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Unerkannt querten sie die Grenze zu Rabenstein, abseits vom Weg und doch nah genug, auf dass ihnen dort nichts entging. Die Auswirkungen der Geschehnisse machten sich bereits bemerkbar – unruhig wirkten die auf den Mauern der Kaserne postierten Soldaten, weitaus mehr Blicke waren gen Rabenstein gerichtet denn auf die zu bewachende Grenze.
Abseits dessen war es beunruhigend still im Fürstentum. Hatte Maro in Gedanken ganze Züge von Flüchtenden erwartet, musste er feststellen, dass die Wege zwischen den kleinen Dörfern, sonst von reisenden Händlern, Tagelöhnern und beladenen Fuhrwerken bevölkert, wie ausgestorben dalagen.
Auch in den kleinen Dörfern regte sich kaum etwas, als hätte ein jeder den Schutz seines Heims aufgesucht. Dabei gab es auf den umliegenden Feldern wahrlich genug zu tun, galt es doch gerade im Spätfrühling, die Saat fortwährend von Unkraut zu befreien.
Viel zu langsam kamen sie voran, mindestens ein Tagesmarsch lag noch vor ihnen, bevor sie Burg Rabenstein erreichen würden. Es wurmte Maro, dass er sich Erhardts und Tankreds Geschwindigkeit anpassen musste, ganz zu schweigen davon, wie viel lieber er die Folgen seines Fehlers allein in Augenschein genommen hätte.
Und wenn denn seine schlimmsten Befürchtungen Wahrheit werden sollten, würde der Jäger die Männer an seiner Seite vielleicht nicht schützen können.
Wie schon in den Tagen zuvor zermarterte er sich den Kopf, suchte sich in Erinnerung zu rufen, was er über die Seelensteine in Erfahrung gebracht hatte. Doch wie genau sich das Unheil zeigte, demjenigen drohend, der die Macht nicht ordnungsgemäß erweckte, war nirgendwo in Worte gefasst worden.
Die große Mutter allein wusste wohl, ob das Zeichen am Himmel Erfolg oder Vernichtung verkündet hatte.
Als die Männer inmitten eines Buchenhains rasteten und sich an den Wassern des dort munter dahinplätschernden Baches erfrischten, kam Maro jedoch ein Gedanke, wie er sich bereits im Voraus ein wenig Klarheit verschaffen könnte.
„Vielleicht sollten wir in einem der Dörfer erfragen, was geschehen ist und warum sie sich verstecken", schlug er Tankred und Erhardt vor, in diesem Augenblick froh, dass Levin zurückgeblieben war. Er hätte die mühsam unterdrückte Unruhe des Jägers viel eher erspürt denn sein Bruder und der Hauptmann Ostfalls.
Letzterer nickte zustimmend. „Ein guter Plan. Du oder ich, Erhardt?"
Dass Maro diese Aufgabe nicht übernehmen konnte, lag auf der Hand. Unauffällig und möglichst vertrauenerweckend musste derjenige sein, dem die Dörfler ihr Herz ausschütten sollten, ein Jäger kam hier nicht in Frage.
„Mach du das", brummte Erhardt. „Du bist freundlicher als ich."
„Also gut", stimmte Tankred zu und zog schlichte Leinentracht aus seinem Bündel hervor. „Wir sollten allerdings einen Ort wählen, an dem keine Soldaten stationiert sind. Maro, vielleicht kannst du das kurz herausfinden?"
Der Jäger nickte und machte sich sogleich auf. Es war wohltuend, den angestauten Energien durch einen flotten Lauf ein wenig Befreiung zu gönnen. Lautlos schoss Maro durchs Unterholz, schneller, als seine Kameraden jemals hätten laufen können.
Nicht lang und der dichte Buchenwald längs des Weges wich ersten Feldern und Koppeln, dann erspähte der Jäger mit scharfem Blick Gehöfte und Stallungen inmitten eines kleinen, fruchtbaren Tals. Eine Kaserne hingegen war nicht auszumachen, dazu war die Siedlung zu klein und unbedeutend.
