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Erst, als die Dämmerung unaufhaltsam durch das Geäst der alten Buchen sickerte, schlugen sie ihr Lager auf. Lora, die tapfer bis zum Schluss durchgehalten hatte, schlief ein, noch bevor sie ein Abendbrot zu sich nehmen konnte.
Das feine, weiße Kleidchen hatte merklich unter dem Marsch gelitten, doch aus anderen Gründen hätte die Jägerin es ihrer Tochter am liebsten vom Leib gerissen. Wieder und wieder sah sie in Gedanken ein dunkles Rot darauf erblühen, indes die Lebendigkeit der grünen Augen, inmitten des kleinen Gesichts so groß, erlosch.
Immerhin war das Kind gut behandelt worden, wie Laina durch einige vorsichtige Fragen herausgefunden hatte. Am meisten bestärkte sie die Tatsache, dass Lora tatsächlich um diejenigen geweint hatte, die zurückgeblieben waren.
Denn nebst einigen Spielkameraden war da eine Frau gewesen, die sich rührend um das mutterlose Kind gekümmert haben musste. Es traf Laina unerwartet hart, dass sie Gilda wohl niemals ihren Dank würde aussprechen können, dass sich Lora unter ihrer Obhut so wohl gefühlt hatte.
Verstohlen wischte sie einige Tränen von ihren Wangen, um sich dann den Männern zuzuwenden. Erhardt saß an der Seite seines Bruders und flößte ihm behutsam etwas Wasser ein, Maro indes trat auf die Jägerin zu.
„Würdest du dich darum kümmern, unsere Spuren zumindest ein wenig zu verwischen? Ich glaube nicht, dass man uns folgen wird, aber wir sollten jegliche Vorsicht walten lassen. Oh, und vielleicht übernimmst du die erste Wacht?"
Laina nickte lediglich, froh, den nach wie vor anklagenden Blicken Erhardts entgehen zu können. Bevor sie jedoch im Unterholz verschwinden konnte, griff Maro nach ihrem Arm.
Nur knapp widerstand die Jägerin dem Drang, seine Hand von sich zu schlagen, was ihm nicht entging, da er sofort von ihr abließ. Beinahe fesselnder als der Körperkontakt jedoch waren seine Augen, die Laina so intensiv musterten, als wolle er bis in ihre Seele hinabblicken.
„Es erleichtert mich, dass du bereit bist, deinen Hass zu überwinden. Glaube mir, der Charakter eines Menschen lässt sich nicht an seiner Abstammung festmachen. Auch ich habe lange mit diesem Irrtum gelebt, bis ich Hadmar getroffen habe. Und mit ihm die zwei Brüder."
Ein letzter, intensiver Blick, dann ließ der Jäger Laina einfach stehen, ohne auf ihre Antwort zu warten. Die sie ihm nicht hätte geben können, da erneute Tränen unaufhaltsam in ihr aufstiegen. Verbissen und auch verwirrt wischte Laina sie beiseite, derweil sie vorsichtig dem schmalen Pfad folgte.
Schon als sie den ersten Bach erreichte, hätte sie kehrtmachen können, doch da war etwas in ihr, das sie antrieb, weiteren Abstand zu gewinnen. Zwei weitere Gewässer passierte die Jägerin, ehe sie sich endlich umwandte.
Wo auch immer sich eine Fährte der hier gewandelten Füße zeigte, bereinigte sie diese sorgsam. Mal war es das aufgewirbelte Laub, dann wieder ein geknickter Ast, gefolgt von allzu deutlichen Abdrücken, wenn der Boden feuchter wurde.
Längst war die Nacht hereingebrochen und als Laina nach langer, viel zu gründlicher Arbeit das Lager erreichte, hatten sich Erhardt und Maro bereits zur Ruhe begeben. Kurz sah die Jägerin nach Lora, die ebenfalls friedlich schlief, dann schlich sie verstohlen auf Levin zu.
