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So schnell der Schrecken auch zugeschlagen hatte, war er schon wieder vorbei. Warnrufe vielerlei Tiere erfüllten noch immer die Luft, doch abseits davon war beklemmende Ruhe eingekehrt. Die Bäume, zuvor so heftig in Bewegung geraten, standen wieder still, hin und wieder nur segelte ein letztes Blatt zu Boden.
„Was, bei den Göttern ...", entfuhr es Levin, derweil sich Maro mit einem raschen Blick der Unversehrtheit seiner Begleiter versicherte.
„Alles in Ordnung", rief zeitgleich Erhardt, der geistesgegenwärtig das Kind in die Arme genommen und mit seinem Körper geschützt hatte. Laina, die dem Schrei Loras zum Trotz die Trage festgehalten hatte, wirkte zutiefst erleichtert und gleichzeitig so beunruhigt, wie auch Maro es war.
Was war nur geschehen?
Kurz tauschte er einen Blick mit der Jägerin, dann ließen sie ihre Last am steinigen Bachufer sanft zu Boden. Während Laina sofort ihre Tochter entgegennahm, strebte Maro mit großen Schritten der vor ihnen liegenden Hügelkuppe entgegen.
Ein Keuchen in seinem Rücken verriet, dass Erhardt ihm folgte, nur unter höchster Anstrengung fähig, mitzuhalten. Als die zwei Männer den Hang überwunden hatten, erstarrten sie zur gleichen Zeit.
Weit entfernt im Süden stieg eine schmale Säule aus rötlichem Licht in den Himmel empor, das an Intensität gewann, bis sich Maro von dem blendenden Gleißen abwenden musste. Erhardt neben ihm stieß ein Ächzen aus, auch dem Jäger lief es eiskalt über den Rücken, als ihm aufging, was dort im Süden lag.
Burg Rabenstein. Konnte es sein, dass er einen gewaltigen Fehler begangen hatte?
Hastig wagte er einen zweiten Blick, die Augen von einer Hand überschattet. Die seltsame Erscheinung fiel bereits wieder in sich zusammen, das Leuchten verblasste und zurück blieb nichts als ein wenig Rauch, den der Wind rasch verwehte.
„Was, im Namen der Götter, war denn das?", hauchte Erhardt. Dem breitschultrigen Mann, ebenso kernig wie sein Bruder, war sämtliche Farbe aus dem Gesicht gewichen.
Stumm schüttelte Maro den Kopf. Seine Gedanken rasten, suchten verzweifelt nach einer anderen Erklärung. Doch der Zusammenhang ließ sich nicht von der Hand weisen – was auch immer in Rabenstein geschehen war, musste dem Seelenstein entsprungen sein.
Doch wie? Das alte Wissen war längst verloren, bis auf seinen letzten Erfolg hatte der Jäger auf seiner Reise durch viele Fürstentümer nichts als vage Hinweise aufgetan. Einer jedoch hatte sich wiederholt.
Wer die Macht eines Seelensteins zum eigenen Vorteil nutzen wollte, ohne zu wissen, wie sie ordnungsgemäß erweckt werden musste, dem blühte nichts als Unheil.
Dies hatte ihn verleitet, einen überaus risikoreichen Zug zu wagen, ohne Absprache mit Hadmar, dem Maro sonst alles anvertraute. Doch sein Freund verstand einfach nicht, dass manches Mal ein rabiates Mittel eingesetzt werden musste.
Als sich plötzlich eine Hand auf seine Schulter legte, fuhr der Jäger zusammen. „Komm, lass uns zusehen, dass wir vorankommen", murmelte Erhardt. Ihm schien der wahre Grund Maros Erschütterung nicht aufgefallen zu sein, was kaum verwunderlich war.
Der Jäger ließ ihm gern den Vortritt, Levin und Laina zu berichten, was sie gesehen hatten. Beide waren ob der geschilderten Bilder ebenso beunruhigt wie Erhardt, wieder entging zu Maros Erleichterung allen, dass ihn die Ungewissheit umso mehr plagte denn jeden von ihnen.