Eilig kehrte Maro um. Die Männer kamen ihm bereits entgegen, Tankred kaum wiederzuerkennen in bäuerlicher Tracht. Er hatte sein langes Haar gelöst, wirr hingen ihm die graublonden Strähnen ins hagere, verschmutzte Gesicht.
Fragend sah er dem Jäger aus rauchblauen Augen entgegen. „Keine Soldaten in Sicht", erwiderte dieser. „Kommt, es ist nicht weit."
Bevor sie ihr Ziel erreichten, trat Tankred allein auf den Weg hinaus und ließ seine Gefährten im Unterholz zurück. „Wir sind ganz in der Nähe und hauen dich raus, sollte es brenzlig werden", versprach Erhardt dem Hauptmann.
Auch Maro verspürte leise Sorge. Wer wusste schon, wie die sichtlich verängstigten Dörfler auf einen Fremden reagieren würden? Doch Tankred war ein kluger Mann und zudem nicht unbewaffnet unterwegs.
Schweigend folgten sie ihm, wagten sich so nah an den Waldrand heran, wie es nur ging, um ihn bestmöglich im Auge behalten zu können. Ein erschöpftes Humpeln imitierend passierte der Hauptmann den ersten Hof, deutliches Zeugnis seines wachen Verstandes.
Denn der Eingang war vom Wald her nicht einzusehen, anders als jener des nächsten Gehöfts, auf das Tankred nun zuhielt. Einen knappen Blick wechselte Maro mit Erhardt, nachdem sie beide einen Pfeil auf die Sehnen ihrer Bögen gelegt hatten und der Hauptmann beherzt an die Tür des Haupthauses klopfte.
Etliche Herzschläge verstrichen. Das Rauschen unzähliger Blätter im auffrischenden Wind, ab und an durchbrochen vom klagenden Ruf eines Rindes, war wie ein leises Flüstern von Düsternis und Bedrohung, dem sich Maro nicht erwehren konnte.
Gerade, als er die Spannung kaum noch ertrug, geriet die schwere Tür in Bewegung. Nur einen Spalt breit öffnete sie sich, Einlass schien man dem Hauptmann keinesfalls gewähren zu wollen. Doch obwohl er einen Schritt zurückwich, erkannte Maro zu seiner Erleichterung, dass in der Haltung des kampferprobten Mannes keinerlei auf Verteidigung ausgelegte Spannung lag.
Welche Worte er mit den offensichtlich furchtsam verbarrikadierten Menschen wechselte, konnte der Jäger, seinen scharfen Sinnen zum Trotz, hingegen nicht verstehen. Zunehmende Windböen fuhren durch den Wald, ließen erstes Astwerk brechen und die zurückgelassene Wäsche auf einer Leine gleich neben dem Hof wild flattern.
Allzu auskunftsfreudig waren die Dörfler wohl nicht, vielleicht gab es auch nicht viel zu berichten. Doch lang dauerte es nicht, da die Tür zurück ins Schloss fiel und Tankred, erneut schwerfällig humpelnd, weiter gen Westen strebte.
Schnell hatten Maro und Erhardt einen Bogen um das Dorf geschlagen und warteten nun am Wegrand auf den Hauptmann. Auszuharren, bis dieser die Siedlung endlich hinter sich gelassen hatte, kostete den Jäger größte Beherrschung.
Noch bevor er dem Herankommenden eine Frage stellen konnte, schüttelte Tankred den Kopf. „Sie wissen nichts, absolut gar nichts. Die Zeichen am Himmel hat jeder gesehen, doch Antworten darauf hat niemand." Mit einem Seufzen strich er sein Haar zurück, um es sorgsam am Hinterkopf zu binden.
„Verdammt!", entfuhr es Maro weitaus heftiger als gewollt. Seine Gefährten indes schenkten seinem Ausruf keine weitere Beachtung denn zustimmendes Nicken, auch sie wirkten mittlerweile auf eine Weise beunruhigt, die der Jäger nie zuvor an ihnen wahrgenommen hatte.