Behutsam ging sie neben ihm in die Knie, voller Sorge, sie könne seinen Bruder wecken, der nicht weit von ihm lag. Einzelne Strähnen seiner dunkelblonden Haar klebten auf Levins schweißnasser Stirn, ebenso strahlte er fiebrige Hitze aus.
Gewiss war er bestens mit Mohnsaft versorgt worden, doch selbst die darin enthaltene Blutkarde bewirkte zwar schiere Wunder, konnte jedoch die natürliche Heilung des Körpers nur unterstützen.
Ganz von allein fuhren Lainas Finger über Levins Gesicht und strichen die Haare beiseite. Unwillkürlich erfreute sie sich erneut an seinem Geruch nach gerösteten Bucheckern, doch als er ihr plötzlich verwirrt entgegenblinzelte, zuckte sie zurück und auch er schrak zusammen.
„Entschuldige, ich wollte dich nicht wecken", flüsterte sie, froh darüber, dass der Mann bis auf ihre leuchtenden Augen wohl kaum etwas erkennen konnte, schon gar nicht die leise Hitze, die Laina in die Wangen gestiegen war. „Wie geht es dir?"
„Du hast eine reizende Art, mich zu überraschen, Jägerin", schnaufte Levin, sichtlich darum bemüht, seinen keuchenden Atem zurückzuhalten. „Abgesehen davon – nun, es geht schon."
„Es tut mir so leid", wisperte Laina. Ihr Magen brannte vor Schuld, doch weitere Worte, die so bitter nötig waren, blieben ihr im Hals stecken.
„Das muss dich nicht bekümmern", gab Levin leise zurück. „Ich komme schon wieder auf die Beine."
„Ich meine nicht nur das", zwang die Jägerin sich dazu, nun doch weiterzusprechen.
„Was meinst du dann?", horchte der Mann auf. In seinen scharfen Zügen glaubte sie, eine Ahnung zu erkennen, doch weiterhin blickte er Laina fragend an.
„Alles", flüsterte sie schließlich und streifte kurz seine Hand mit der ihren. „Einfach alles."
Da huschte tatsächlich ein Lächeln über Levins Lippen. Verblüfft nahm Laina die kleinen Grübchen in seinen Wangen zur Kenntnis, beinahe versteckt von stoppeligem Bart. So grimmig er zuvor stets gewirkt hatte, konnte sie nicht umhin, Gefallen an dem unerwartet freundlichen Anblick zu finden.
„Schlaf du nun", wisperte sie dann, um sich hastig zu erheben.
„Das werde ich wohl, wenn du mich nur in Ruhe lässt", erwiderte Levin mit einem Seufzen, doch noch lag da ein warmes Funkeln in seinem Blick – er hatte verstanden, was Laina ihm hatte sagen wollen.
Als sie sich abwandte und leisen Schrittes auf ihre Tochter zustrebte, war ihr für einen Augenblick, als wären dort, wo Maro lag, kurz grüne Augen aufgeblitzt, doch als sie noch einmal hinsah, schien der Jäger fest zu schlafen.
Leise seufzend nahm Laina an Loras Seite Platz. Ihr war so viel leichter ums Herz als zuvor, zudem sich nun das Mädchen auf die andere Seite drehte und sich dicht an ihre Mutter schmiegte. Glücklich legte die Jägerin ihren Arm um den schmalen Körper, die Wärme und Lebendigkeit genießend, indes sie aufmerksam in die Nacht hinaus lauschte.
Nichts rührte sich in den Stunden ihrer Wacht, bis sie schließlich Maro weckte, die mittlere Schicht zu übernehmen. Sein leises Gähnen wandelte sich rasch in ein verhaltenes Lächeln, das in Laina die Frage erweckte, ob er wohl doch erlauscht hatte, was sie Levin anvertraut hatte.
Kaum da sie sich jedoch an Loras Seite ausstreckte, war jeglicher Gedanke dahin. Nichts als Frieden verspürte die Jägerin, sanft entschlummerte sie – nach all der Zeit des Bangens endlich wieder mit ihrer Tochter vereint.