Was sie alle jedoch einte, war der Wunsch, möglichst rasch ihr Ziel zu erreichen – die mehr oder minder sicheren Mauern Burg Ostfalls. Überraschend vertrauensvoll übergab Laina ihr Mädchen erneut der Obhut Erhardts, da sie ihren Platz an der Trage einnahm.
Kurz erfreute sich Maro daran, wie rasch sich die Jägerin seit Levins Opfer all ihren Vorurteilen stellte und allmählich begriff, dass keinesfalls einzig den Angehörigen ihres Volkes zu trauen war. Die Freude war allerdings nur von kurzer Dauer, da ihn schon bald die Sorgen überwältigten.
Konnte Fürst Adalbert wahrlich über die Mittel verfügen, einen Seelenstein zu beherrschen? Oder war das, was sie erlebt hatten, Ausdruck des Scheiterns Adalberts und dieser fortan von Unglück verfolgt?
Andererseits war da diese pure Gewalt der über die Lande hinweggefegten Kräfte, die Maros Zweifel nährten. Mit jedem Schritt, der sie Ostfall näherbrachte, wuchs seine Furcht vor dem Gespräch, das er mit Hadmar würde führen müssen.
Am abendlichen Feuer, das sie diesmal zu entzünden wagten, kamen sich Laina und die zwei Brüder wiederholt ein wenig näher, nicht zuletzt der herzergreifenden Offenheit Loras geschuldet. Maro hingegen gelang es nicht, sich aus den düsteren Grübeleien zu lösen.
Nur am Rande nahm er Teil an der Runde, hörte erst dann wieder zu, als sich das Gespräch in Richtung der kaum erklärlichen Ereignisse im Süden wandte.
„Du bist so still", meinte Levin plötzlich. So sehr ihn die Verletzung auch noch schwächte, war der Mann zu Maros Verdruss wach wie immer und weitaus einfühlsamer als sein polteriger Bruder.
Ertappt sah Maro auf. „Nun, ich mache mir Sorgen", entgegnete er scharf, was Levin jedoch nicht reichte.
„Mehr, als wir es tun? Das kann ich nicht glauben. Du weißt doch etwas. Hat es vielleicht mit dem Seelenstein zu tun, der in Adalberts Händen verblieben ist?"
Augenblicklich sah sich Maro der Aufmerksamkeit aller ausgesetzt. Einzig Lora stocherte zufrieden in dem kleinen Feuer, keinen Deut kümmert es sie, was die Erwachsenen besprachen.
Dem Jäger hingegen wurde gewahr, dass ihm nichts anderes blieb denn sein Wissen zu teilen. Doch vielleicht mochte ein Hauch davon vorerst reichen, bis er selbst ein wenig Ordnung in seine aufgewühlten Gedanken gebracht hatte.
„Ja, es kommt wohl nichts anderes in Frage als der Seelenstein", gab er zögerlich zu. „Aber glaubt mir, ich habe keinerlei Ahnung, was in Rabenstein geschehen ist!"
„Du hast ihn viel zu leichtfertig aus der Hand gegeben", fuhr Levin fort. „Nur im äußersten Notfall, und du würdest ihn sofort zurückholen, das hattest du Hadmar versprochen!"
„Oh, fein, ich wüsste nur zu gern, was du getan hättest, wenn du in einen verdammten Sarg gepfercht worden wärst", gab Maro zurück, nun ernsthaft erbost, so dass ihm die nachfolgende Lüge glatt über die Zunge ging. „Glaub mir, es war mir zuwider, den Seelenstein zurückzulassen, aber ohne dieses letzte Argument hätte Adalbert mir keinerlei Glauben geschenkt und Laina hätte dann doch noch ein schnelles Ende ereilt!"
Bewusst hatte Maro die Jägerin ins Spiel gebracht, da ihm nicht entgangen war, dass Levin ihrer widerborstigen Art zum Trotz Gefallen an ihr gefunden hatte.