Lag es an Furcht und Hilflosigkeit der Menschen hier, den düsteren Wolken, die der Wind im Westen zusammentrieb, oder spürten auch sie jenes leise Unbehagen, das sich, zähem Nebel gleich, über ganz Rabenstein auszubreiten schien?
Obwohl es Maro innerlich schauderte, schlug er einen beherrschten Tonfall an. „Dann werden wir wohl weitersehen müssen."
„Das wäre ja auch zu einfach gewesen", knurrte Erhardt und sah zum Himmel auf. „Da scheint sich etwas zusammenzubrauen!"
Endlos schien es zu dauern, bis Tankred sich der Bauerntracht entledigt hatte und sie endlich wieder aufbrechen konnten. Einen gemäßigten Trab anzuschlagen fiel dem Jäger zunehmend schwer, im Stillen verfluchte er sowohl Erhardts Treue als auch das Pflichtbewusstsein des Hauptmannes.
Und auch das nächste Dorf schien keinerlei Antworten bereitzuhalten, die staubigen Wege lagen ebenfalls wie leergefegt da. Zwischen jungen Birken, Haseln und Holundersträuchern versteckt beobachteten die drei Männer vom Waldrand her das Treiben des knappen Dutzend an Soldaten, die ebenso ratlos und gleichzeitig alarmiert wirkten wie jene an der Grenze.
Gerade, als sich Maro abwenden wollte, gerieten die Männer auf dem Turm der winzigen Kaserne jedoch in offensichtliche Aufregung, was selbst Erhardt und Tankred mit ihrer weitaus schlechteren Sicht nicht entging.
„Was zum ...", brummte letzterer und reckte sich, doch vom Waldrand aus war nicht zu erkennen, was die Soldaten im Westen ausgemacht hatten.
„Wartet einen Moment", murmelte Maro und schwang sich in die größte der Birken hinauf. Ein gutes Stück musste der Jäger klettern, um die wuchtigen Äste einer uralten Buche zu erreichen, die sich weit über jedes andere Grün erhob. Höher und höher zog er sich hinauf, bis eine Lücke im wogenden Blattwerk freie Sicht gen Westen gewährte.
Augenblicklich fuhr ihm eiskalter Schreck in die Glieder – ein ganzer Zug an Soldaten marschierte dort auf das Dorf zu. Der von ihren Stiefeln aufgewirbelte und vom Wind sogleich verwehte Staub machte es Maro nicht leicht, ihre Zahl zu schätzen, doch an die einhundert Männer mussten es wohl sein.
Schneller noch, als er in die Höhe gestiegen war, ließ er sich geschickt von Ast zu Ast zurück gen Boden fallen. Dort empfingen ihn die angespannten Mienen seiner Gefährten, denen er sogleich Auskunft erteilte.
„Soldaten, etwa einhundert Männer", fasste Maro knapp zusammen.
„Zu wenige, einen Angriff auf Ostfall zu starten", stellte Tankred mit gerunzelter Stirn fest. „Aber zu viele, als dass man sich nicht wundern müsste!"
Die Einschätzung des Hauptmanns erleichterte den Jäger ein wenig, zudem nahm eine Idee langsam Gestalt an. „Das könnte unsere Gelegenheit sein. Wer aus Rabenstein kommt, sollte mehr über die Geschehnisse wissen. Wenn wir nur einen von ihnen in die Finger bekommen könnten ..."
Erhardt brummte zustimmend und auch Tankred nickte, während sie alle verfolgten, wie der Trupp nun die Ortschaft erreichte. Vor der Kaserne machte er Halt, empfangen von den dort Wachthabenden, die sich stramm aufgereiht hatten und achtungsvoll die Köpfe senkten.
Einige auf die Entfernung auch für Maro unverständliche Worte wurden gewechselt, dann verschwanden die Soldaten in der Kaserne, gefolgt von einer gleichen Anzahl der Neuankömmlinge.