Eben diese war es, die Laina am Morgen mit einem feuchten Kuss mitten auf ihre Nase aufschreckte. Verwirrt fuhr sie auf und hätte Lora beinahe umgeworfen, bevor sie begriff, welch Glück ihr seit dem gestrigen Tag beschieden war.
Fest zog sie das Mädchen an sich und erwiderte die liebevolle Geste. Loras fröhliches Strahlen vertrieb sogleich jeden Rest von Müdigkeit, schien sogar Erhardt aufzuheitern, dessen Miene seit seines Bruders Verletzung stets verkniffen gewesen war.
Dies erinnerte Laina auf der Stelle an Levin. Verstohlen linste sie zu ihm herüber und bereute es sofort, denn auch er war bereits wach und erwiderte ihren Blick, an seinem Bruder vorbei, der ihm Wasser und Proviant reichte.
Er sollte sich bloß nicht einbilden ... Mit einem Mal hielt die Jägerin in ihrem Gedanken inne und schüttelte sich beschämt. Lora sah sie verblüfft an, woraufhin Laina ihre Tochter mit einem verlegenen Lächeln bedachte.
„Kalt ist es, nicht wahr? Komm, lass uns zusehen, dass wir etwas zu Essen für dich finden!" Damit zog sie ihren Rucksack heran, dessen kärglicher Inhalt von den Verbündeten der Brüder längst um einige nahrhafte Speisen bereichert worden war. „Magst du einen Apfel, oder lieber ein Würstchen?"
„Beides!", entfuhr es Lora begeistert, gleich darauf hielt sie sowohl Obst als auch Fleisch in den Händen, einmal hier, dann wieder dort abbeißend. Laina tat es ihr gleich und steckte dem Kind noch einige Haselnüsse zu, von denen es zu ihrem Bedauern nicht mehr als eine Handvoll gab.
Auch die drei Männer stärkten sich ausgiebig, doch sobald der letzte Bissen mit einem guten Schluck Wasser heruntergespült war, begannen sie eilig, das Lager abzubrechen. Auch Laina verstaute ihr Gepäck, derweil sie Lora beobachtete, die sich scheu zu Levin ins Laub gekauert hatte.
Er lächelte sie freundlich an, was sie sogleich ermunterte, ein Stück näher zu rücken. „Tut es sehr weh?", erkundigte sich das Mädchen, die Stirn von sorgenvollen Falten gekraust.
„Nein, nur keine Sorge", erwiderte der Mann ruhig. „Maro hat mir von seinem Mohnsaft gegeben, den kennst du wohl?"
„Oh ja, den kenne ich", nickte Lora. „Dann wirst du wohl bald wieder gesund?"
„Ganz sicher. Und von nun an wird alles gut – bald sind wir an einem Ort, wo du und deine Mutter in Frieden leben können."
Ein warmes Gefühl der Dankbarkeit erfüllte Lainas Körper, tief beugte sie sich über den Rucksack, um hastig über ihre feuchten Augen zu fahren. Nach langer Zeit, die von Verzweiflung und Leere geprägt gewesen war, wusste sie kaum mit all dem Guten umzugehen, das ihr mit einem Mal widerfuhr.
Inzwischen waren Erhardt und Maro zu Levin und Lora getreten, ihr Gepäck geschultert und bereit zum Aufbruch. Wenig später marschierten sie erneut gen Südosten, knapp unterhalb der Grenze Steinfuhrts und auf die Ländereien Ostfalls zu.
Gute drei Tagesmärsche standen ihnen noch bevor, bis sie jene Burg erreichen würden, die Laina zuvor nichts als ein lästiger Auftrag gewesen war und nun vielleicht eine sichere Zukunft für sie und ihre Tochter bedeutete.
Loras Hand in der ihren folgte sie den Männern, derweil sie sich ausmalte, wie ein glückliches Leben wohl aussehen mochte. Doch ob es ihnen inmitten all dieser so anderen Menschen wirklich gut ergehen würde?