Der Mann bedachte ihn jedoch mit einem finsteren Blick aus schmalen Augen, als ob er Maro stumm darauf hinweisen wollte, dass derartige Tricks bei ihm nicht zogen. Die Brüder kannten ihn einfach zu gut, gerade Levin war nur schwer zu täuschen.
Innerlich zutiefst aufgewühlt setzte der Jäger mit ruhiger Stimme nach. „Ich werde allem auf den Grund gehen und den Stein zurückholen, darauf habt ihr mein Wort. Jetzt aber kann ich ebenso wenig tun wie ihr, außer dafür zu sorgen, dass wir möglichst bald und sicher in Ostfall ankommen."
„Recht hast du", bekräftigte Erhardt und erhob sich. „Und genau deshalb würde ich zumindest nun gern schlafen!"
Er hatte Levins forsche Fragen zwar sichtlich interessiert verfolgt, schien den Vorwurf seines jüngeren Bruders jedoch gleich abgetan zu haben. Erleichtert nahm Maro zur Kenntnis, dass somit an diesem Abend das letzte Wort gesprochen war.
Laina, die der Diskussion zwar wach, doch scheinbar frei von Misstrauen gelauscht hatte, erhob sich. „Diesmal übernehme ich gern die mittlere Wacht", bot sie an, um dann gemeinsam mit ihrer Tochter ihr Nachtlager aufzuschlagen.
Erhardt tat es ihnen gleich, nachdem er einen letzten Blick mit Maro getauscht und dieser mit knappem Nicken sein Einverständnis gegeben hatte, die erste Wacht zu übernehmen. Schon bald war ein jeder dem Schlaf verfallen, den Jäger hingegen zog es einen nahen Hügel hinauf.
Längst waren die Wälder in tiefste Dunkelheit getaucht, auch weit im Süden, wo Burg Rabenstein lag. Nicht das kleinste Licht kündete davon, was dort vorgefallen war, teilnahmslos funkelten die üblichen Sterne kühl am nächtlichen Himmel.
Wieder und wieder zerbrach sich Maro den Kopf, durchforstete seine Erinnerungen an alles, was er in mühsamer Suche zusammengetragen hatte.
Die sagenumwobenen Seelensteine, Überbleibsel des großen Drachenkrieges, der vor Jahrhunderten die gesamte Welt erschüttert hatte. Dass sie wahrhaftig die gesammelten Kräfte der uralten Wesen enthielten, war in vielerlei Schriften heiß diskutiert worden, doch wie sich diese Macht erwecken ließ, war nicht genau festgehalten worden.
Wer auch immer sie gebannt hatte, schien mit dem eigenen Leben dafür gezahlt zu haben und jenen, die überlebt hatten, war wohl keinerlei Mittel geblieben denn die mündliche Überlieferung.
Anders, als es in Maros Volk üblich war, schienen sich vielerlei Erzählungen von Mund zu Mund zu wandeln, manches wurde hinzugedichtet, anderes wiederum ging verloren. Eben diese Bruchstücke waren es, die den Jäger seit Anbeginn seiner Suche beschäftigten.
Schlussendlich war er auf eine Quelle gestoßen, die sämtliche Lücken in seinem Wissen vereinte und zudem einen vielversprechenden Ansatz geboten hatte, wie die Macht eines Seelensteins entfesselt werden konnte.
Doch dass auch Fürst Adalbert über dieses Wissen verfügte, war vollkommen ausgeschlossen. Es musste ein missglückter Versuch sein, dessen sie Zeugnis geworden waren, so suchte sich Maro zu beruhigen.
Klarheit indes würde sich erst ergeben, wenn er selbst erneut nach Rabenstein reiste. Zu gern hätte sich Maro sogleich auf den Weg gemacht, gleichzeitig fürchtete er, was sein törichter Wunsch nach Rache vielleicht entfesselt haben könnte.