Die Truppe indes setzte sich erneut in Bewegung und passierte das Dorf. Aus der Kaserne hingegen traten wenig später einige Männer, beladen mit schlichtem Gepäck, um sich in entgegengesetzte Richtung zu wenden.
„Sie tauschen die Belegschaft aus", entfuhr es Tankred verblüfft. „Auch in Ostfall gibt es Wachtwechsel, aber in dieser Größenordnung ... Das ist schon ein wenig seltsam!"
Vielleicht war dies ein übliches Vorgehen in Rabenstein, doch in Kombination mit den vorangegangenen Ereignissen konnte sich Maro dem sichtbaren Unbehagen des Hauptmanns nur anschließen.
„Wir werden einen von ihnen fragen, was da im Gange ist", meinte er entschieden und erhob sich.
„Ganz recht. Und trotzdem sollten wir jetzt bereits daran denken, dass wir uns möglicherweise trennen müssen", fügte Tankred hinzu. „Wie gesagt, eine Bedrohung ist dieser Aufmarsch für Ostfall nicht, aber ihn unbeobachtet ziehen zu lassen, gefällt mir gar nicht."
Innerlich verspürte der Jäger einen Anflug von Erleichterung, offenbarte sich doch soeben eine Möglichkeit, seinen Weg gen Burg Rabenstein vielleicht allein fortsetzen zu können. Darum bemüht, dies zu verbergen, zuckte er mit den Schultern.
„Das werden wir sehen. Aber nun lasst uns auf die Jagd gehen – einen dieser Burschen sollten wir wohl erwischen können!"
So folgten sie den Soldaten ungesehen Richtung Osten und kamen ihnen schon bald recht nah, als die im böigen Wind wogenden Felder in Wald übergingen. Lang dauerte es nicht, bis sich einer der Männer Rabensteins seitwärts in die Büsche schlug, um einem nur zu menschlichen Bedürfnis nachzugehen.
Maro wartete gar, bis dies vollzogen war, bevor er sein Opfer lautlos überrumpelte. Blitzschnell verschloss eine Hand den Mund des Soldaten, der andere Arm hingegen umfing den Körper so fest, dass jegliche Gegenwehr zwecklos war.
Zu seiner Überraschung blieb diese jedoch gänzlich aus, widerstandslos ließ sich der Mann tiefer in die Deckung des Waldes hinein zerren. Dort warteten Erhardt und Tankred, um den Jäger zu unterstützen.
Rasch verpassten sie dem Gefangenen einen Knebel und legten ihn in Fesseln, um ihn dann weiter fort von seiner Truppe zu bringen. Nach wie vor zeigte der Soldat keinerlei Reaktion, doch was Maro zunächst als höchst diszipliniert als auch abgebrüht empfunden hatte, wurde ihm zunehmend unheimlicher.
Wenig später, da sie tief genug in den Wald eingedrungen waren, hielt der Jäger inne und sah jenem Mann, der so seltsam gefühllos reagierte, zum ersten Mal in die blassblauen Augen. Was er dort sah, ließ ihn innerlich zusammenzucken – eine eisige, berechnende Kälte, fernab jeder Regung.
Doch Maro wusste sich zu beherrschen, ebenso kühl erwiderte er den Blick. „Was ist in Rabenstein geschehen? Warum tauscht ihr die Einheiten aus? Sprich rasch, oder dir wird es übel ergehen!"
Zeitgleich legte Tankred dem Soldaten ein Messer an den Hals, dann befreite Erhardt ihn von dem Knebel.
Der blondschöpfige Mann lachte leise. Feine Falten durchzogen sein plumpes Gesicht, vertieften sich um die hellen Augen und die Mundwinkel herum, doch keine Freundlichkeit lag darin, vielmehr ein Anflug von Hohn.
„Maro. Ich hatte doch geahnt, dass wir uns wiedersehen", sprach er, als wären sie alte Bekannte, derweil sich der Jäger den Kopf zerbrach, woher er dieses abfällige Lächeln kannte.
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