Oft genug hatte die Jägerin erleben müssen, dass man ihrem Volk voller Misstrauen begegnete, Misstrauen und Neid, denn die ihnen verliehenen Gaben erweckten nur zu gern die Missgunst derer, die ohnehin unzufrieden mit ihrem Dasein waren.
Bevor sie sich jedoch in trüben Erinnerungen verlieren konnten, war Lora passend zur Stelle. „Sieh nur", stieß sie hervor und zog an Lainas Hand. „Dort drüben, die Blumen!"
Gleich unterhalb des Pfades zog sich eine offene Sumpflandschaft, zwischen Binsen und kleinen Tümpeln strahlten unzählige Sumpfdotterblumen mit der Sonne um die Wette. Kurz hielt die Jägerin inne, ihre Tochter fest an sich gedrückt, indes sie ihren Blick schweifen ließ.
Lange hatten sie die Wunder der Natur wenig gekümmert. Da Lora nun wieder an ihrer Seite war, spürte die Jägerin, wie sich ihr Herz weitete und der Blick für die kleinen Freuden des Lebens endlich Sorge und Kummer verbannte.
Lainas Kiefer schmerzte bereits unter dem ungewohnten Lächeln, das sich ihrer fortwährend bemächtigte, seltsame Leichtigkeit machte sich breit in ihrer Brust. Dazu trug bei, dass Levin keinesfalls mehr dem fiebrigen Schlaf erlegen war.
Innerhalb der kurzen Pausen bestand er einmal gar darauf, sich aus eigener Kraft zu erheben, um sich im Dickicht zu erleichtern. Der heilkräftige Mohnsaft schien seine Wirkung voll zu entfalten, zumal der breitschultrige Mann offensichtlich von zäher Natur war.
Ihn zu tragen allerdings wurde gerade für Erhardt mit der Zeit deutlich mühsam. Als sie wieder einmal rasteten, trat Laina beherzt auf ihn zu.
„Wir können gern einmal tauschen", bot sie ihm an.
„Ich weiß nicht, ob ich dich noch in der Nähe meines Bruders sehen will", gab er kühl zurück.
„Lass es gut sein", ging Levin müde dazwischen. „Sie hat den Pfeil nicht abgeschossen."
Stumm sah Erhardt die Jägerin an, die dem scharfen Blick standhielt. „Ihr hattet es nicht leicht mit mir", gab sie schließlich zu. „Ich will es wieder gutmachen."
Ihr Gegenüber hob die Brauen. Mit dieser Antwort hatte Erhardt offenbar nicht gerechnet und sie nahm ihm jeden Wind aus den Segeln. „Also schön", stimmte er dann zu. „Aber sei bloß achtsam mit ihm!"
Maro, der sich im Hintergrund gehalten hatte, zeigte erneut ein kleines, zufriedenes Lächeln, ehe er hinzukam, um die Trage gemeinsam mit Laina aufzunehmen.
Lora, die mittlerweile sämtliche Scheu verloren hatte, schloss sich vertrauensvoll Erhardt an, der seine Abneigung ihrer Mutter gegenüber glücklicherweise niemals an dem Kind ausgelassen hatte.
So ging es weiter nach Südosten voran. Die morgendliche Kühle wich rasch einem herrlichen Maientag, warm warf die steigende Sonne ihre Strahlen über das saftige Frühlingsgrün der wilden Wälder.
Als sie am späten Vormittag gerade einen Bachlauf überquerten, ging ein seltsames Rascheln durch die Blätter, gleichzeitig war es Laina, als zittere der Boden unter ihren Füßen. Aus der Ferne ertönten die rauen Schreie einiger Raben, doch bevor sie sich auch nur wundern konnte, wurde sie aus dem Nichts heraus von einem heftigen Windstoß getroffen, begleitet von einem markerschütternden Donnern.
Lora gleich hinter ihr entfuhr ein heller Schrei. Die Jägerin kämpfte um ihr Gleichgewicht, wie es auch Maro am vorderen Ende der Trage erging. Abgerissenes Laub und kleine Äste gingen auf sie herab, ein undeutlicher Fluch Levins mischte sich mit dem Nachhall des Donners.
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