Ein tiefes Seufzen entfuhr dem Jäger, da er sich schließlich abwandte und zurück ins Lager kehrte. Seine umherirrenden Gedanken kamen nicht zur Ruhe, nicht einmal dann, als Laina die Wacht übernahm und er sich ausstrecken durfte.
Rastlos wälzte sich Maro auf seinem Lager umher, bis der östliche Himmel vom anbrechenden Morgen kündete. Stumm verfolgte er, wie die erste Helligkeit in ein zartes Rot überging, stets darauf bedacht, dass Erhardt, der nun über sie alle wachte, seine Schlaflosigkeit nicht bemerkte.
Dann hielt Maro es jedoch nicht länger aus und räkelte sich ausgiebig, als sei er soeben erst erwacht. Das breite Gähnen indes musste er nicht vortäuschen, der fehlende Schlaf machte sich deutlich bemerkbar.
„Wir sollten sie wohl bald wecken", raunte Erhardt in seine Richtung. „Je eher wir Ostfall erreichen, desto besser."
Der Jäger nickte, wenn auch ihn erneut das Bedürfnis plagte, sämtliche Erklärungen Hadmar gegenüber seinen Freunden zu überlassen und stattdessen auf der Stelle gen Rabenstein zu entschwinden.
Wenig später verzehrte die kleine Runde ein kurzes Frühstück, um anschließend aufzubrechen. „Lass mal, ich mach das schon", wehrte Erhardt Lainas Angebot, Levins Transport zu übernehmen, ab.
Obwohl ihn anderes beschäftigte, entging Maro dabei nicht, dass der Tonfall des Mannes weitaus weniger unfreundlich war denn am Tag zuvor. Wie gern er selbst seinen Platz an der Trage an Laina vergeben hätte, behielt der Jäger indes für sich.
Doch auch dann hätte er seiner Unruhe kaum nachgehen können und erst recht nicht den Schlaf nachholen, dessen Mangel er unter der Belastung nun noch deutlicher spürte.
Träge verging der Tag, doch Ostfall würden sie heute nicht mehr erreichen. Allesamt waren sie schweigsam, einzig Lora durchbrach ab und an die gedrückte Stimmung. Zu erleben, wie das Mädchen nach all dem Schrecken an der Seite seiner Mutter aufblühte, war ein Segen.
Ein wenig schmerzte es Maro jedoch, da Erinnerungen an vergangene Zeiten erwachten. Kostbarer als alles Gold der Welt waren sie und gleichzeitig eine Bürde, denn sein größtes Glück war und blieb verloren.
Nichtsdestotrotz genoss er Loras Vertrauen, als sie abends am Feuer zwischen ihm und Erhardt Platz nahm und sich später gar an den Jäger kuschelte. Zögerlich legte er einen Arm um den schmalen Körper, Laina mit einem vorsichtigen Blick bedenkend.
Doch sie lächelte nur. Seitdem ihre Tochter wieder voller Fröhlichkeit war, hatten sich die zuvor stets verkniffenen Züge der Jägerin gelöst. Hätte Maro dieser Veränderung nicht beigewohnt, wäre es ihm wohl schwer gefallen, in ihr die kühle, abweisende Frau zu erkennen, deren Unfreundlichkeit gerade den Brüdern gegenüber ihn an seinem Entschluss hatten zweifeln lassen.
Rasch wandte sich Maro ab, da seine Augen zu brennen begannen, dem Kind an seiner Seite geschuldet. Die Zuneigung diesem unschuldigen Wesen gegenüber war ein zweischneidiges Schwert, wohltuende Wärme und eisiger Schmerz kämpften in seinem Herzen um die Vorherrschaft.
Doch je länger er Lora hielt, desto mehr nahm die Wärme Überhand. Sein Sohn war nicht mehr, doch in Maros Händen lag es nun, anderen Kindern eine glücklichere Zukunft zu bescheren – und nicht einzig den Kindern.
Wenn denn nicht Fürst Adalbert ihm zuvorgekommen war, die Macht des Seelensteins zu nutzen.
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