutigem Ernst und schwarzem Sarkasmus brachte.
„Es sind immer drei von ihnen. Der Zweigesichtige, der Wissende und der Illusionist. Genträger, die mithilfe von alter Magie in etwas anderes verwandelt werden. Sie sind selten. Meistens verwandeln sich nicht einmal zwei im selben Jahrhundert, aber anscheinend deuten alle Prophezeiungen darauf hin, dass dieses Mal gleich alle drei zu Kräften kommen."
„Und was wollen wir mit ihnen? Die Welt retten?" Ich steckte sichtliche Anstrengung hinein, nicht in Garcys Richtung zu sehen. Allein dieses Thema setzte sie spürbar unter Stress und sie sandte unabsichtlich Bilder durch meinen Kopf. Von unserem zerstörten Haus und den Reitern. Sowie einer großen Wiese und eine Höhle am Bach, von den ich zu spät bemerkte, dass es sich hierbei um eine Wunschvorstellung von Sicherheit handelte.
„Nebelflüsterer wenden selbst keine Gewalt an, oder zumindest nur der Zweigesichtige. Sie sind unbrauchbar. Aber in den Aufzeichnungen steht, dass alle drei zusammen eine mächtige Waffe formen und natürlich hätte jede Seite gerne dieses Schwert."
Obwohl sie sprach, als rezitiere sie ein Geschichtsbuch, saugte ich ihr Wissen auf, wie ein Schwamm.
„Hat man denn schon einen gefunden?"
Amila schüttelte den Kopf und einer ihrer silbernen Stacheln fiel zu Boden. Sie fischte ihn wieder hoch und steckte ihn durch einen anderen Zopf.
„Nein. Obwohl es nicht zu schwer sein sollte, wenn sie erst einmal ihre Kräfte nutzen. Solche magischen Schwingungen müssten überall über das Land aufzufangen sein. Quasi wie ein Erdbeben."
Wie zum Beispiel Garcy.
Dieses Mal sah ich doch zu meiner Schwester und Amila folgte meinem Blick.
„Garcy könnte die Wissende sein", setzte sie meine Gedanken zusammen und mit einem Mal waren wieder alle hellwach, „Garcy kann in andere Köpfe sehen. Wenn sie nicht viel weiß, wer dann?"
„Das ist unmöglich", versuchte ich, meine Schwester zu verteidigen, obwohl mir derselbe Gedanke gekommen war. Garcy durfte nicht die Wissende sein.
Blanke Panik flirrte durch meine Berührungsstelle mit meiner Schwester.
Amila erspürte die Stimmungsschwankung ebenfalls, war jedoch unfähig es nicht noch schlimmer zu machen.
„Sie werden dich mitnehmen... und von Gwinn trennen."
Danke.
Es war wie ein Schlag in den Magen. Das durften sie nicht tun! Garcy war alles, was ich hatte. Meine Familie!
Ihre filigranen Hände krallten sich in meinen Ärmel, als könne sie mit purer Gewalt verhindern, was die Zukunft für uns auslegte.
„Lass sie mich nicht holen. Lass uns heimgehen, Gwinn", flüsterte sie, wiederholte ihre Worte wie eine Beschwörung. Wir waren nie wirklich getrennt gewesen. Und keiner von uns wollte jetzt damit anfangen.
Aber wir konnten nicht nach Hause. Das existierte nicht mehr.
Amila fing meinen Blick auf und presste die Lippen aufeinander.
„Die Abgesandten der Rebellen können nur die testen, die auch anwesend sind..."
„Aber eure Pendel würden uns problemlos wiederfinden."
Beunruhigend langsam verzog sich Amilas Gesicht, bis ich schließlich ein böses Grinsen erkannte.
„Nicht, wenn ihr so nahe bei anderen magisch Begabten seid, die die Werte verzerren. Wie zum Beispiel ein Versteck im Wald?"
Sie nickte sich selbst zu.
„Wir gehen morgen los und suchen eines. Garcy kann sich dort in Sicherheit bringen, bis alle wieder weg sind und-..."
„Wir haben nur ein Problem. Sir Kenrik hat heute Maze als Torwache abgestellt", fiel ich ihr ins Wort. Nervös kaute ich auf meiner Unterlippe herum, auf der verzweifelten Suche nach einer Lösung. Ich wollte nicht in Schwierigkeiten kommen. Und ich wollte auch keine machen, aber-...
Ich hatte eine Idee. Sie war fürchterlich, aber unsere einzige Chance.
„Jemand muss ihn lang genug ablenken."
✥✥✥
"Wir betteln nicht für Votes! Wir erinnern freundlich, dass es da noch so einen Stern gibt. Und wir magische Kräfte haben, die jeden nachts in seinem Bett aufspüren können."- Gwinn & Amila, wenn sie nicht von Imrie beaufsichtigt werden
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro